Meine Kinderjahre (Fontane)/Wie wir draußen spielten

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Wie wir erzogen wurden Meine Kinderjahre
von Theodor Fontane
Vierzig Jahre später
{{{ANMERKUNG}}}
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


[254]
Fünfzehndes Kapitel.
Wie wir draußen spielten, an Strom und Strand.


Es ist ein hübsches Wort, daß die Kinder ihren Engel haben und man braucht nicht sehr gläubig zu sein, um es zu glauben. Für die Kleinen ist dieser Engel eine mit einem langen weißen Lilienschleier angethane Fee, die lächelnd zu Füßen einer Wiege steht und entweder vor Gefahr bewahrt oder wenn sie schon da ist, aus ihr hilft. Das ist die Fee für die Kleinen. Ist man aber aus der Wiege, beziehungsweise dem Bettchen heraus und schläft man bereits in einem richtigen Bett, mit andern Worten ist man ein derber Junge geworden, so braucht man freilich auch noch seinen Engel, ja, man braucht ihn erst recht, aber statt des Lilien-Engels muß es nun eine Art Erzengel sein, ein starker, männlicher Engel, mit Schild und Speer, sonst reicht seine Kraft für seine mittlerweile gewachsenen [255] Aufgaben nicht mehr aus. Ich war nicht eigentlich wild und wagehalsig und alle meine Kunststücke, die mir als etwas Derartiges angerechnet wurden, geschahen immer nur in kluger Abmessung meiner Kräfte, trotzdem hab ich, im Rückblick auf jene Zeit, das Gefühl eines beständigen Gerettetwordenseins, ein Gefühl, in dem ich mich auch schwerlich irre. Denn als ich mit 12 Jahren aus dem elterlichen Hause kam, in einem Alter also wo die Fährlichkeiten recht eigentlich erst zu beginnen pflegen, wird es mit einem Male ganz anders, so sehr, daß es mir vorkommt, als habe mein Engel von jenem Zeitpunkt ab wie Ferien gehabt; alle Gefahren hören entweder ganz auf oder schrumpfen doch so zusammen, daß sie mir keinen Eindruck hinterlassen haben. Es muß also, bei dem Dichtnebeneinanderliegen dieser Zeitläufte, doch wohl ein Unterschied gewesen sein, der mir so ganz verschiedene Gefühle zurückgelassen hat.

Aus sogenannten Schlüsselbüchsen schießen, war ein Hauptvergnügen. Es wird solche Schlüsselbüchsen unter Großstadtskindern kaum noch geben und deßhalb möcht ich sie hier beschreiben dürfen. Es waren Hohlschlüssel von ganz dünner Wandung, also so zu sagen mit ungeheurer Seele, womit die Wäschetruhen und namentlich die Truhen der Dienstmädchen [256] zugeschlossen wurden. Solche Schlüssel uns anzueignen, war unser beständiges Bemühen, worin wir bis zur Piraterie gingen. Wehe dem armen Dienstmädchen, das den Schlüssel abzuziehen vergaß, – sie sah ihn nie wieder. Wir bemächtigten uns seiner und durch die einfache Prozedur eines Zündloch-Einfeilens, war nun die Schußwaffe hergestellt. Da diese Schlüssel immer rostig, mitunter auch schon ausgesplittert waren, so war es nichts Seltenes, daß sie sprangen; wir kamen aber immer heil davon. Der Engel half.

