MKL1888:Europäische Sprachen

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Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Europäische Sprachen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 5 (1886), Seite 938939
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Europäische Sprachen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 5, Seite 938–939. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Europ%C3%A4ische_Sprachen (Version vom 15.01.2023)

[938] Europäische Sprachen. Die lebenden Sprachen Europas gehören meistenteils dem indogermanischen oder indo-europäischen Sprachstamm an, der überhaupt vermöge der überlegenen Zivilisation der indogermanischen Völker gegenwärtig weitaus der verbreitetste Sprachstamm der Erde ist. Ursprünglich wohl in Hochasien heimisch, haben die Indogermanen schon in früher vorgeschichtlicher Zeit ihre thatkräftigsten Stämme nach Europa entsendet und die einheimischen Völker und Sprachen Europas bis auf wenige Reste, wie sie in den Sprachen der Basken und Finnen und der ausgestorbenen Etrusker vorliegen, absorbiert. Die indogermanischen Sprachen Europas zerfallen, von dem nur vereinzelt auftretenden Zigeunerisch und Armenisch abgesehen, in fünf oder sechs Familien. Im Südosten beginnend, finden wir zuerst die außer im Königreich Griechenland auch in der Türkei stark verbreitete griechische Familie, d. h. die neugriechische Schriftsprache (Romaisch), die dem Altgriechischen sehr ähnlich geblieben ist, nebst zahlreichen sehr selbständig entwickelten Mundarten; einige jetzt freilich dem Aussterben nahe griechische Dialekte haben sich auch in Unteritalien behauptet. Die wahrscheinlich von dem alten Illyrisch abstammende Sprache der kriegerischen Albanesen ist nach einigen ein selbständiger Sprachzweig, nach andern eine alte Abzweigung der griechischen Familie. Aus dem Latein, in der ältesten historischen Epoche nur einer der drei Hauptsprachen Mittel- und Unteritaliens (Umbrisch, Oskisch und Lateinisch), entstanden nach dem Verfall des römischen Reichs die sechs romanischen Sprachen: Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Französisch, Walachisch (Rumänisch) und Rätoromanisch oder Churwelsch (Rumonsch, Ladin), der romanische Dialekt Graubündens, dessen Verzweigungen sich nach den neuesten Forschungen auch über Tirol hin bis nach Istrien und Görz ausdehnen. Als eine siebente romanische Sprache kann man das Provençalische in Südfrankreich ansehen, [939] das im Mittelalter zur Zeit der Troubadoure die Sprache einer bedeutenden Litteratur war, jetzt aber zu einem Volksdialekt herabgesunken ist. Dem Latein stehen Italienisch, Spanisch und Portugiesisch am nächsten, Rumänisch am fernsten; auch Französisch und Rätoromanisch haben sich durch Herübernahme vieler Wörter und Redeweisen aus den germanischen Sprachen stark von dem ursprünglichen Typus entfernt; die accentuierte Silbe der lateinischen Wörter ist jedoch in allen romanischen Sprachen beibehalten worden. Die einst über ganz Westeuropa verbreitete, auch in Oberitalien herrschende keltische Sprachfamilie ist jetzt nur noch durch zwei Zweige vertreten: den kymrischen, das Welsh in Wales, das schon im vorigen Jahrhundert ausgestorbene Cornische in Cornwallis und das Bretonische (Bas Breton) oder Aremorische in der Bretagne umfassend, und den gadhelischen, zu dem das Irische in Irland, das Erse oder Gälische (Hochschottisch) in Schottland und das jetzt fast erloschene Manx auf der Insel Man gehören. Die germanische Familie zerfällt durch das Gesetz der Lautverschiebung (s. d.) in zwei Hauptgruppen: das längst ausgestorbene Gotisch, ferner Englisch, Holländisch, Niederdeutsch und die skandinavischen Sprachen auf der einen, das Hochdeutsche auf der andern Seite. Das Englische ging durch Vermischung mit dem normännischen Französisch