Mein erster Hirsch/1881

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Textdaten
<<< >>>
Autor: Guido Hammer
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Mein erster Hirsch/1881
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 12, S. 156–159
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Wild-, Wald- und Waidmannsbilder Nr. 49
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[156]
Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Von Guido Hammer.
Nr. 49. Mein erster Hirsch.


Ueber ein Menschenalter ist’s her, als ich zum ersten Mal in meinem Leben den Anstand auf Rothwild betrat, und zwar in einem der herrlichsten Hochwaldsreviere am nördlichen Hange des sächsischen Erzgebirges, das selbst heute noch einen recht guten Wildstand aufzuweisen hat. Damals aber, vor nun vierzig Jahren, wurde dieser noch durch das häufige Herübertreten von Wechselwild aus Böhmen erheblich vermehrt. Waren doch in jener Zeit die drüben liegenden, reichbesetzten Wildbahnen noch frei und nicht, wie jetzt, durch Drahtvergatterungen abgeschlossen. Nach jenem Jäger-Eldorado aber hatte mich zunächst die Einladung einer mir befreundeten, in dortiger Gegend ansässigen Familie geführt, deren Haupt ein anerkannt trefflicher Jäger, wenn auch keiner von Fach, war. Doch nicht etwa zur Jagd war ich eingeladen worden – nein, dazu sah der selbstbewußte und als ganz absonderlich jagdneidisch geltende, sonst aber höchst biedere Nimrod mich, das neunzehnjährige Bürschchen aus der Residenz, noch nicht für voll genug an – er hatte den angehenden Künstler die dortige malerische Natur, für welche er leidenschaftlich schwärmte, nur bewundern lassen wollen.

Doch was ein Häkchen werden will, krümmt sich bei Zeiten, und so ließ ich es denn, der ich mich damals in der That viel mehr für alles Jägerliche, als für meinen Künstlerberuf begeisterte, durchaus nicht dabei bewenden, nur alte Baumsturzel und Felsblöcke aufzusuchen und sie abzumalen, sondern bestrebte mich vielmehr, möglichst bald den ästhetischen Banden, in die mich das gastliche Haus zu schlagen gedachte, zu entrinnen, um dafür in den umliegenden Forsten bei den schlichten urwüchsigen Waidleuten Bekanntschaften anzuknüpfen, was mir auch durch die bereitwillige Vermittelung meines bisherigen freundlichen Wirthes recht bald gelang. Führte mich doch gleich dessen erste Empfehlung in eine hoch oben auf dem Gebirgskamm gelegene Oberförsterei, wo ich von dem dort hausenden alten, wackeren Grünrock und seiner trauten Familie so herzlich willkommen geheißen und aufgenommen ward, daß ich mich gern wochenlang an ihr waldeinsames Heim fesseln ließ.

Wie wohlgelitten ich aber in diesem Hause war, bewies mir der greise Oberförster mit dem jugendlichen Herzen am deutlichsten dadurch, daß er trotz seines hohen Alters meiner damals in vollen Flammen stehenden Jagdleidenschaft gern allen Vorschub leistete. Dafür that auch ich Alles, was ihn nur zu erfreuen vermochte, und suchte zu diesem Zwecke vornehmlich sein Wohnzimmer mit den Anfängen meiner Kunstleistungen auf dem Gebiete der Wildmalerei zu schmücken. Damit hatte ich mir denn allerdings sein Herz im Fluge erobert. So kam es, daß der Dankbare mich eines Abends hoch beglückte, indem er mir schmunzelnd die Erlaubniß ertheilte, des andern Morgens auf den von mir längst ersehnten Frühanstand auf Hochwild treten zu dürfen, wobei mich sein Gehülfe, dessen Zuneigung ich mir auch bereits erworben, begleiten sollte. Freilich erhielt ich hierzu auch noch den gemessenen Befehl: höchstens auf einen schwachen Hirsch, einen sogenannten Schneider, lieber aber nur nach einem Schmal- oder gelten (keine Milch gebenden, nicht trächtigen) Altthier zu schießen.