Ungleich gefährlicher waren die beständig geübten Feuerwerkskünste. Ich hatte mich mit Hülfe von Schwefel und Salpeter, die wir in der Apotheke bequem zur Hand hatten, zu einem vollständigen Pyrotechniker herangebildet, dabei von meiner Papp- und Kleisterkunst sehr wesentlich unterstützt. Alle Sorten von Hülsen wurden mit Leichtigkeit hergestellt und so entstanden Sonnen, Feuerräder und pot à feu’s. Oft weigerten sich diese Schöpfungen, ihre ihnen zugemuthete Schuldigkeit zu thun und wir warfen sie dann zusammen und zündeten den ganzen Haufen mißglückter Herrlichkeit mit einem Schwefelfaden an, abwartend was draus werden würde. All das war ziemlich gefahrlos. Desto gefahrvoller für uns war aber das, was in der Pyrotechnik als das einfachste und [257] niedrigststehende Produkt gilt und auch von uns so angesehen wurde: der Schwärmer. Dieser, wenn ich die Mischung verfehlt haben mochte, wollte häufig nicht recht brennen, was mich immer sehr verdroß. Wenn sich ein Feuerrad zu drehen weigerte, nun, das ging allenfalls; ein Feuerrad war eine vergleichsweise künstliche Sache, ein Schwärmer aber mußte brennen und wenn er trotzdem nicht wollte, war das eine Schändlichkeit, die man nicht hinnehmen durfte. So bückte ich mich denn über die in einen Sandhaufen gesteckten Hülsen und begann zu pusten, um dem erlöschenden Zündschwamm neues Leben zu geben. Erlosch er dabei völlig, so war das eigentlich das Beste, ging es aber plötzlich los, so wurde mir das Haar versengt oder die Stirn verbrannt. Schlimmeres kam nicht vor. Der Engel schützte mich eben mit seinem Schild.

Das war das Element des Feuers. Aber auch mit dem Wasser machten wir uns zu schaffen, was in einer Seestadt nicht Wunder nehmen durfte.

Herbst 31 war mir von einem Berliner Anverwandten eine Kanone als Geschenk verehrt worden, nicht etwa ein gewöhnliches Kinderspielzeug, wie man es beim ersten besten Kupferschmidt oder Zinngießer kaufen kann, sondern eine sogenannte Modell-Kanone, wie man ihnen nur in Zeughäusern begegnet, [258] – ein wahres Prachtstück an Schönheit und Eleganz, die Lafette fest und sauber, das Geschützrohr blitzblank und wohl fast anderthalb Fuß lang. Ich war selig und beschloß alsbald zu einem Bombardement von Swinemünde zu schreiten. Zwei Jungens meines Alters und mein jüngerer Bruder bestiegen mit mir ein an „Klempins Klapp“ liegendes Boot und nun fuhren wir, die Kanone vorn am Steven, flußabwärts. Als wir etwa in Höhe des Gesellschaftshauses waren, hielt ich die Zeit zum Beginn der Beschießung für gekommen und gab drei Schuß ab, bei jedem Schuß abwartend, ob wir vom Bollwerk aus beobachtet und in dem Ernst unsres Thuns gewürdigt würden. Beides blieb jedoch aus. Was aber nicht ausblieb, das war, daß wir inzwischen in die Strömung hineingerathen waren und von dieser gefaßt und getrieben, uns mit einem Male zwischen den Molendämmen sahen. Und nun erfaßte mich eine furchtbare Angst. Ging das so weiter, so waren wir in 10 Minuten draußen und konnten dann auf Bornholm und die schwedische Küste zufahren. Es war eine ganz verteufelte Situation und wir griffen zuletzt zu dem wenigst tapferen, aber doch schließlich verständigsten Mittel und begannen ungeheuer zu schreien, zugleich winkend und schwenkend, und erwiesen [259] uns überhaupt als geradezu erfinderisch in Nothsignalen. Endlich wurden wir von einigen auf der Westmole stehenden Lootsen bemerkt, die nun mit dem Finger drohten, aber doch auch vergnüglich dreinschauend, uns schließlich ein Tau zuwarfen. Und damit waren wir aus der Gefahr heraus. Einer der Lootsen kannte mich, weil sein Junge zu meinen Spielgefährten gehörte. Das machte denn auch wohl, daß wir mit ein paar nicht allzu schlimmen Ehrentiteln davonkamen. Ich nahm meine Kanone unter den Arm und hatte noch die Befriedigung, sie bewundert zu sehen. Dann ging ich nach Hause, nachdem ich versprochen hatte, Hans Ketelböter, einen großen Schiffersjungen, der ganz in unsrer Nähe wohnte, hinauszuschicken, um das inzwischen an einem Pfahl befestigte Boot zurückzurudern. – Dies war unter den Wasserfährlichkeiten die aparteste, aber keineswegs die gefährlichste. Die gefährlichste war zugleich die alleralltäglichste, weil beim Baden in der See beständig wiederkehrende. Wer die Ostseebäder kennt, kennt auch die sogenannten „Reffs“. Es werden darunter die hundert oder zweihundert Schritt in See hinein, parallel mit dem Ufer laufenden und oft nur von wenig Wasser überspülten Sandstreifen verstanden, auf denen die [260] Badenden, wenn sie die zwischenliegenden tiefen Stellen passirt haben, wieder ausruhen können. Und damit sie genau wissen, wo diese Stellen sind, sind rothe Fähnchen auf diesen Sandriffen angebracht. Hier lag nun für mich die tägliche Verführung. War es still und alles normal, so reichten meine Schwimmkünste gerade aus, glücklich über die tiefen Stellen wegzukommen und das zunächst gelegene Reff zu erreichen, lag es aber minder günstig oder ließ ich mich wohl gar aus Zufall zu früh nieder, so daß ich keinen festen Grund unter den Füßen hatte, so war auch der Schreck und mitunter die Todesangst da. Glücklich bin ich jederzeit herausgekommen. Aber nicht durch mich. Kraft und Hülfe kamen von wo anders her.


