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Müthchen

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Autor: Anna Ritter
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Titel: Müthchen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 8, 24, S. 242–244, 754–756
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[242]

Müthchen.

Bilder aus dem Kinderleben. Von Anna Ritter.
I.

Die bösen alten Nerven hatten mich wieder einmal um den größten Teil meiner Nachtruhe gebracht, und es dämmerte schon, als jener traumselige Zustand über mich kam, der dem Einschlafen voranzugehen pflegt.

Behaglich drückte ich mich in den Kissen zurecht mit dem Entschluß, den versäumten Schlummer in den Morgenstunden nachzuholen.

An Müthchen hatte ich dabei freilich nicht gedacht.

Kaum eine Stunde mochte ich geschlafen haben, da fuhr ich mit dem unklaren Empfinden, daß jemand meinen Namen gerufen habe, in die Höhe.

„Mutter … Mutter!“

Kein Zweifel – Müthchen ist schon wach! Durch die blinzelnden Augenlider sehe ich deutlich seine kleine Gestalt, wie er im roten Nachtkittelchen hoch im Bette steht und mich mit gespanntem Ausdruck beobachtet.

Ich stelle mich schlafend.

„Mutter!“ ruft er, schon erheblich lauter.

Elschen, die im anderen Bette schläft, versucht, ihn zu beschwichtigen:

„Sei doch nur still, du siehst doch, daß die Mutter noch schläft!“

„Vorhin war sie aber wach,“ behauptet Müthchen, „ich hab’s deutlich gesehen, wie sie die Augen aufgemacht hat.“

„Zum Aufstehen ist’s noch viel zu früh,“ redet Elschen von neuem zu.

Müthchen hat aber an allerlei Geräuschen auf dem Hofe bemerkt, daß es sechs Uhr vorüber sein muß, er läßt sich nicht irre machen.

Seufzend ergebe ich mich darein, für heute endgültig auf den Schlaf zu verzichten.

„Leg’ dich noch ein Weilchen unter, Müthchen,“ sage ich in energischem Ton, „du erkältest dich sonst.“

„Ich habe aber Hunger,“ erklärt Müthchen weinerlich.

„Die Brötchenfrau ist noch gar nicht da!“

„Dann habe ich eben Durst.“

„Das Milchmädchen kommt auch erst um Sieben.“

Einen Augenblick giebt er Ruhe – da klinkt draußen die Hausthür.

„Die Brötchenfrau!“ schreit Müthchen jubelnd. „Mutter, kann ich’s Ida’n sagen, daß sie mir eine Wuchtel[1] bringt?“

„Meinetwegen,“ gebe ich nach, in der Hoffnung, ihn zum Schweigen zu bringen.

Mit einem Satz ist er aus dem Bett und reißt die Thür auf:

„Ida, bring’ mir ’ne Wuchtel!“

Ida ist etwas schwerhörig und kommt immer erst auf den fünften, sechsten Ruf.

In der Angst, daß Müthchen sich unterdes an der offenen Thür wirklich eine Erkältung holen könne, stehe ich selbst auf und rufe das Mädchen.

Die Brötchenfrau hat heute keine Wuchteln gehabt, Ida bringt also statt dessen zwei „Maulschellen“, bei deren Anblick Müthchen in Wut gerät.

„Ich wollte doch aber Wuchteln!“

„Wenn du jetzt noch einen Ton sagst, giebt’s ein paar Wuchteln hinten drauf,“ sage ich böse.

Da entschließt er sich, die Maulschellen zu essen.

Das arme Elschen muß aufstehen, weil die Schule um sieben Uhr beginnt. Mit verschlafenem Gesichtchen hantiert sie im Zimmer herum, indessen Müthchen befriedigt kaut.

Ich dusele langsam wieder ein.

„Mutter! … Kann Ida mich anziehen?“

Müthchen scheint mit essen fertig zu sein.

„Nein!“ sage ich streng. „Das Kinderzimmer ist noch gar nicht fertig aufgeräumt.“

„Kann ich mir dann so lange ein ‚Buch der Erfindungen‘ angucken?“

Ich erlaube es in der Hoffnung, daß Müthchens unruhiger Geist durch das Buch vielleicht wohlthätig gefesselt wird.

[243] Elschen, die fertig angezogen ist, holt ihm das Buch und verschwindet dann, um Kaffee zu trinken. Es thut mir leid, ihr nicht dabei Gesellschaft zu leisten, aber ich kann mich heute noch nicht zum Aufstehen entschließen.

Müthchen blättert eine Weile, jedes Bild mit lauten Ausrufen begleitend.

„Mutter, guck’ doch nur, was das für ein komisches Ding ist!“ Dabei hält er das Buch hoch in die Höhe, mir ermunternd zuwinkend.

„Ich kann’s von hier nicht sehen,“ sage ich schlaftrunken, ohne mich aufzurichten.

„Soll ich lieber bei dich ins Bett?“

Sein Stimmchen klingt so süß und einschmeichelnd, daß ich’s nicht übers Herz bringe, „Nein“ zu sagen.

„Willst du aber auch ganz mäuschenstill liegen?“

Müthchen beteuert’s hoch und heilig und kommt eilfertig mit seinem dicken Buche angelaufen.

Beim Hinaufklettern in mein großes Bett stützt er sich mit dem Fäustchen auf meinen Magen, der seit lange mein wunder Punkt ist.

Ich stöhne auf, da schlingt er die Aermchen um meinen Hals und küßt mich ab: „Ich konnte wirklich nichts dafür, Mutterchen.“

Und dann macht er sich’s bequem und zieht mir zwei Drittel der Bettdecke fort, so daß ich anfange zu frösteln.

Wir sehen uns nun gemeinsam das Buch an, und ich muß die schwierigsten Erklärungen abgeben zu Maschinen, die ich nie in meinem Leben gesehen habe. Dabei hat er ein bewunderungswürdiges Gedächtnis und weiß ganz genau, was ich das vorige Mal zu den Bildern gesagt – es würde mir nichts helfen, ihn mit allgemeinen Redensarten abspeisen zu wollen.