Mit dankbarem Herzen ging ich diesen Abend, nachdem mir mein lieber Gastgeber beim Gute-Nacht-Gruße noch den bekannten glückverheißenden, jägerlichen Hals- und Beinbruch-Wunsch zur morgigen Jagd nachgerufen, zu Bett. Doch kein Schlaf wollte mich hier umfangen; vielmehr hielt mich die freudige Aufregung bis zur Stunde wach, in welcher der Gehülfe zum Aufbruch mich [157] abzuholen versprochen hatte. Hierbei verging mir, trotz der wirbelnden Gedanken, die mir tausenderlei Phantasiegebilde glücklicher Jagdergebnisse vorgaukelten, doch die Zeit so unsäglich langsam, daß ich endlich, als die schnurrend aushebende Kukuksuhr aus der Treppenvorflur zweimal ihren Ruf ertönen ließ, aus dem aufgethürmten Gastbette sprang und mich vollständig ankleidete.

Dann aber öffnete ich das Giebelfenster meines hoch über allem Wald gelegenen Stübchens und kühlte mein heißwallendes Blut an der frischen Luft der reifkalten Nacht ab. Mein

Mein erster Hirsch.
Nach der Natur gezeichnet von Guido Hammer.

Blick schweifte, so weit dies das nächtliche Dunkel zuließ, über die unmittelbar unter mir beginnenden, nach dem Thale zu abfallenden Holzbestände hinweg, bis hinüber, wo der hoch emporsteigende waldige Gebirgsrücken den Horizont begrenzte. Tiefschwarz lag der weite Forst vor mir, über ihm aber, diesem schon tief zugeneigt, erglänzte am wolkenlosen Himmel die scharfgeschnittene Sichel des abnehmenden Mondes, während, mehr im Zenith stehend, ein paar auffallend hellleuchtende Sterne aus ihrem Aetherdunkel herniederstrahlten. Scharf strich ein eisiger Ost über die Wipfel der alten wettergezackten Tannen und Fichten und ließ sie ächzend sich hin und her neigen, durch ihr Gezweig aber erklang es bald rauschend und bald brausend, dann wieder nur in säuselndem Flüsterton, immer jedoch zu wunderbar melodischem Accord sich verschmelzend. Wenn sich zuweilen diese Klänge bis zu einem nur noch leisen Hauche verloren, dann hörte ich in solch stillen Augenblicken selbst ein einzelnes welkes Blatt, vom Froste geknickt, zur Erde fallen, während aus ätherreiner Luft das Gestimm nächtlich ziehender Vögel an mein Ohr schlug.

Unter solchen Betrachtungen verstrich die Zeit schneller, als ich erwartet, und geradezu überrascht wurde ich, als von Neuem der alte Seiger[1] seinen Ruf, nun dreimal, ertönen ließ und so die abgelaufene Frist verkündete, bis zu welcher mein Führer mich abzurufen versprochen hatte. Und mit der Minute erschien der pünktliche Jäger, um mich zunächst in die Burschenstube hinunter zu geleiten, wo wir einen bereits fertigen Kaffee einnahmen. Dann [158] aber überreichte er mir die bereits geladene gewichtige Pürschbüchse seines Herrn, in deren Kugelkasten noch ein paar Reservegeschosse nebst Pflastern sich befanden, dazu noch die Tasche mit dem übrigen Schießzeug, sowie einigen Mundvorrath, und ohne weiteren Verzug ging’s aus dem Hause über den geräumigen Hof, wo uns die Hunde aus ihrem Zwinger vergeblich bittend um Mitnahme anwinselten, hinaus in’s Freie, hier anfangs über eine vor der Försterei liegende, heute glitzernd bereifte Dienstwiese und dann über ein sich daran anschließendes Gehau, von da an aber hinein in den dicht geschlossenen Hochwald. Ein alter Bestand mächtiger Tannen und Fichten umfing uns zuerst, darinnen so rabenschwarze Finsterniß herrschte, daß ich kaum meinem langsam vor mir herschreitenden Genossen zu folgen vermochte. Doch bald lernte auch mein Auge sich zurecht finden, und auf weichem Moosboden strebten wir gemeinsam bedächtig vorwärts. Lautlos, die volle Aufmerksamkeit auf unseren pfadlosen Gang gerichtet, schritten wir dahin, und nur einmal fesselte mich auf Augenblicke ein plötzliches Rauschen und Poltern hoch über uns in dem Geäst der Tannen – der Flügelschlag eines vor uns abstiebenden Auerhahnes, wie mir mein kundiger Begleiter erklärte. Sonst erreichten wir ohne jedwedes weitere Vorkommniß die Grenze des Forstes, und vor uns lagen nun, von allen Seiten in Wald eingeschlossen, die reifüberzogenen Felder. An deren äußerstem Rande aber verrieth sich ein dort liegendes Dorf durch den blassen Lichterschimmer, der hier und da aus einem Fensterchen drang, sowie durch den herübertönenden Dreischlag schon fleißiger Drescher und das dazwischen laut werdende Hundegebell.