* * *


Eine weitere Wassergefahr, die zu bestehen mir noch beschieden war, hatte nichts mit der See zu thun, sondern spielte sich auf dem Strom ab, dicht am Bollwerk, keine 500 Schritt von unserm Hause. Davon erzähle ich auch noch in diesem Kapitel, aber zuvörderst schiebe ich hier ein anderes kleines Vorkommniß ein, bei dem kein Engel zu helfen brauchte.

[261] Schwimmen konnte ich nicht recht und steuern und rudern auch nicht; zu den Dingen aber, auf die ich mich gut, ja sehr gut verstand, gehörte das Stelzenlaufen. Unserer Familientradition nach stammen wir, wie erzählt, aus der Gegend von Montpellier, während ich persönlich, meinem virtuosen Stelzenlaufen nach, eigentlich aus den Landes stammen müßte, wo die Menschen wie mit ihren Stelzen verwachsen sind und diese kaum abschnallen, wenn sie sich zur Ruhe legen. Also kurz und gut, ich war ein brillanter Stelzenläufer und hatte vor denen in der westlichen Garonne-Gegend, wo die sehr niedrigen „échasses“ zu Hause sind, noch das voraus, daß ich den Kothurn nicht hoch genug kriegen konnte, denn die an der Innenseite meiner Stelzen befestigten Holzklötzchen saßen wohl drei Fuß hoch. Und nun unter Anlauf und gleichzeitiger Schräglegung und Einstemmung der beiden Stangen, brachte ich es dahin, mich, mit Sicherheit auf die Stelzenklötze hinaufschwingen und sofort meinen Riesenschritt antreten zu können. Für gewöhnlich war das nichts als eine brodlose Kunst, aber ein paar Mal hatte ich doch Vortheil davon, indem ich mich, mit Hülfe meiner Stelzen, einem sich über mir zusammenziehenden Gewitter entziehen konnte. Das war in den Tagen, als Hauptmann [262] Ferber, der bis dahin bei den „Neufchatellern“ gestanden, sich als Pensionär nach Swinemünde zurückgezogen hatte.