Endlich kommt Ida und erlöst mich von dem kleinen Quälgeist. Im ganzen läßt er sich heute gutwillig anziehen, ich sehe also über kleine Unarten hinweg. Daß er sich mit meiner Zahnbürste die Nägel reinigt, kann ich natürlich nicht dulden, und als er sich die nassen Hände dann noch an meinem schön gestickten Ueberhandtuch abtrocknet, gerate ich in Zorn und versetze ihm einen Klaps, dessen geringe Schmerzwirkung in keinem Verhältnis steht zu dem fürchterlichen Geheul, mit dem Müthchen die Schlafstube verläßt.

Ich glaube, Elschen segnet die Schule, die ihr für ein paar Stunden ein ruhiges Plätzchen sichert! Der Kuß, mit dem sie von mir Abschied nimmt, ist beinahe mütterlich – ich thue ihr leid. –

Nach dem Kaffee, der ohne weitere Störung verläuft, geht Müthchen zur Rekognoscierung in den Hof, und ich besorge allerlei Notwendiges im Haushalt, um mich nachher beruhigt an meinen Schreibtisch setzen zu können.

Draußen ist alles still. Ich warte förmlich auf irgend einen Schlachtruf von Müthchen – aber es regt sich nichts. Das ist kein gutes Zeichen! Wenn Müthchen sich ruhig verhält, ist er entweder krank, oder er bereitet sich auf irgend einen besonders großartigen Streich vor.

Diesmal habe ich ihm jedoch unrecht gethan, denn wie ich aus dem Fenster nach ihm ausschaue, kommt er eben mit strahlendem Gesichtchen die Straße heraufgelaufen und schwenkt schon von weitem in freudiger Aufregung die Arme.

„Mutter, darf ich mit aufs Feld? Dietrichs machen Kartoffeln aus.“

Aus alter Gewohnheit fliegt mein Blick zuerst über seinen Anzug.

„Wo ist deine Schürze?“

Müthchen, der inzwischen herangekommen ist, deutet mit schuldbewußter Miene aufs Treppengeländer.

Da hängt das schön gestärkte Schürzchen, schon Nr. 2 seit heute morgen, wie Ida empört berichtet, ganz zusammengeknüllt über dem Pfosten.

Ich halte meinem Sohne eine angemessene kleine Rede, merke aber, daß seine Gedanken nicht bei der Sache sind.

„Darf ich, Mutter?“

„Wer geht denn mit?“ frage ich mißtrauisch.

„Dietrich Großvater und Paul, und Paulen sein Vater und ich – alle!“

Müthchen ist Feuer und Flamme. Da das Wetter schön ist und Dietrich Vater und Großvater mir eine Garantie für die Solidität des Unternehmens gewähren, liegt kein Grund vor, dem Kind die Bitte abzuschlagen.

„Aber erst laß dich gründlich abbürsten!“

„Ja, das hat Dietrich Großvater auch gesagt. Und hier den Haken,“ er deutet auf seine offne Bluse, deren Unordnung ich jetzt bemerke, „solltest du mir auch noch annähen, dann sähe ich viel hübscher aus.“

Der Aerger würgt mir förmlich in der Kehle – was müssen Dietrichs nur von mir denken!

„Sage nur Dietrichs,“ antworte ich, rot vor Zorn, „der Anzug wäre heute morgen rein und ganz gewesen, aber bei solch kleinem Schmutzfinken hielte das gerade eine Stunde.“

Dann bringe ich die verschiedenen Schäden in Ordnung, stecke ihm eine Bemme ein und gebe ihm noch ein paar Ermahnungen mit auf den Weg, trotzdem ich von ihrer Ueberflüssigkeit im voraus überzeugt bin.

Glückselig trollt er ab, und ich sehe ihm nach in stiller Lust: welch süßer, kleiner Kerl ist er doch trotz alledem!

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Mittags kommt er wirklich pünktlich heim, aber in einem Aufzug, der jeder Beschreibung spottet.

Elschen, die ihn auf der Straße getroffen hat, ist ihm ausgewichen und dann mit verdoppelter Eile nach Hause gelaufen, um nicht mit ihm gesehen zu werden.

Ich sage nur schwach: „Aber Müthchen …!“ Mit Schelten mag ich ihn nicht gleich empfangen, er ist gar so befriedigt von seinem Erntefest.

„Schön war’s,“ berichtet er mit glänzenden Augen, „wir haben Kartoffelfeuer gemacht – hui, sind die Funken geflogen! Und Kartoffeln haben wir gebraten … ich sage dir, Mütterchen, die schmecken aber! Ich hab’ euch auch welche mitgebracht!“

Damit zieht er aus dem Hosentäschchen drei ganz verkohlte Kartoffeln und überreicht sie Elschen, Ida und mir.

Meine Freude über das Mitgebrachte ist nicht ganz ungetrübt, denn ich muß daran denken, wie die Höschen nun wohl von innen aussehen. Doch behalte ich meine Bedenken für mich.

Bei Tisch hat Müthchen keinen Appetit, sogar sein Leibgericht, den Kartoffelbrei, läßt er stehn.

„Hast du etwa schon gegessen?“ frage ich ahnungsvoll.

Müthchen nickt. „Auf dem Bahnhof, mit Dietrichs und den Pollacken.“

„Und getrunken hast du wohl auch?“

„Bier,“ sagt er stolz. „Paul und ich ein Seidel zusammen, aber ich hab’ das meiste gekriegt.“

Nach dem Essen soll Müthchen schlafen, eine Einrichtung, an der ich mehr meinet- als seinetwegen festhalte. Vielleicht gelingt es Ida während dieser Zeit, die Spuren des Kartoffelfeldes von Müthchens Kleidern zu entfernen.