An einer übergehaltenen Randtanne, welche den dahinter liegenden jüngeren Wald hoch überragte, vor mir zur Deckung ein halbmannshohes Fichtenbüschchen, stellte mich jetzt mein Leibschütz an mit dem Bedeuten, er selber werde an jener seitwärts von meinem Stande sichtlich vorspringenden Holzecke Stellung nehmen. Noch fügte der praktische Jägersmann vor seinem Abgange hinzu: daß er zwar bei mir bleiben solle, er habe aber das Vertrauen zu mir, ich werde mich auch ohne ihn behelfen können, nur sollte ich gut Acht haben, bei einem etwa abzugebenden Schuß nicht nach ihm hinüber zu feuern, es möchte von dort her kommen, was da wolle. Nach dieser Warnung und mit einem „Waidmanns Heil!“ verließ mich mein Cumpan und schritt leise seinem mir bezeichneten Stande zu.

Wie klopfte mir jetzt vor Wonne und Bangen das erregte Herz! Hatte ich doch endlich das oft geträumte Ziel erreicht, möglicher Weise ein Stück Hochwild erlegen zu können. Fertig, nur noch bis zum Stechen, hielt ich die mordschwere Büchse schußbereit in krampfhafter Hand, dabei aber so regungslos stehend, als wäre ich dem Boden entwachsen. Nur das Auge wendete sich dabei nach allen Seiten und suchte das noch herrschende Dunkel zu durchdringen, um auf der vor mir liegenden nebelgrauen Fläche äsendes oder wohl gar schon zu Holze ziehendes Wild zu entdecken. Meine Phantasie arbeitete gewaltig, und als es im Osten zu dämmern begann und nach und nach ein immer lichter werdender Streif den Horizont scharf vom Himmel abgrenzte, da stieg die Spannung auf’s Höchste, trat doch nun der Zeitpunkt ein, wo ich gewärtig sein konnte, Wild in Sicht zu bekommen. Und wahrhaftig, jetzt regte sich da draußen etwas. Bald konnte ich auch, ohne an Sinnestäuschung glauben zu müssen, wahrnehmen – es war inzwischen nothdürftig Büchsenlicht geworden – wie drüben aus den Feldern mehrere Stücke Wild – von welcher Art sie waren, konnte ich bei der noch zu großen Entfernung freilich nicht unterscheiden – dem Walde zu zogen, leider nicht nach mir herüber, auch nicht der Ecke meines Gefährten zu, sondern mehr abwärts von diesem. Mit scharfem Auge verfolgte ich die ruhig Dahinwandelnden und konnte, schritten sie zuweilen hinter einander her, vier Stück zählen.

