Luft-Mangel bei Luft-Ueberfluß
Lunge und Magen scheinen vom Menschen auserkoren zu sein, um fortwährend recht raffinirt maltraitirt zu werden, obschon gerade diese beiden Organe es sind, welche das Meiste zum Bestehen unseres Körpers beitragen. Es ist wahr, beide können schon einen recht tüchtigen Puff aushalten, wie man z. B. bei Gastmählern an den Gut- und Vielessern, auf Bällen an den wespentailligen Damen, in Damenkaffee’s, Bierstuben u. s. f. wahrzunehmen Gelegenheit hat. Allein was zu viel ist, ist zu viel; sie unterliegen endlich doch; lächerlicher oder vielmehr bejammernswerther Weise wundert oder beklagt sich dann der Besitzer des muthwillig ruinirten Organs auch noch darüber, ja hält seine Lungenschwindsucht oder seinen Magenkrebs wohl gar für ein unverdientes Unglück, für eine ungerechte Fügung des Schicksals oder für ein unvermeidliches Verhängniß.
Es ist wahrlich ein sündhafter und nur aus der Dummheit und Geistesträgheit der Menschen hervorgegangener Aberglaube, der noch hinter dem heidnischen Fatalismus zurück steht, wenn man, wie dies sogar unter sogen. Gebildeten geschieht, das Krankwerden und frühzeitige Sterben für eine unabänderliche Vorausbestimmung, für Zufall oder Unglück, Gesundbleiben dagegen und langes Leben für ein ganz besonderes Geschenk des Schöpfers ansieht. Dieser sorgte allerdings für unser Wohl, allein nur insofern, als er uns die Fähigkeit gab, durch richtige Erziehung so vernünftig zu werden, um die von ihm gegebenen, ganz bestimmten Naturgesetze erkennen und durch Befolgung derselben unsern Körper vor Nachtheil schützen zu können. Alles in der Natur geht nach diesen Gesetzen vor sich und folgt also einer strengen Nothwendigkeit, auch das Krankwerden und Sterben. Eine unglaubliche Masse von Menschen fallen nachtheiligen Umständen und schädlichen Einflüssen zum Opfer, welche sich recht wohl hätten vermeiden und beseitigen lassen, wenn man sich mit den göttlichen Naturgesetzen vertraut gemacht und nach ihnen gerichtet hätte.
Unter den Leiden der Lunge gibt es auch ein sehr beschwerliches und quälendes, dessen Grund schon in den meisten Fällen in der Jugend durch Hustekrankheiten gelegt wird, und das sehr oft recht wohl verhütet werden könnte, wenn die Mütter bei ihren Kindern nicht so oft und leicht den Husten aufkommen ließen (s. Gartenlaube 1859. Nr. 8). Sehr quälend ist dieses Lungenleiden deshalb, weil es mit enormer Kurz- und Schwerathmigkeit, ja sogar mit erstickender Athemnoth (Asthma), wenn auch nicht fortwährend, doch in öfteren Anfällen, verbunden ist. Seinen Grund hat es in einer widernatürlichen Vergrößerung der Lunge in Folge krankhafter Erweiterung der Luftbläschen. Die Wissenschaft nennt diese Lungenerweiterung „Lungen-Emphysem“, wohl auch „Lungendampf“; der Laie taufte dieselbe schlechthin „Asthma“ und schreibt sie der Brustwassersucht zu (die aber als besondere Krankheit gar nicht existirt, obschon die Homöopathen eine Menge fürtrefflicher Mittel dagegen besitzen). Bisweilen tragen auch heftige Lungenanstrengungen, wie: vieles Singen und Instrumenteblasen, häufiges und lautes Sprechen und Schreien, anhaltendes und schnelles Laufen u. dgl. die Schuld an diesem Leiden, was gar nicht selten, des begleitenden Hustens und Auswurfs wegen, für Lungenschwindsucht gehalten wird, aber gerade der entgegengesetzte Zustand von dieser ist, und sogar vor dieser schützt.