Ferber, den die Swinemünder um seiner Neufchatellerschaft willen französirten und Teinturier nannten, war aus sehr guter Familie, wenn ich nicht irre Sohn eines hohen Beamten im Finanzministerium, welcher letztre sich außerdem noch, aus den anno 13er Kriegszeiten her, alter Beziehungen zum Hofe rühmen durfte. Dies war auch wohl Grund, daß dem Sohne, trotz Nicht-Adels und deutscher Abstammung (die Neufchateller Offiziere waren damals noch vorwiegend französische Schweizer) der Eintritt in das Elite-Bataillon ermöglicht wurde. Hier war er wohl gelitten, weil er klug, guter Kamerad und außerdem sogar Schriftsteller war. Er schrieb Novellen nach damals üblichen Mustern. Aber aller Wohlgelittenheit zum Trotz, konnte er sich nicht halten, weil seine Vorliebe für Kaffee mit Cognac, die sich bald auf letzteren beschränkte, so rapide wuchs, daß er den Abschied nehmen mußte. Seine Uebersiedlung nach Swinemünde hatte wohl darin ihren Grund, daß Seestädte für derartige Passionen besser passen als Binnenstädte. Cognacvorliebe fällt da weniger auf.

Gleichviel indessen was der Grund sein mochte, [263] Ferber war an seinem neuen Wohnort bald ebenso beliebt, wie vorher in Berlin, denn er hatte jene Charaktergütigkeit, die „der Flasche liebstes Kind“ ist. Von meinem Papa hielt er sehr viel, was dieser erwiederte. Doch war diese Freundschaft nicht gleich von Anfang an da, sondern entwickelte sich erst aus einer kleinen Controverse bez. Niederlage meines Vaters, zu dessen liebenswürdigen Eigenthümlichkeiten es gehörte, seinen Aerger über eine „Deroute“ spätestens nach 24 Stunden in Anerkennung und beinahe Huldigung umzusetzen. Mit dieser Niederlage aber verhielt es sich so. Von Seiten Ferbers war eines Tages behauptet worden, daß man wohl oder übel, einen Deutschen als den „Vater der französischen Revolution“ ansehen müsse, denn Minister Necker, wenn auch in Genf geboren, sei der Sohn oder Enkel eines Küstriner Postmeisters gewesen, – eine, so schien es meinem Vater, ganz stupende Behauptung, die denn auch seinerseits mit beinahe überheblicher Miene bekämpft worden war, bis sie sich schließlich als im Wesentlichen richtig herausstellte. Da schlug denn sofort bei meinem Papa das aus seiner Ueberzeugung von seinem besseren Wissen erwachsene Selbstgefühl zunächst in Respekt, dann in Freundschaft um, und noch 20 Jahre später, wenn wir, von unserem Oderbruch-Dorfe aus, [264] nach dem benachbarten Küstrin hineinfuhren, sagte er regelmäßig, ohne je bei Kronprinz Fritz oder Katte’s Enthauptung zu verweilen: „ja, hier aus Küstrin stammte auch Necker, den man „den Vater der französischen Revolution nennen kann.“ Das verdanke ich Ferber, Hauptmann Ferber, den wir Teinturier nannten. Schade, daß er von dem Aquavit nicht lassen konnte. Mitunter war es ein Jammer.“

Ja, ein Jammer war es, nur nicht für uns Kinder, die wir, umgekehrt, immer in einen Jubel ausbrachen, wenn der Hauptmann, in oft ziemlich desolatem Kostüm, die große Kirchenstraße heraufgetaumelt kam, um irgendwo seine Frühstücksstunde fortzusetzen. Wir folgten ihm dann in kurzer Entfernung und neckten und reizten ihn so lange, bis er den einen oder andern von uns zu fangen und abzustrafen suchte. Mitunter gelang es ihm auch; ich aber entkam ihm jedesmal mit Leichtigkeit, weil ich für meine Neckereien immer nur solche Tage wählte, wo es kurz vorher stark geregnet hatte. Dann stand auf dem Straßendamme, zwischen unserm Haus und der Kirche drüben, ein ungeheurer Wasserpfuhl, der nun mein Nothhafen wurde. Meine Stelzen schräg unterm Arm, sprang ich auf diese, sobald ich merkte, daß mir Teinturier, trotz seines Zustandes dicht auf den Fersen war, mit einem raschen Rucke hinauf [265] und marschirte nun triumphirend in den Wasserpfuhl hinein. Da stand ich dann wie ein Storch auf einem Stelzen und präsentirte mit dem andern unter fortgesetzter Verhöhnung. Fluchend und drohend zog er weiter, der arme Hauptmann. Aber er hütete sich, seine Drohung wahrzumachen, weil er sich, in seinen guten Stunden, nicht gern an die schlimmen erinnern mochte.