Manchmal glaubte ich auch, einen Hirsch darunter zu entdecken, doch dann entschwand plötzlich das vermeintlich gesehene Geweih dem Auge wieder, und ich nahm deshalb an, daß ein sich einstellendes Hirschfieber mich genarrt habe. Inzwischen kam der kleine Trupp – es war Hochwild; das erkannte ich nun am Gebahren wie an der Größe der einzelnen Stücke bestimmt – dem seitlichen, für mich nicht beschießbaren Waldrande so nahe, daß er dort gegen den dunkeln Hintergrund meinen Blicken gänzlich entrann und ich annahm, die Colonne sei in’s Holz hineingezogen. Da ich mich noch der Hoffnung hingeben durfte, daß doch noch ein oder das andere Stück Wild draußen sein und erst später, dann aber vielleicht auf mich zu, den Wald aufsuchen könne, ich auch Befehl hatte, nicht eher abzutreten, als bis mir abgepfiffen oder ich abgeholt werden würde, so beharrte ich getreulich auf meinem Posten, unterließ auch nicht, von Neuem scharf auszulugen, aber nirgends wollte sich noch etwas zeigen. Da, auf einmal, als mein Blick abermals die Runde machte, erschaue ich, kaum fünfzig Schritte seitwärts hin, ein mächtig großes Stück Wild, den Kopf und Hals hinter einem dichten Fichtenbusch verborgen. Es war ein Anblick, der mir vor Erregung das Auge fast lähmte. Wirklich und leibhaftig stand da eine „Großjacke“ vor mir, die ich natürlich, weil’s ja mein Herz so heiß begehrte, für nichts anderes, als eine recht alte und dabei gelte „Plautze“ hielt, die ich also schießen durfte. Darum zauderte ich auch nicht einen Augenblick, auf mein Opfer, sobald ich es nur auf dem Rohre hatte, Feuer zu geben; denn etwa genaues Korn zu nehmen und die Büchse erst zu stechen, hatte ich im Jagdfieber rein vergessen, ebenso, daß ich nach der Richtung hin – sie lag in der Linie nach der verpönten Waldecke hin, wo mein Warner stand – gar nicht hätte schießen dürfen. Nach dem scharfen Knall meines Donnerrohres, den die kalte Morgenluft weithin dröhnen ließ, war mein Wild im Nu verschwunden und die Aufregung hatte mich nicht einmal sehen lassen, ob es gezeichnet hatte und wohin es überhaupt die Flucht genommen. Von einem Kugelschlag wußte ich nun gleich gar nichts.

Verteufelt rasch war mein grüner Controlleur, der Forstgehülfe, bei mir, mich scharf nach Ursache und Wirkung meines Schusses ausforschend. Bald hatte ich ihm Alles nach besten Wissen und Gewissen berichtet, und mit bedenklicher, mich höchlichst beängstigender Miene fragte er: ich hätte doch nicht etwa gar auf den starken Hirsch, der am Waldrande hin, von ihm ab und nach mir zu gezogen sei, geschossen?

„Na,“ tröstete er, „Sie werden ja doch ein Stück Mutterwild von einem Hirsch unterschieden haben, wenn Sie auch den Kopf davon nicht zu Gesicht bekommen.“

Dies war wohl eine für mich recht schmeichelhafte Voraussetzung, aber der Gedanke, daß ich möglicher Weise doch den von meinem Tröster erwähnten Geweihten vor mir gehabt hätte, trieb mir schon jetzt das Blut heiß zu Kopfe. Ich verzagte bereits über die Dinge, die sich da am Ende gar noch herausstellen möchten und die in meiner einmal aufgeregten Phantasie sich schon zu vollen Thatsachen gestalteten.

Vor Allem gingen wir jetzt, zur Aufklärung der heiklen Sache, auf den Anschuß, den ich hinlänglich bezeichnen konnte, da die dunkle Fichtengruppe, hinter welcher mein Wild halb verborgen gestanden hatte, als ich nach ihm geschossen, mir ein unverkennbares Merkmal für die betreffende Oertlichkeit geworden war. Am Platze angekommen, fand mein Gefährte sehr bald den Eingriff und die weitergehende Fluchtfährte eines – starken Hirsches. Himmel, wie ward mir hierbei zu Muthe! Noch schlimmer aber, als sich bei näherer Untersuchung der Stelle auch noch ganz kurze Schnitthaare und zum Ueberfluß auch noch einzelne frische Splitter einer Knochenröhre vorfanden. Nach diesen schlimmen Zeichen war der Hirsch also schlecht lauftlahm angeschossen.