Ich lege mich todmüde auf die Chaiselongue, was ich mir sonst nie gestatte, und Elschen nimmt eine verfrühte Weihnachtsarbeit vor, die sie seit Wochen in allen möglichen und unmöglichen Winkeln vor mir versteckt – weil ich damit beglückt werden soll – und die ich beim Aufräumen immer wieder entdecke.

Ueber dem Hause liegt eine wohlthätige Ruhe, nur Ida summt in der Küche beim Geschirrabtrocknen ein Lied, dessen Melodie ich erheblich anders im Gedächtnis habe.

Da … wer erscheint nach kaum zehn Minuten, bescheiden lächelnd, auf meiner Schwelle? ….

Müthchen!

Er hat sich ganz allein wieder angezogen.

Der Frage, die er in meinen Augen liest, kommt er mit den Worten zuvor: „Wenn ich doch nicht schlafen kann, kann ich eben nicht!“ Eine Logik, die nicht zu widerlegen ist.

Sein Anzug ist natürlich noch nicht gereinigt und sieht so polizeiwidrig aus, daß aushilfsweise die Sonntagsgarnitur geholt werden muß. Ich schärfe Müthchen ein, aus diesem Grunde heute nicht im Keller und in den Ställen herumzuspielen, was er auch verspricht.

Dann begiebt er sich vor die Hausthüre, um seinen Freund Paul zu rufen.

Ich überzeuge mich durch Augenschein, daß die Jungen draußen artig spielen. Daß Paul eine sogenannte „Striezebüchse“ [244] hat und an der Gosse fortwährend Wasser ein- und auszieht, um es an die nächstgelegenen Häuser zu spritzen, gefällt mir zwar nicht, aber ich kann nichts dagegen sagen; denn Herr Dietrich hat Paul das Spielzeug vom Wiesenmarkt mitgebracht. Müthchen steht ja auch ganz unbeteiligt daneben.

Allzulange scheint seine Interesselosigkeit freilich nicht gedauert zu haben, denn ich höre auf einmal im Hofe seinen durchdringenden Zeterton.

Und da kommt er auch schon an, die schöne, blaue Jacke von oben bis unten bespritzt! Der eine Fuß hat auch im Wasser gestanden, wie ich durch Befühlen des feuchten Stiefels feststelle.

„Warte, jetzt sollst du aber mal ordentlich was bekommen,“ verkündige ich ihm, sehr böse.

„Kann ich dafür, wenn Onkel Eduard Paulen zuruft, er solle mich vollspritzen?“

„Onkel Eduard?“

„Ja, er hat’s Paulen durch das Fenster zugerufen!“

Innerlich bin ich erbost auf Onkel Eduard, verteidige ihn aber Müthchen gegenüber damit, daß er nur einen Scherz habe machen wollen.

„Mutter,“ sagt Müthchen, nachdem er Schuhe und Strümpfe gewechselt hat, „willst du mir wohl einen ,Zehner‘ schenken?“

„Wofür?“

„Ich will mir von Probstens auch eine Striezebüchse holen, Paul sagt, da gäb’s welche für zehn Pfennige.“

Obgleich ich Müthchens Rachegedanken ahne, gebe ich ihm das Geld, denn ich bin immer dafür, daß die Jungen ihre Streitigkeiten untereinander selbst schlichten.

Seinen „Zehner“ in der Hand, Paul, der mit zur Schau getragener Artigkeit an der Gosse steht, einen triumphierenden Blick zuwerfend, zieht Müthchen mit einem Schritt ab, den er seinem Ideal, dem Pferdeknecht Ziegenhorn, bewunderungswürdig abgelauscht hat.

Er kommt aber nach einer Weile ohne Striezebüchse, dagegen mit vollen Backen kauend wieder.

„Na?“ rufe ich bloß.

„Probstens hatten ja gar keine, Paul hat gelogen,“ schreit Müthchen entrüstet.

„Und wo ist der Zehner?“

Müthchen lächelt verschämt. Er hat sich, da es keine Striezebüchsen gab, Bonbons für das Geld gekauft – ich hatte leider nicht daran gedacht, auch für diesen Fall Instruktionen zu geben.

Nachmittags erwarte ich Besuch und gebe Ida, wie jedesmal, vorher strenge Verhaltungsmaßregeln, denn ich kenne Müthchens Art, einfach in den Salon hereinzuplatzen, sobald er Besuch und Kuchen wittert.

„Du läßt ihn nicht einen Augenblick allein, Ida! Und, Elschen, du achtest auch ein bißchen auf ihn! Ich hebe euch auch schönen Kuchen auf.“

Nachdem Müthchen sich einen Mohrenkopf und eine Brezel als Lohn ausbedungen hat, verspricht er, sich für den Rest des Tages musterhaft zu benehmen.

Der Besuch kommt, und wir sitzen plaudernd im Salon. Ich selber freilich komme nie zum unbefangenen Genuß lieber Gäste, da ich immer mit einem Ohre auf den Gang hinaus horche.

Ein paarmal glaube ich drüben erregte Stimmen zu hören, mag mich aber wohl geirrt haben, denn es erfolgt weiter nichts.

Wir reden über Kindererziehung. Meine Freundin hat viel pädagogische Bücher gelesen und besitzt eine beneidenswerte Kenntnis von dem, was man Kindern erlauben darf und was nicht, worüber ich sehr oft im Zweifel bin.

Allerdings ist sie kinderlos und betreibt das Erziehen nur theoretisch, was ich mir bedeutend leichter vorstelle.

Plötzlich fahre ich entsetzt in die Höhe. Draußen spielt sich so etwas wie ein Indianertanz ab. Ich überschaue im Geiste vollkommen klar die Situation. Ida und Elschen suchen Müthchen, der ihnen entwischt ist, mit List und Güte ins Kinderzimmer zurückzuziehen, Müthchen will aber nicht! Die Thatsache, daß die beiden, des Besuches wegen, keine Gewaltmittel anwenden dürfen, macht er sich zu nutze und schlägt mit Händen und Füßen um sich.