* * *


Wir hatten verschiedene Spielplätze. Der uns liebste war aber wohl der am Bollwerk und zwar gerade da, wo die mehrerwähnte von unserm Hause abzweigende Seitenstraße einmündete. Die ganze Stelle war sehr malerisch, besonders auch im Winter, wo hier die festgelegten und ihrer Obermasten entkleideten Schiffe lagen, oft drei hintereinander, also bis ziemlich weit in den Strom hinein. Uns hier am Bollwerk herumzutummeln und auf den ausgespannten Tauen, so weit sie dicht über dem Erdboden hinliefen, unsere Seiltänzerkünste zu üben, war uns gestattet und nur Eines stand unter Verbot: wir durften nicht auf die Schiffe gehn und am wenigsten die Strickleiter hinauf bis in den Mastkorb klettern. Ein sehr vernünftiges Verbot. Aber je vernünftiger es war, desto größer war unser Verlangen, es zu [266] übertreten und bei „Räuber und Wandersmann“, das wir alle sehr liebten, verstand sich diese Uebertretung beinahe von selbst. Entdeckung lag überdies außerhalb der Wahrscheinlichkeit; die Eltern waren entweder bei ihrer „Parthie“ oder zu Tisch geladen. „Also nur vorwärts. Und petzt einer, so kommt er noch schlimmer weg als wir.“

So dachten wir auch eines Sonntags im April 31. Es muß um diese Jahreszeit gewesen sein, weil mir noch der klare und kalte Luftton deutlich vor Augen steht. Auf dem Schiffe war keine Spur von Leben und am Bollwerk keine Menschenseele zu sehn, was mir des Ferneren beweist, daß es ein Sonntag war.