Dafür wurden mir freilich keine Schmeicheleien gesagt, wohl aber hörte ich kraftvolle Jägerwünsche betreffs meiner laut werden, die einem Waidmanns-Heil höllisch entgegen liefen. Doch was half dies jetzt alles? Geschehenes konnte eben nicht ungeschehen gemacht werden, und es handelte sich jetzt nur noch um die Frage: Was nun zu thun? Und hierüber wurden wir denn auch bald dahin einig, dem Angeschossenen vor Allem Ruhe zu lassen, damit er sich recht bald und womöglich noch in derselben Dickung „stecken“ möge, in die er nach dem Schuß geflüchtet. Später wollten wir ihn aber mit Waldine, des Oberförsters „Däbe“, die aber auch als niedliches und fermes Schweißhündchen sicher Fährte hielt und ganz vorzüglich stellte, aufsuchen. Ihre einzige, allerdings abscheuliche Untugend, verendet aufgefundenes Wild sofort anzuschneiden, kam im vorliegendem Falle kaum in Betracht, da der Hirsch ja leider nicht tödtlich verwundet war.

Zu unserem Zwecke kreisten wir zuvörderst in weitem Bogen die betreffende Dickung ein, um so zu erforschen, ob der Hirsch darin geblieben oder bereits durchgezogen sei, was bei dem starken Reif, der auf Büschen und Wegen lag, leicht zu erkunden war. Nachdem wir hierzu das nöthige Terrain umschlagen hatten und feststellen konnten, daß der Kranke wirklich noch in der Dickung stecke, blieb [159] ich auf Befehl an einem alten Wege stehen, von wo aus man bequem zu beobachten im Stande war, wohin der Getroffene, wenn er vielleicht doch noch einmal rege werden und dann voraussichtlich auf gewohntem Wechsel durch- und weiterziehen sollte, seinen weiteren Gang wenden würde. Auch stand bei etwaiger zutreffender Voraussetzung die Möglichkeit offen, noch eine Kugel auf ihn anbringen zu können. Mein Rathgeber eilte nach dem Forsthause zurück, um dort das Ereigniß zu melden und darüber zu berichten, darauf aber mit dem Hunde wieder herauszukommen und mit Hülfe dessen die Jagd zu Ende zu führen. Wie lang wurden mir inzwischen die paar Stunden, bis der Scheidende wieder zur Stelle sein konnte! Doch geduldig mußte ich, allein mit meinem Kummer, auf meinem verantwortlichen Posten ausharren. Endlich erreichte diese peinliche Zeit aber doch ihr Ende, und wahrhaft erlösend wirkte die Wiederkehr des rührigen Jägers auf mich, zumal dieser allein, ohne den von mir mit banger Sorge miterwarteten Oberförster kam. Letzterer war, nach Aussage des Zurückgekommenen, über den abgenommenen Rapport fuchswild geworden und, wie auch sehr natürlich, in Feuer und Flammen ob meines leichtsinnigen Schusses gerathen. Einen „Aasjäger“ hatte mich der brave Alte in seinem echt jägerlichen und gerechten Zorne betitelt – ein Ausdruck, mit dem er übrigens Jeden belegte, mochte er Fürst oder Bauer sein, welcher nicht soviel gute alte Waidmannsehre zeigte: einen jagdbaren Hirsch von der Brunstzeit ab nicht eher wieder zu beschießen, als bis zur Feistzeit über’s Jahr.

