MKL1888:Wohnungsfrage
[719] Wohnungsfrage, die Frage, wie der besonders in großen Städten infolge starken und raschen Anwachsens der Bevölkerung in Verbindung mit starker Erhöhung der Grundrente entstandenen Wohnungsnot abzuhelfen ist. Die W. ist wegen des großen Einflusses, welchen die Wohnung auf Gesundheit, Sittlichkeit und Familienleben ausübt, von hoher Bedeutung für die Gesamtheit. Hieraus erwächst die Verpflichtung für die öffentliche Gewalt, regelnd einzugreifen, sobald die private Spekulation sich als unzureichend erweist. Eine solche Regelung ist schon von baupolizeilichen Gesichtspunkten aus nicht zu vermeiden, und es sind allgemeine Vorschriften nötig, welche sich auf Sicherheit der Anlage, Abhaltung von Gefahren für die Gesundheit, dann auf allgemeine im Interesse des Verkehrs liegende Ordnungsverhältnisse beziehen (vgl. Baurecht). Allenfalls ist auch bei vorhandenen Wohnungen und Straßen ein Einschreiten erforderlich, indem eine im Gesamtinteresse liegende gleichmäßige Regelung an wohlerworbenen mannigfaltigen Einzelinteressen scheitert. Man hat deswegen auch gefordert, daß, wie dies in einzelnen Ländern schon der Fall, der Staatsgewalt oder auch den Gemeinden die Befugnis zur Enteignung von Häusern zugestanden werde, wenn aus Gründen der Gesundheit, Reinlichkeit etc. eine Abtragung erforderlich sei. Ferner kommen die Maßregeln in Betracht, durch welche Staat und Gemeinde mittelbar auf angemessene und billige Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses und Erstellung brauchbarer Wohnungen für die mittlern und untern Klassen hinwirken können, wie Förderung der Baugenossenschaften (vgl. Genossenschaften, S. 106), Gewährung billiger Darlehen für Neubauten, welche bestimmten gestellten Anforderungen entsprechen, Sorge für billige Verkehrsmittel, welche außerhalb der Zentren großer Städte zu wohnen gestatten, etc. Eine ausgedehntere Gesetzgebung, welche die W. berührt, besitzt England seit 1851, so über Einrichtung von Logierhäusern für Arbeiter, über Beseitigung einzelner ungesunder Wohnungen, über Säuberung ganzer Flächen, welche mit ungesunden Wohnungen und Winkeln bedeckt sind, über Gewährung von Darlehen zur Erstellung von Wohnungen, Einstellung von sogen. Arbeiterzügen (Parlamentszügen) u. dgl. Meistens wird es sich, wo es eine W. zu lösen gilt, um Wohnungen von Arbeitern, insbesondere von Arbeitern der Großindustrie, handeln (vgl. hierüber Arbeiterwohnungen). Von der reichhaltigen Litteratur über die W. führen wir außer den unter Artikel Arbeiterwohnungen genannten Schriften noch an: Gaebler, Idee und Bedeutung der Berliner gemeinnützigen Baugesellschaft (Berl. 1848); „Die W.“, herausgegeben vom Zentralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen (das. 1866); Lette, Die W. (2. Aufl., das. 1871); Laspeyres, Der Einfluß der Wohnung auf die Sittlichkeit (das. 1869); Faucher, Über Häuserbauunternehmung im Geiste der Zeit (das. 1869); Ernst v. Plener, Englische Baugenossenschaften (Wien 1873); Assmann, Die Wohnungsnot in Berlin (Berl. 1873); Engel, Die moderne Wohnungsnot (Leipz. 1873); Arminius, Die Großstädte in ihrer Wohnungsnot (das. 1874); v. d. Goltz, Die Großstädte in ihrer Wohnungsnot und deren durchgreifende Abhilfe (das. 1874); „Die Wohnhäuser der Bau- und Spargenossenschaft Arbeiterheim“ (Münch. 1875); Schülke, Gesunde Wohnungen (Berl. 1879); Hansen, Die Wohnungsverhältnisse in den größern Städten (Heidelb. 1883); „Gutachten und Berichte“, herausgegeben im Auftrag des Vereins für Sozialpolitik (Bd. 30 u. 31, Leipz. 1886); Aschrott, Die englische Wohnungsgesetzgebung (in Schmollers „Jahrbüchern“, Bd. 9); Feld, Die Wohnungsnot der ärmern Klassen (Hamb. 1889); endlich die Schrift einer Lehrerin, welche sich in London durch praktische und uneigennützige Wirksamkeit um die W. hohe Verdienste erworben hat: Oktavia Hill, Homes of the London poor (neue Ausg., Lond. 1883; deutsch, Wiesb. 1878).