Zuerst habe ich versucht, krampfhaft weiter zu reden, ohne den Lärm draußen zu beachten, nun, da es zu toll wird, will ich hinaus.

Da fliegt auch schon die Thüre auf und Müthchen kommt mit ein paar Hechtsätzen herein.

Ohne die Tante, die ihm lächelnd die Hand entgegenstreckt, eines Blickes zu würdigen, lehnt er sich vertrauensvoll an mich an und schielt nach dem Kuchenkörbchen, auf dem noch einige Prachtstücke liegen.

Ich bin ganz außer mir.

„Müthchen, wie sagt man denn?“

Er entschließt sich widerstrebend, der Tante „Guten Tag“ zu sagen, wirft auch, auf wiederholten Befehl, die Thüre krachend zu, immer in der Hoffnung, noch ein Stück Kuchen zu erwischen.

Als er zurückkommt, entdecke ich, daß irgend etwas mit seinem Haar nicht in Ordnung ist – er sieht ganz verändert aus.

„Was hast du denn gemacht?“ Ich fasse seinen Kopf zwischen beide Hände, „du hast dir ja das Haar abgeschnitten!“

Ein brenzliger Geruch zeigt mir an, daß er auch an der Brennschere gewesen ist. Auf der einen Seite der Stirn kräuselt sich der mißlungene Versuch eines Löckchens, auf der anderen haben ungeschickte Fingerchen ein tiefes Dreieck in den blonden Haarwuchs geschnitten.

Ein paar Wochen lang mindestens ist der Junge entstellt.

„Entschuldigen Sie einen Augenblick,“ sage ich, zur Freundin gewandt, dann packe ich meinen Schlingel, der, Unheil ahnend, zu brüllen beginnt, und zerre ihn mit festem Griff hinter mir her in die Schlafstube. Meine Geduld ist zu Ende.

Ich wichse ihn durch, so gut ich kann, die meisten Hiebe gehen aber in die Luft, weil er mir immer wie ein Aal zwischen den Händen durchschlüpft.

Schließlich kann ich nicht mehr und stelle ihn, um der Sache größeren Nachdruck zu verleihen, in die Ecke.

„Hier bleibst du, bis ich dich rufe!“

Aufs äußerste erschöpft, kehre ich in den Salon zurück und gestehe kleinmütig ein, daß ich zur Kindererziehung nicht das geringste Talent habe.

Die Freundin ist zu ehrlich, mir ganz zu widersprechen, nur meint sie, es würde sich alles schon noch machen, und in Müthchen stecke bei aller Unart ein tüchtiger Kern.

Dann geht sie, und ich bin fast froh darüber. – Die Stimmung ist mir gründlich verdorben. –

Müthchen ist wirklich im Schlafzimmer geblieben, nur, daß er nicht mehr in der ihm angewiesenen Ecke steht, sondern sich mit seinen schmutzigen Stiefelchen auf meine reine, weiße Bettdecke gelegt hat. Ich kann sie getrost gleich wieder ins Waschfaß stecken.

Da die Freundin mir auseinandergesetzt hat, daß zu vieles Strafen eine schlechte Wirkung auf ein Kindergemüt habe, übergehe ich diesen neuesten Fall mit Stillschweigen und nehme Müthchen wieder in die bürgerliche Gesellschaft auf.

Das Abendbrot verläuft infolge der vielen Aufregungen ziemlich schweigsam. Müthchens Gelüst, noch die laterna magica in Gang zu bringen, wird mit ruhigem Ernst abgelehnt; er kommt gleich nach dem Abendbrot ins Bett.

Der kleine Schelm ist selbst müde, und wie er nun rein gewaschen in seinem weißen Bettchen liegt, ist alle Wildheit von ihm abgestreift, er sieht mit dem goldblonden Haar und den großen, blauen Augen aus wie ein Engel der Unschuld.

Ich bete mit ihm, und da schlingt er die Aermchen um mich und fängt plötzlich bitterlich zu schluchzen an.

„Thut’s dir denn leid, Müthchen, daß du heute so unartig warst und die liebe Mutter so oft betrübt hast?“

Er nickt ein paarmal eifrig und drückt sich in leidenschaftlicher Zärtlichkeit an mich:

„Ich hab’ dich doch so schrecklich gern.“

Ich kniee an seinem Bettchen, bis er eingeschlafen ist, und durch alles Zagen und Zweifeln, das in mir aufsteigen will, wenn ich an die Zukunft dieses wilden, kleinen Lebens denke, leuchtet wie ein Sonnenstrahl dies „Ich hab’ dich gern!“

Was an notwendiger Strenge an diesem stürmisch schlagenden Herzchen vielleicht versäumt wird, muß die Liebe ersetzen, die große, heilige Liebe, die wie ein Strom von mir zu ihm hinübergeht.


[754]
II.

Es ist eine schöne Sache um die Ideale, besonders in der Jugend. Daß Müthchen sich aber gerade den Pferdeknecht Ziegenhorn zum Vorbild nimmt, ist bös und macht mir viel zu schaffen.

Ziegenhorn richtig zu beschreiben, würde ich mich vergeblich bemühen. Die Natur hat ihn in einem Anfall von grotesker Laune hervorgebracht, und es ist schwer, wenn nicht unmöglich, all ihren Seitensprüngen und Bizarrerien zu folgen. Unter anderem hat sie ihn mit einem weit vorstehenden Unterkiefer begabt, was Müthchen als besondere Schönheit zu empfinden scheint, denn er geht seit Tagen mit vorgeschobenem Mündchen herum und bemüht sich mit rührender Geduld, es Ziegenhorn womöglich noch zuvor zu thun.

„Aber Müthchen, was machst du denn für ein Gesicht?“

„So eins hat Ziegenhorn auch,“ antwortet er stolz.