Die auffälligsten Erscheinungen bei der Lungenbläschen-Erweiterung sind die, häufig oder seltener, meist plötzlich auftretenden, längere und kürzere Zeit andauernden „asthmatischen Anfälle“, bei welchen der Kranke von einer solchen enormen, mit heftigen krampfhaften Athembewegungen verbundenen Athemnoth heimgesucht wird, daß er zu ersticken meint. Aber er erstickt nicht! Das Erstickungsgefühl aus Lufthunger macht, daß der Kranke mit ängstlichem, verfallenem oder verzerrtem, bleichem oder bläulichem Gesichte, mit vorgebeugtem Körper und zurückgebeugtem Kopfe, mit den Händen sich anklammernd nach Luft hascht. Das Athmen ist keuchend, mit zischendem, pfeifendem oder rasselndem Geräusche; die Haut kühl; der Husten fördert nur wenig zähen, dicklichen Auswurf heraus.
Eine Folge dieser Luftbläschen-Erweiterung ist zunächst eine nicht unbedeutende Vergrößerung der Lungen, durch welche der ganze Brustkorb faßartig ausgedehnt wird, nicht gehörig herabsinken kann, und den Hals verkürzter erscheinen läßt. Die den Lungen benachbarten Organe werden aus ihrer Lage verdrängt. So Wird das Herz nach rechts geschoben, und deshalb ist sein Klopfen nicht mehr in der linken Brusthälfte, sondern in der Magengrube wahrnehmbar. Mit dem Zwerchfelle werden sodann auch noch Leber, Magen und Milz im Bauche heruntergedrückt, und es entsteht dadurch ein unbehagliches Gefühl von Völle in der Oberbauchgegend.
Der hauptsächlichste Nachtheil aus der Luftbläschen-Erweiterung geht nun aber daraus hervor, daß, wegen des Verlustes an Elasticität und Zusammenziehungskraft, die Luftwege die eingeathmete Luft nicht kräftig und reichlich genug wieder austreiben (ausathmen) können. Deshalb sind die Lungen mit einer widernatürlichen Menge von Luft erfüllt und zwar von solcher alten Luft, die eigentlich schon längst wieder ausgeathmet sein sollte; beim Einathmen kann nun, dieser Luftstagnation in der Lunge wegen, natürlich weit weniger neue Luft eingezogen werden, als sonst, und so geht der Wechsel der Luft in den Lungen nicht mehr gehörig flott vor sich. Daher kommt es denn, daß die zur Erhaltung des Lebens und der Gesundheit ganz unentbehrliche Einfuhr von Sauerstoff in das Blut und die Ausfuhr von Kohlensäure aus demselben in geringerem Grade vor sich geht, und dadurch das Blut in seiner Beschaffenheit nach und nach immer mehr verschlechtert wird.
Auch der Blutlauf, welcher sich vom rechten Herzen durch die Lungen zum linken Herzen erstreckt (d. i. der kleine Kreislauf), ist, in Folge der starken Spannung der Luftbläschenwände und des Druckes auf die diese Wände umspinnenden Haarröhrchen, erschwert. Es ist deshalb auch das eigentliche Lungengewebe bei dieser Krankheit blutärmer, und es häuft sich das Blut vor den Lungen in der Lungenpulsader und im rechten Herzen mehr, als es sollte, an. Auf diese Weise bildet sich nach und nach eine krankhafte Erweiterung der rechten Herzhälfte, und das ganze Herz erscheint größer und klopft stärker. Wegen der Blutstauung im rechten Herzen kann nun das aus allen Theilen des Körpers zum Herzen zurückfließende (dunkle) Blut nicht gehörig in das Herz einströmen, es häuft sich deshalb in den verschiedenen Organen, ganz besonders aber in denen des Unterleibes (in der Leber und Milz, im Magen und Darmcanale), an und stört die Function dieser Theile. Daher rührt es denn, daß Emphysematiker oft weit mehr über Unterleibsbeschwerden, über Störungen in der Verdauung und Hämorrhoidalleiden klagen, als über ihre Lungenaffection, und daß sie den damit einhergehenden Husten einen „Magen- oder Unterleibshusten“ taufen.