aus dem nahe mit dem Niederdeutschen verwandten Angelsächsischen hervor. Holländisch nebst Vlämisch, Friesisch und Plattdeutsch, der heutige Repräsentant des Niederdeutschen in Deutschland, sind nur mundartlich voneinander verschieden. Hochdeutsch, ursprünglich aus süd- und mitteldeutschen Dialekten hervorgegangen, hat sich durch den Einfluß der Litteratur als Sprache der Gebildeten über ganz Deutschland verbreitet. Die skandinavischen Sprachen: Dänisch, Schwedisch, Norwegisch und Isländisch sind untereinander ziemlich nahe verwandt; am altertümlichsten hat sich die zuletzt genannte Sprache erhalten, die dem Altnordischen der „Edda“ noch ziemlich nahe steht. Die slawolettische Familie zerfällt zunächst in die beiden Gruppen Slawisch und Lettisch. Zur lettischen Gruppe, die jetzt nur noch von etwa 21/2 Mill. Menschen gesprochen wird, rechnet man das Litauische, in den russischen Gouvernements Kowno und Wilna und in Ostpreußen in und um Memel und Tilsit, das Lettische im engern Sinn, in Kurland, Livland und Witebsk, und das schon im 17. Jahrh. ausgestorbene Altpreußische, in Ostpreußen. Die weit wichtigere slawische Gruppe umfaßt 1) die ost- und südslawischen Sprachen, nämlich Russisch nebst den Dialekten Kleinrussisch, das unter dem Namen Ruthenisch (Russinisch) auch im größten Teil von Galizien gesprochen wird, und Weißrussisch; ferner Bulgarisch, die serbokroatischen Dialekte, d. h. das Serbische in Serbien und Südungarn und das Kroatische, Dalmatinische (auch in Montenegro) und Slawonische; endlich das Slowenische in Kärnten, Steiermark, Krain und Istrien. Das Kirchenslawische, die beim Gottesdienst der slawischen Völker des griechischen Ritus gebräuchliche Sprache, kann als die Mutter des Slowenischen oder Bulgarischen angesehen werden. 2) Zu den west- und nordslawischen Sprachen gehören vor allen Polnisch und Tschechisch (Böhmisch), dann das mit letzterm verwandte Slowakisch in Mähren bis nach den Karpathen hin, das längst auf den Aussterbeetat gesetzte Ober- und Untersorbische der Sorben-Wenden in der Ober- und Niederlausitz und das bereits seit längerer Zeit ausgestorbene Polabische der Elbslawen. Die slawischen Sprachen beherrschen namentlich den Osten von Europa, werden aber an verschiedenen Stellen unterbrochen durch Sprachen des uralaltaischen Stammes, der in Europa durch drei Hauptzweige vertreten ist: den samojedischen, der sich nur bei einigen am Nördlichen Eismeer wohnenden Stämmen vorfindet; den finnisch-ugrischen, zu dem nicht nur das Finnische und Lappische im hohen Norden nebst dem nahe damit verwandten Esthnischen und Livischen der Ostseeprovinzen, sondern auch das Magyarische in Ungarn, dann die jetzt durch das Vordringen des Russischen mit dem Aussterben bedrohten Sprachen der Wogulen, Mordwinen, Tscheremissen, Permier, Syrjänen und andrer kleinerer Volksstämme im östlichen Rußland gehören; den türkisch-tatarischen, zu welchem das Türkische oder Osmanli in der europäischen Türkei, das Nogaische nördlich vom Schwarzen Meer, das Tschuwaschische südlich von Kasan und einige andre tatarische Dialekte zu zählen sind. Ganz isoliert steht die Sprache der Basken (s. d.) in den Pyrenäen da; sie bildet, wie auch ihr primitiver Charakter zeigt, offenbar den in das Gebirge zurückgedrängten letzten Überrest eines einstmals weit in Europa verbreiteten Sprachtypus, ähnlich wie sich auch an der Südostgrenze Europas, im Kaukasus, bei den Tscherkessen, Abchasen, Kisten und andern unzivilisierten Volksstämmen die letzten Überreste mehrerer untergegangener Sprachstämme erhalten haben. Die Anzahl der sämtlichen lebenden Sprachen Europas veranschlagt Pott auf 53, wobei aber die vielen oft höchst markierten dialektischen Spaltungen mehrerer Sprachen nicht in Anschlag gebracht sind. S. die „Bevölkerungs- und Sprachenkarte“ bei Europa (S. 933).