Vom Jäckchen knöpft Müthchen trotz aller Ermahnungen nur noch den obersten Knopf zu, um die Arme nach Ziegenhorns Manier unter die fliegenden Rockschlippen stecken zu können, oder er steht mit gespreizten Beinen, die Händchen tief in den Hosentaschen vergraben. Beim Waschen verbittet er sich jegliche Hilfe, seitdem er Ziegenhorns Toilette im Stalle einmal beigewohnt hat. Er taucht die Aermchen bis an die Ellbogen ins Wasser, und dann fährt er mit den nassen Händchen übers Gesicht, prustet und spritzt, daß die Stube schwimmt und der Spiegel täglich geputzt werden muß.

Daß er sich Ziegenhorns Sprache mit allen Nuancen und Feinheiten angeeignet hat, ist selbstverständlich; er setzt eine Ehre darein, den Frankenhäuser Jargon möglichst echt zu sprechen. Kraftausdrücke, wie sie Ziegenhorn in erstaunlicher Fülle zu Gebote stehen, imponieren ihm am meisten, und er bringt sie, etwas verändert und an der unrichtigen Stelle, gern an.

Ich suche seine Sprache zu korrigieren, soviel ich kann, habe aber bis jetzt keinen Erfolg damit.

„Mutter, weißt du, was ich jedenkt hab’?“

„Es heißt ,gedacht‘, Müthchen!“

„Ziegenhorn sagt aber: jedenkt! – –“

„Mutter, Ziegenhorn hat jesoht – –“

„Es heißt: gesagt! Du sollst nicht so häßlich sprechen,“ sage ich ärgerlich.

„Aber Mutter, Ziegenhorn –“

„Was Ziegenhorn sagt, ist mir ganz einerlei, der weiß es eben nicht besser!“

Müthchen läßt sich nicht irremachen. „Mütterchen, Ziegenhorn muß es doch aber wissen – –“

Es hilft nichts, Ziegenhorn bleibt eben Autorität.

„Ziegenhorn und dich hab’ ich am liebsten auf der Welt,“ sagt Müthchen, wenn er besonders zärtlich sein will, und ich muß mich darein finden, an zweiter Stelle zu stehen.

Die Zuneigung Müthchens erstreckt sich übrigens auf die ganze Familie. Ziegenhorns haben kurz hintereinander drei Kinderchen bekommen, und Müthchen bringt jedem einzelnen ein warmes Interesse entgegen. Er stattet Frau Ziegenhorn Wochenbesuche ab, vermittelt Bestellungen zwischen „ihm“ und „ihr“, kauft für Ziegenhorn bei Nachbar Hinsching Tabak und wird ganz gerührt, wenn er auf die Niedlichkeit der Ziegenhörnchen II und III zu sprechen kommt. Sein besonderer Liebling ist aber Lieschen, die Aelteste, deren Erziehung in Ziegenhorns Sinne er schon mit in die Hand nimmt.

Es ist gut, daß Müthchen in acht Tagen wieder zur Schule geht, nachdem er des Scharlachs wegen ein ganzes Vierteljahr ausgesetzt hat. Er wird dann Ziegenhorns Einfluß etwas entzogen, und nach Tisch wird ein paar Stunden lang eine geradezu köstliche Ruhe herrschen. Mit dem Mittagsschlaf hat es ohnehin keine rechte Art mehr, Müthchen ist nun schon zu groß. Einstweilen genießt er noch seine Freiheit. Ich kann mich heute nicht viel um ihn bekümmern, da ich mir für den Abend eine kleine Gesellschaft eingeladen habe und die Vorarbeiten, wie Tischdecken und dergleichen, auf meinen Schultern ruhen.

Leider kann sich Müthchen nicht fünf Minuten lang allein beschäftigen. Er muß immer ein paar Kinder zum Zugucken haben, wenn er spielt. Ich sage „zugucken“, denn anrühren dürfen sie bei Leibe nichts, oder gar selbständig ein Spiel beginnen! Müthchen sucht sich nur solche aus, die ihm unbedingt gehorchen und mit der nötigen Bewunderung zu ihm aufsehen.

Heute hat er wieder eine neue Errungenschaft:

„Mutter, kann ich mir Schindler ein bißchen holen?“

„Wer ist Schindler?“ frage ich mißtrauisch.

„Aber Mutter – Schindler! Den hier unten in dem grünen Haus – –“ Müthchen ist außer sich darüber, daß ich in unserer Straße so schlecht orientiert bin. Er beschreibt mir Schindlers mit aufgeregten Gesten, ich bleibe aber dabei, daß ich sie nicht kenne. Nach einer Weile ruft er wieder. Ich gehe hinaus und sehe einen fremden kleinen Jungen mit feinem Gesichtchen neben Müthchen stehen.

„Dies ist Schindler,“ sagt mein kleiner Schlingel mit großartiger Handbewegung.

„Schön,“ sage ich ruhig, dem Kinde die Hand gebend, „aber ich kenne Schindler wirklich nicht.“

Müthchen versucht’s auf eine andere Art, seiner Mutter zu Hilfe zu kommen. „Sag’ doch mal: ‚Schindler‘, Mutter!“

„Schindler,“ spreche ich nach.

„Siehst du wohl, daß du ihn kennst!“ jauchzt Müthchen, ganz glücklich, mich nun doch überführt zu haben.

Ich schicke die Jungen aus, um mir Ziegenhorn zu holen. Er soll mir helfen, das Klavier umzustellen, sonst haben wir heut’ abend nicht genug Raum in dem kleinen Zimmer. Ziegenhorn kommt mit der ihm eigenen Anmut an. Er ist mir gern gefällig, aus Freundschaft für Müthchen, und dann, weil ich ihm manchmal etwas in die Hand drücke, wofür er nicht unempfänglich ist. Diesmal will ich es mit einem einfachen „Danke schön!“ bewenden lassen, denn er hat voriges Mal die doppelte Ration empfangen. Müthchen vereitelt jedoch den Plan. Er fragt mich in Ziegenhorns Beisein: „Hast du Ziegenhorn schon seine Mark gegeben?“

Aergerlich über das große Trinkgeld, das ich gern sparen wollte, setze ich Müthchen und Schindler vor die Thür, nachdem ich noch eine kleine Rede über naseweise Kinder gehalten habe, die von Müthchen in seiner Unschuld nicht begriffen wird.