So beschwerlich dieses Lungenleiden ist, so hat es doch auch seine guten Seiten. Weil nämlich dabei die Lunge um ihre Bläschen herum weniger Blut enthält, auch in dem die Bläschen umspinnenden Haarröhrchennetze nicht leicht eine krankhafte Blutüberfüllung zu Stande kommen kann, so können auch nicht gut derartige Krankheitszustände vorkommen, die ihre Entstehung einer Blutüberfüllung verdanken. Hierhin gehört aber die Lungenschwindsucht, die Lungenentzündung und Lungenblutung. – Heilbar ist die Lungenerweiterung nun zwar nicht, am allerwenigsten durch Arzneimittel, doch läßt sie sich bei richtigem Verhalten oft lange und ziemlich gut ertragen.
[328] Die Behandlung zerfällt in die des asthmatischen Anfalles und in die des Grundleidens. – Um den asthmatischen Anfall abzukürzen, versuche man, nach dem Lösen aller beengenden Kleider, folgende Hülfsmittel: Einathmen frischer kalter Luft, Anspritzen mit kaltem Wasser gegen Brust und Rücken, kalte Waschungen und Frictionen dieser Theile neben warmen Hand- und Fußbädern, Kitzeln des Rachens (um Brechreiz oder Brechen zu erregen), Einathmen von Aether, Chloroform oder Salpeterdünsten. Die letzteren entwickelt man durch Verglimmen von getrocknetem Salpeterpapier, welches durch Eintauchen weißen Druckpapiers in concentrirte Salpeterlösung bereitet wird.
Außer den asthmatischen Anfällen strebe der Kranke, einen Theil der stagnirenden Luft von Zeit zu Zeit aus seinen erweiterten und weniger zusammenziehbaren Lungen herauszubefördern, denn die natürliche Weite der Luftbläschen bleibend wieder herzustellen, ist zur Zeit noch nicht gelungen. Deshalb gewöhne sich Patient, öfters des Tags recht kräftig auszuathmen, ja drücke sich selbst dabei den Brustkasten mit den Händen tüchtig zusammen oder lasse dies von einem Andern thun.
Er versuche ferner eine vorübergehende Zusammenziehung der Luftwege durch mäßige Armbewegungen, kalte Waschungen des Rückens und der Brust, Einathmungen frischer Luft zu erzielen. – Eine Hauptregel für den Emphysematiker ist sodann: Alles zu vermeiden, was Lungenkatarrh (der das Uebel verschlimmert und asthmatische Anfälle hervorruft) zu erzeugen im Stande ist. Er meide also: eine rauhe oder verdorbene Luft, Wind, Staub, Rauch, Erkältungen. Er unterlasse Alles, was stärkeres Herzklopfen hervorruft, wie geistige, gemüthliche und Körperanstrengungen, Klettern, Berg- und Treppensteigen. Gegen die Unterleibsbeschwerden dient der reichliche Genuß warmen Wassers, Regelung des Stuhlganges, Vermeiden vielen Sitzens, leicht verdauliche, nicht blähende Diät.
Daß die homöopathische Heilkünstler-Gesellschaft, wie gegen jede andere Krankheit, so auch gegen die Lungenerweiterung mehrere ausgezeichnete Mittel vorzureiten hat, besagen die neuesten Ankündigungen. Das beste Pferd, auf welchem die Junghahnemänner gegen das organische Asthma ansprengen, ist der Arsen; doch sollen auch die Coca und die Lobelia ihrer Schule keine Schande machen.