Nach dieser mir am heutigen Morgen gewordenen zweiten Strafpredigt verließ mich mein Jägersmann abermals, Waldine auf den Anschuß zu tragen und dort auf die Fährte zu setzen. Ihr Pfleger hatte nämlich die Däbe nicht etwa an der Leine mit sich geführt, sondern diese steckte wohlverwahrt in einem gewaltigen sogenannten Büchsenranzen, aus welchem nur das intelligente Köpfchen des reizenden Geschöpfes herausschaute. Ich aber sollte vor der Hand – so lautete meine Instruction – meinen Stand noch inne behalten, um, ginge die Jagd nach vorwärts, Zeuge sein zu können, wohin sie sich wenden würde. Unter günstigen Umständen aber möchte ich nur keck noch einmal auf den so schon „Angeflickten“ schießen. Erwartungsvoll lauschte ich nun, bis ich den ersten Ton des Hundes vernehmen würde, und nicht lange brauchte ich darauf zu warten. Wie ein Glöckchen schlug plötzlich der helle Laut der jagenden kleinen Creatur an mein Ohr; sie war also bereits hinter dem Verfolgten her. Aber nur kurze Zeit verstrich, so wandelte sich das eifrige „kiff, käff, kiff, kaff“ in Standlaut um – das brave Thierchen hatte also den Angeschossenen vor sich und stellte ihn fest. Jetzt erwartete ich nun gespannt einen baldigen Schuß, da ich voraussetzte, mein Waidgesell werde sich schleunigst hinanmachen, seine Kugel anzubringen, und den Hirsch vor dem Hunde todtschießen. Doch rasch rückte die Jagd wieder vorwärts, und ehe ich mich dessen noch versah, hörte ich es auch schon brechen, dahinter her den „läutenden“ Hund – und der Hirsch, ein capitaler Bursche, kam mäßig flüchtig, den einen Vorderlauf schlenkernd, richtig auf dem vermutheten Wechsel aus der Dickung heraus, übereilte eine kleine Blöße mit einer verlassenen Kohlenstätte und verschwand hinter dem Rande einer abstürzenden Leite vor meinen erstaunt nachstarrenden Blicken. Geschossen hatte ich nicht, der jähe Anblick hatte auf mich geradezu bannend, bezaubernd gewirkt. Uebrigens hätte ich unter solchen Umständen auch sicher gefehlt.

Als nun mein Gefährte, der Flucht nachkommend, mich erreichte und von mir erfuhr, was ich gesehen, war er nicht allzuböse über meine bewiesene Befangenheit, zumal der Hund unterhalb des Hanges schon wieder brav stellte. Rasch eilten wir nun mitsammen dem Laute nach und kamen, gedeckt hinter Steinblöcken und von Stämmen eines lichtgewordenen alten Bestandes, welchen der abschüssige Hang noch trug, doch endlich soweit hinan, daß wir „guten Anblick“ bekamen und eben sehen konnten, wie der Hirsch ärgerlich seinen kleinen, stets behend ausweichenden Quälgeist abzuschlagen trachtete. Als wir uns aber vollends auf Schußweite an den Zornmüthigen herangepürscht hatten, zauderte ich keinen Augenblick mehr, die Büchse an den Kopf zu nehmen, zu zielen und Feuer zu geben.