„Ihr könnt ein bißchen auf dem Hof spielen. Macht aber keine Dummheiten“, rufe ich ihnen nach, dann gehe ich seufzend ans Staubputzen. Von allen häuslichen Arbeiten ist mir das die unangenehmste. Man sieht nicht recht, was man vor sich bringt, und wird doch stundenlang aufgehalten. Selbst gegen die zahllosen Nippes, mit denen ich gern mein Zimmer schmücke, steigt in solchen Momenten etwas wie Haß in mir auf. Mit spitzen Fingern nehme ich Väschen, Bären, Hündchen und Muscheln von den Bördchen und habe dann doch das Pech, einen niedlichen kleinen Porzellanengel zum Krüppel zu machen. Gerade den allerhübschesten!

Zornig über mein Ungeschick klappe ich den Klavierdeckel auf, die Tasten abzuwischen.

Meine Augen werden groß vor Schreck: das ganze Klavier ist mit Stearin beträufelt, und die Tasten geben beim Niederdrücken ein sonderbar raschelndes, knitterndes Geräusch von sich.

Was ist denn das? Ich versuche eine nach der – andern dieselbe Geschichte! Lange mühe ich mich vergebens, das böse Rätsel zu lösen, endlich aber entdecke ich ein Stückchen rote Gelatine. Noch eins … und noch eins.

Irgend jemand – natürlich Müthchen! – hat mit bewunderungswürdiger Geschicklichkeit jede Taste mit einer Unterlage von Gelatine versehen. Eine weitere Ahnung sagt mir, daß es dieselbe [755] Gelatine sein müsse, die ich für die heutige süße Speise angeschafft hatte. Das ist denn doch zu arg! Ich eile in voller Wut hinaus und stoße mir an der Thürklinke den Arm blutig, was für Müthchens Schuld gravierend wirkt. „Müthchen –!“

Er ist zu sehr beschäftigt und hört mich nicht. Im Brunnentrog steht eine grüne Gießkanne, die in Onkels Haushalt gehört und gestern völlig neu und tadellos war; heute zeigt sie bedenkliche Beulen, Müthchen wird sie wohl in Behandlung gehabt haben.

Um den Brunnenschwengel, der für ihn viel zu hoch ist, herunterziehen zu können, hat Müthchen eine ebenso einfache wie sinnreiche Einrichtung getroffen. Er hat über den Schwengel einen alten eisernen Radreifen gehängt, und an diesem hängt er selbst, mit hochrotem Köpfchen und weit von sich gestreckten Beinen.

So oft er das Gießkännchen mit großer Kraftanstrengung vollgepumpt hat, spaziert er im Hof umher und begießt sorgsam den Kitt, mit dem die Steinplatten zusammengefügt sind. Schindler folgt ihm in wortloser Bewunderung. Es kommt mir vor, als ob sich hier und da schon einer der schweren Steine zu lockern beginne.

„Müthchen!“ rufe ich noch einmal streng.

Da sieht er mich und kommt schuldbewußt näher.

„Sieh mal, Mutter, wie schön blank der Hof wird!“ Er macht sein lieblichstes Gesicht.

„Ja, du unartiger Junge, ich will dir helfen! Komm ’mal herein – was hast du denn mit dem Klavier angefangen?“

Müthchen brüllt, als hätte er die ihm zugedachten Prügel bereits empfangen.

„Na – wird’s bald?“

Es dauert eine geraume Zeit, bis er, das verkörperte böse Gewissen, neben dem Klavier steht.

„Was ist denn das?“ Ich halte ihm das corpus delicti, in Gestalt eines roten Fetzchens unter die Nase.

„Gelatine,“ antwortet er richtig.

„Und wo hast du’s her?“

„Aus dem Küchenschrank.“

Daß er nicht lügt, ist nun wieder sehr hübsch bei dem kleinen Kerl, mein Zorn ist schon halb verflogen.

„Das sage ich dir, Müthchen, wenn du so ’was noch einmal thust…“

Sein Gesichtchen klärt sich wie mit Zauberschlag auf. Er kennt die Redewendung von dem „einen Mal“ nun schon und weiß, daß er für den Augenblick nichts zu fürchten hat.

Das Weitergießen wird natürlich untersagt und die Bitte, ihm eine eigene Gießkanne zu kaufen, abgeschlagen.

„Das fehlte noch! – –“

Noch ein halb Stündchen angestrengter Arbeit, und die Zimmer sind für den Abend im Stand. Ich übersehe mit frohem Stolz mein Werk, den gedeckten Tisch, der in seinem Blumenschmuck wirklich wunderhübsch aussieht, und die Möbel, auf denen nun kein Stäubchen mehr liegt. Sogar das Klavier habe ich mit viel Mühe und Geduld wieder leistungsfähig gemacht.

Mit einem Seufzer der Erleichterung begrüße ich Frau Bachmann, die Kochfrau, die eben anrückt. Ein Gefühl des Geborgenseins kommt über mich. Elschen muß auch aus der Schule zurück sein: hier liegt ihr Ranzen, dort die gute Plüschjacke, beides recht unordentlich auf die Stühle geworfen. „Elschen!“

Sie kommt aus der Küche gesprungen. Während ich ihr die Backe zum Kuß hinhalte, deute ich streng auf die Sachen:

„Wie oft hab’ ich dir das schon gesagt! Ach, Elschen!“ –

Als wir zu Tisch gehen wollen, fehlt Müthchen.

Erst nach wiederholtem Rufen kommt er zum Vorschein, und zwar aus dem Waschhaus. Seine Hände sind intensiv blau gefärbt, auch der neue Schulanzug zeigt dunkle Flecken.

„Was hast du …?“ Das Wort bleibt mir in der Kehle stecken, denn eben läuft Terry, unser verflossenes Hündchen, das uns aus alter Anhänglichkeit noch immer besucht, mit eingeklemmtem Schwanz an mir vorüber. Ueber sein Fellchen ziehen sich breite blaue Streifen – Müthchen hat ihn mit Waschbläue angestrichen.

Elschen nimmt den verunzierten Terry, den sie noch immer als ihr besonderes Eigentum betrachtet, weinend auf den Arm und stellt Müthchen verschiedene „Dachteln“ in Aussicht, ich selbst sehe ein, daß er diesmal, da wir ihn auf frischer That ertappt haben, nicht frei ausgehen darf.

Entschlossen greife ich auf meinen Schrank, wo ich für den äußersten Notfall ein Rohrstöckchen liegen habe –

„Wo ist der Stock?“ –

Ja, wo ist der Stock? Umsonst taste ich auf dem ganzen Schrank umher, umsonst beteiligt sich der ganze Haushalt am Suchen – der Stock findet sich nicht. Ida hat ihn erst vor ein paar Tagen von Meister Klügling mitgebracht, weil der alte mal wieder verschwunden war, und die Zahl der rätselhaft abhanden gekommenen Rohrstöcke, denen ich im Lauf der Jahre Nachfolger zu geben gezwungen war, ist eine recht ansehnliche.

Müthchen, der allein Auskunft über den Verbleib dieses neuesten und schönsten aller Rohrstöcke hätte geben können, steht mit gesenkten Augen und hofft im stillen, daß der Kelch auch diesmal an ihm vorüber gehe.

Aber das darf nicht sein! Ich muß mich entschließen, den kleinen Sünder mit der Hand durchzuwichsen, was mir erheblich weher thut als ihm und keine nachhaltige Wirkung hinterläßt.

Endlich sitzen wir ziemlich schweigsam um den Tisch, ich mit nervösen Schmerzen und die Kinder verheult. Elschen mault außerdem, weil sie auch einen kleinen Wischer bekommen hat.

Ich habe ihr unzähligemal gesagt, sie solle sich einen vernünftigen Zopf machen, und nun sitzt sie mir wieder gegenüber mit einer sogenannten „modernen“ Frisur, die schauderhaft unordentlich aussieht. „Nun merk dir’s aber,“ sag’ ich ärgerlich, „den Haarbeutel will ich nicht mehr sehen!“

Angesichts des Nachtisches, frische Nüsse und Obst, hellen sich die Mienen wieder auf.

„Mutter,“ sagt Müthchen, der das lyrische Intermezzo dank seiner angeborenen Elasticität längst vergessen hat, „weißt du, wie Frau Ziegenhorn ihren Mann anguckt?“

„Na?“

Er macht ein Gesichtchen, das schmachtende Liebe ausdrücken soll. Wir lachen.

Nach Tisch bleibt Müthchen ein Stündchen lang in der Küche, wo es heute besonders interessant zugeht.

Es giebt verschiedene Schüsseln auszulecken, und Frau Bachmann kratzt sie weniger sparsam aus als ich, die ich immer die Folgen für den nächsten Tag im Auge habe.

Elschen kommt wie ein Stoßvogel geschossen. „Frau Bachmann, Sie haben ihm doch nicht ‚meine‘ gegeben?“

Es stellt sich heraus, daß sie sich die beste „Leckschüssel“ hat heimlich zurückstellen lassen.

„Aber Elschen,“ sag’ ich, „so’n großes Mädchen!“ Davon will sie aber in diesem Falle nichts wissen.

Leider komme ich dahinter, daß Müthchen auch die Creme probiert hat, die zum Abkühlen in der Speisekammer steht. Man sieht deutlich den Druck des kleinen Zeigefingers.

Nun ist seines Bleibens nicht länger in der Küche.

„Hol’ dir Paul Dietrich ein bißchen!“

„Mit Paulen spiel’ ich nicht, der ist immer so schlecht mit mir,“ sagt Müthchen trotzig.

„Dann kann Trudchen Kutzleb kommen!“ Müthchen ist einverstanden, behauptet aber, Ida müßte mitgehen und sie abholen. „Allein trau’ ich mich nicht, der alte Müller ist immer so bös.“

Ich denke mir seufzend, daß der „alte Müller“, Kutzlebs Hauswirt, wohl seine Gründe haben werde, Müthchen nicht besonders hochzuschätzen, schicke aber Ida, trotz der vielen Arbeit, mit.

Sie kommen unverrichteter Dinge zurück. Trudchen muß erst Schularbeiten machen. Nachher will sie aber kommen.

Am besten wird sein, ich erzähle ihm so lange etwas, dann ist er wenigstens still. So unbändig er sonst ist, sobald ich Geschichten erzähle, rührt er sich nicht, nur seine großen, sprechenden Augen sind voll Leben und spiegeln jede Empfindung, jeden Gedanken getreulich wieder. Die Indianer sind, nächst dem „Buch der Erfindungen“, sein Lieblingsthema.

„Sind sie alle bös, Mutter?“

Ich gebe zu, daß einige gute darunter sein können.

„Wenn sie mir nun hier in der Kräme[2] begegneten?“ fragt er mit einem kleinen wollüstigen Gruseln.

„Nach Frankenhausen kommen sie nicht, Müthchen.“

„Wenn sie nun aber doch kämen, würden sie mich dann fressen? Auch, wenn ich ganz lieb mit ihnen wäre?“

[756] „Nein,“ sage ich in voller Ueberzeugung, wie ich sein treuherziges Gesichtchen sehe, „wenn du lieb wärst, thäten sie dir nichts.“

Trudchen bleibt zu lange, ich habe keine Zeit mehr zum Plaudern. „Elschen,“ sage ich beschwörend, die Nase in ihre Stube steckend, „kümmere du dich doch eine Weile um Müthchen!“

Elschen, die sich unter dem Vorwand der Weihnachtsarbeiten immer sofort in ihre Stube zurückzieht, wie die Schnecke in ihr Haus, schreit empört auf, als ich den Kopf zur Thür hineinstecke.