Der offenbar abermals Getroffene ergriff wiederum die Flucht. Diese aber konnten wir, da hier die gerade sehr steil abfallende Lehne gänzlich abgeholzt war, ungehindert übersehen. Es bot sich uns nun eine tragische Scene dar. Durch den zerschossenen Lauf des nöthigsten Stützpunktes nach vorn beraubt, vom frischen Anschusse aber wahrscheinlich zu letzter verzweifelter Kraftanstrengung gedrängt, kam der edle Hochgeweihte erst in’s Gleiten, dann über einen sturmgebrochenen morschen astgezackten Stamm zum Sturze, unter dessen Wucht prasselnd das abspellende Gezweig umhersplitterte, und blieb momentan wie todt im Gewirre von Holz- und Steingetrümmer liegen. Noch einmal versuchte das königliche Thier sich zu erheben, kam aber dabei zum Ueberschlagen, und rollte nun unaufhaltsam der Tiefe zu, bis es auf halbem Wege ein vorliegender Windwurf aufhielt, während das mit ihm niederpolternde Geröll weiter zu Thale stürzte. Er aber, der dem Tode Verfallene, blieb in dem Holzgetrümmer liegen. Bei allem Graus hatte ihn die wieselflinke Waldine nicht einen Augenblick verlassen, sodaß sie, als der Hirsch nicht mehr entrinnen konnte, auch schon sofort dem Gestürzten auf dem Rücken saß und an ihm, ihrer Gewohnheit nach, herumschnitt, daß das bruchige Haar von der Haut des Hirsches in Büscheln herumflog. Ohne Verzug klommen wir hinab nach der grotesken Arena der ungleichen Gegner, und hier sahen wir nun erst, daß der bedauernswerthe Hirsch noch bei vollem Leben und von knorrigen Aesten fest umstrickt war, in die sich die eine Stange seines weit ausgelegten vielendigen Geweihes so festgeklammert hatte, daß der Verlorene seinen schönen, durch die ausstehende Pein märtyrerhaft verherrlichten Kopf nicht mehr vom Boden zu erheben vermochte. Und da auch sein übriger todeswunder Körper gebannt zwischen in einander geworfenen Stämmen lag, so mußte er, gleich einem gefesselten Prometheus, seinem kleinen Peiniger, der ihn, wie jenen der Adler, thatsächlich bei lebendigem Leibe mit gierigem Zahne zerfleischte, machtlos gewähren lassen.

Denke man sich aber den edelstolzen, freien Waldgeborenen in solch jammervoller Lage! Mehrfach angeschossen, vom Stürzen in das scharfe Astgezack ein Stück davon speerartig zwischen die Rippen eingebohrt, mit seinem Kronenschmucke fest in das Stammgewirr verkettet, auf ihm aber die giftwüthige, kleine Bestie sitzend, die sich in den Aermsten eingebissen hatte – und man wird mich nicht belächeln, wenn ich offen eingestehe, daß ich beim Anblicke dieses meines unglücklichen Opfers und im eigenen Schuldbewußtsein heiße Thränen vergossen habe.

Die Lage rasch und weniger erregt als ich überblickend, trat mein resoluter Jagdcamerad jetzt entschlossen hinzu, um dem in seiner mächtigen Umschlingung Festgebannten, aber noch immer nicht Verendeten den Gnadenstoß, den Nickfang, zu geben. Dann brach er den Hund von der Beute ab und schob ihn wieder in den Büchsenranzen, welchem das schweißschnauzige, vor heller Gier noch athemlos keifende Blitzköterchen nur allzu gern noch einmal entronnen wäre, um sich von Neuem auf den nun leblosen Gegner stürzen zu können. Von einem nahen Holzschlage herbeigeholte Waldarbeiter mußten den vorher gelüfteten Hirsch mit der Axt aus seinen Banden lösen und bis zum nächsten Wege heraus ziehen, dann aber auf einem Karren zur Försterei schaffen.

Mit schwerem Herzen, wie einem Leichenzuge, folgte ich der höchst malerischen Heimfuhre. Durch meine aufrichtige Reue über den verübten Frevel und im Hinblick darauf, daß ich ihn nicht absichtlich ausgeführt, fand ich Gnade vor dem wackeren waidgerechten Oberförster, sodaß ich später von dem herzigen Manne, der nun schon lange, lange in kühler Erde ruht, sogar noch das zehnendige Geweih und die Hacken meines ersten Hirsches zu bleibender Erinnerung erhalten habe.




  1. „Seiger“ nennt man in Meißen und Schlesien Uhren von jeder Größe. Das Wort wird von sîgen, d. h. sinken, tröpfelnd sich abwärts bewegen, abgeleitet; es bedeutete ursprünglich wohl: Sand- oder Wasseruhr.
    D. Red.