„Gott, Mutter, ich sticke doch!“ Damit verbirgt sie etwas Umfangreiches unter ihrer Schürze.

Ich fürchte, sie hat wieder eine neue Arbeit angefangen zu den sechs vorigen. Wann soll das nur alles fertig werden?

In diesem kritischen Augenblicke kommt Trudchen, und Müthchen zieht beglückt mit ihr ins Kinderzimmer ab.

„Aber stellt nicht alles auf den Kopf!“ rufe ich ihnen nach.

Während ich alle Kleinigkeiten für meinen Anzug zusammentrage, horche ich zwischendurch immer einmal nach der Kinderstube.

Zuerst höre ich mit Befriedigung den üblichen, mittelstarken Lärm, dann heult Müthchen, dann folgt starkes Gepolter, und dann wird’s still. Mir ist ungemütlich zu Sinn. Doch zum Nachsehen habe ich keine Zeit, und ich gehe ins Schlafzimmer mit dem festen Entschluß, mich gegen jede Störung abzuschließen, sonst stehe ich, wenn die Gäste kommen, immer noch im Küchenkleid.

Im Schlafzimmer sieht’s lieblich aus. Alle Betten sind auseinander gerissen, und kein Stuhl zu finden. Es ist doch zu arg. Mit bösem Gesicht schau’ ich zu den Kindern hinein, aber vor dem Anblick, der sich hier bietet, ist’s unmöglich, ernst zu bleiben.

Die Stühle stehen auf dem Kopf. Ueber ihre Beine ist das Badetuch gespannt, das infolge seines hohen Alters solche Strapazen nicht mehr verträgt und überall zu platzen beginnt.

Unter diesem mit Kunst und Geschmack hergestellten Baldachin liegen auf meinem frisch bezogenen Bügelbrett, mit meiner Steppdecke zugedeckt, Trudchen und Müthchen.

„Mein Gott, Kinder, was macht ihr denn da?“

„Wir spielen Herr und Frau Knopp!“ –

Ich brauche eine ganze Weile, ehe ich mich von meinem Lachanfall erholen kann.

Müthchen ist ein großer Busch-Kenner und -Verehrer; daß dies aber solche Blüten treiben könnte, hätte ich doch nicht gedacht.

Die Ordnung wird notdürftig wieder hergestellt, und die Kinder bekommen ihre belegten Brötchen. Während sie essen, bringt die Abendpost eine Freudenbotschaft: unser Kadettchen bekommt Herbsturlaub und wird in ein paar Tagen bei uns sein.

Es herrscht allgemeiner Jubel. Elschen übernimmt das Guirlandenwinden, ich das Kuchenbacken, und Müthchen hat die abenteuerlichsten Pläne zum Empfang. Seine freudige Erregung benutze ich, um ihm unmerklich ein Kleidungsstück nach dem anderen auszuziehen. Erst, als ich ihm das Nachtkittelchen überwerfen will, kommt ihm die Ueberzeugung, daß er überrumpelt worden ist.

„Dafür mußt du mir eine Geschichte erzählen,“ sagt er diktatorisch, schon aus seinem Bettchen heraus.

Um keine Minute Zeit zu verlieren, fange ich sofort zu erzählen an. Das Märchen von Kohle, Bohne und Strohhalm, das ist hübsch kurz. „Es war einmal eine alte Frau, die …“

„Nein, die nicht,“ sagt Müthchen. „Die ist ja gleich wieder zu Ende. Lieber die vom ,Fischer und siner Fru!‘“

Darauf lasse ich mich nun wieder nicht ein, denn ich weiß aus Erfahrung, daß die Beschreibung der verschiedenen Schlösser, die die unzufriedene Fischersfrau besessen hat, mindestens eine halbe Stunde Zeit in Anspruch nimmt.

Wir einigen uns schließlich auf „Goldmarie und Pechmarie.“ Müthchen hat eine entschieden realistische Richtung, denn er liebt die Stelle, wo die faule Marie mit Pech besudelt wird, am allermeisten. Ich kann gar nicht breit genug ausmalen, wie gräßlich schmutzig sie aussah, und dann kichert er vor Vergnügen und sagt jedesmal laut und vernehmlich: „Pfui Deibel!“

„So, nun wird aber geschlafen! Gute Nacht, Herzchen!“

„Gute Nacht, Mütterchen!“

An der Thür ruft er mich noch einmal zurück.

Ich bleibe zögernd stehen.

„Mutter, haben Indianer auch Kinder?“

„Natürlich,“ sag’ ich, „eine ganze Menge sogar.“

„Die sind aber gräßlich ungezogen,“ behauptet Müthchen, sittlich entrüstet.

Ich greife die Bemerkung erzieherisch auf: „Im Gegenteil, Müthchen! Die kleinen Indianerkinder sind sehr lieb und lange nicht so ungehorsam wie Müthchen.“

„Warum werden sie dann nachher so schlecht, wenn sie groß sind?“ examiniert Müthchen weiter.

Mit Schrecken entdecke ich, auf welch gefährliches Terrain ich mich begeben habe, und daß die Schläfrigkeit in Müthchens Augen wieder zu weichen beginnt.

„Nach dem Beten wird gar nicht mehr gesprochen,“ sage ich bestimmt. „Das Christkindchen fliegt jetzt um die Häuser und guckt in alle Stuben, ob die Kinder auch hübsch in ihren Bettchen liegen. Und wo eins noch plappert, da macht sich das Christkind einen dicken Strich in sein großes, goldenes Notizbuch und bringt zu Weihnachten nur eine Rute für das Plappermäulchen!“

Mit diesem glücklichen Coup schlüpfe ich hinaus, ehe Müthchen Zeit gehabt hat, mich weiter über das Notizbuch auszufragen.


  1. Wuchtel, ein thüringer Gebäck.
  2. Hauptstraße von Frankenhausen.