Ich, als der älteste und stärkste, war natürlich Räuber und acht oder zehn kleinere Jungens – unter denen nur ein einziger, ein Illegitimer, der, wie zu Begleichung seiner Geburt, Fritz Ehrlich hieß, es einigermaßen mit mir aufnehmen konnte – waren schon vom Kirchplatz her, wo wie gewöhnlich die Jagd begonnen hatte, dicht hinter mir her. Ziemlich abgejagt kam ich am Bollwerk an und weil es hier keinen anderen Ausweg für mich gab, lief ich, über eine breite und feste Bohlenlage fort, auf das zunächst liegende Schiff hinauf. Die ganze Meute mir nach, was natürlich zur Folge hatte, daß ich vom ersten [267] Schiff alsbald auf’s zweite und vom zweiten auf’s dritte mußte. Da ging es nun nicht weiter und wenn ich mich meiner Feinde trotzdem erwehren wollte, so blieb mir nichts anderes übrig, als auf dem Schiffe selbst nach einem Versteck oder wenigstens nach einer schwer zugänglichen Stelle zu suchen. Und ich fand auch so was und kletterte auf den etwa mannshohen, neben der Kajüte befindlichen Oberbau hinauf, darin sich, neben andren Räumlichkeiten, gemeinhin auch die Schiffsküche zu befinden pflegte. Etliche, in die steile Wandung eingelegte Stufen erleichterten es mir. Und da stand ich nun oben, momentan geborgen und sah als Sieger auf meine Verfolger. Aber das Siegesgefühl konnte nicht lange dauern; die Stufen waren wie für mich so auch für andre da und in kürzester Frist stand Fritz Ehrlich ebenfalls oben. Ich war verloren, wenn ich nicht auch jetzt noch einen Ausweg fand und mit aller Kraft und so weit der schmale Raum es zuließ einen Anlauf nehmend, sprang ich, von dem Küchenbau her, über die zwischenliegende Wasserspalte hinweg auf das zweite Schiff zurück und jagte nun wie von allen Furien verfolgt, wieder auf’s Ufer zu. Und nun hatt ich’s und den Frei-Platz vor unsrem Hause zu gewinnen, war nur noch ein Kleines für mich. Aber ich sollte meiner Freude darüber nicht lange froh [268] werden, denn im selben Augenblicke fast wo ich wieder festen Boden unter meinen Füßen hatte, hörte ich auch schon von dem dritten und zweiten Schiff her ein jämmerliches Schreien und dazwischen meinen Namen, so daß ich wohl merkte, da müsse was passirt sein. Und so schnell wie ich eben über die polternde Bohlenlage an’s Ufer gekommen, eben so schnell ging es auch wieder über dieselbe zurück. Es war höchste Zeit. Fritz Ehrlich hatte mir den Sprung von der Küche her nachmachen wollen und war dabei, weil er zu kurz sprang, in die zwischen dem dritten und zweiten Schiff befindliche Wasserspalte gefallen. Da steckte nun der arme Junge, mit seinen Nägeln in die Schiffsritzen hineingreifend; denn an schwimmen, wenn er überhaupt schwimmen konnte, war nicht zu denken. Dazu das eiskalte Wasser. Ihn von obenher so ohne Weiteres abzureichen, war unmöglich und so griff ich denn nach einem von der einen Strickleiter etwas herabhängenden Tau und ließ mich, meinen Körper durch allerlei Künste nach Möglichkeit verlängernd, an der Schiffswand so weit herab, daß Fritz Ehrlich meinen am weitesten nach unten reichenden linken Fuß gerade noch fassen konnte. Oben hielt ich mich mit der rechten Hand. „Pack zu, Fritz.“ Aber der brave Junge, der wohl einsehen mochte, daß wir beide verloren waren, wenn er wirklich [269] fest zupackte, beschränkte sich darauf seine Hand leise auf meine Stiefelspitze zu legen und so wenig dies war, so war es doch gerade genug für ihn, sich über Wasser zu halten. Vielleicht war er auch, aus natürlicher Beanlagung, ein sogenannter „Wassertreter“ oder hatte, was schließlich noch wahrscheinlicher, das bekannte Glück der Illegitimen. Gleichviel, er blieb in der Schwebe, bis Leute vom Ufer her herankamen und ihm einen Bootshaken herunterreichten, während andre ein an „Hannemanns Klapp“ liegendes Boot losmachten und in den Zwischenraum hineinfuhren, um ihn da herauszufischen. Ich meinerseits war in dem Augenblick, wo der rettende Bootshaken kam, von einem mir Unbekannten, von oben her, am Kragen gepackt und mit einem strammen Ruck wieder auf Deck gehoben worden. Von Vorwürfen, die sonst bei solchen Gelegenheiten nicht ausbleiben, war diesmal keine Rede. Den triefenden, von Schüttelfrost gepackten Fritz Ehrlich brachten die Leute nach einem ganz in der Nähe gelegenen Hause, während wir andern, in kleinlauter Stimmung, unsren Heimweg antraten. Ich freilich auch gehoben, trotzdem ich wenig Gutes von der Zukunft erwartete.

Meine Befürchtungen erfüllten sich aber nicht. Im Gegentheil.

Am andern Vormittag, als ich in die Schule [270] wollte, stand mein Vater schon im Hausflur und hielt mich fest, denn Nachbar Pietzker, der gute Zipfelmützenmann, hatte wieder geplaudert. Freilich mehr denn je in guter Absicht.

„Habe von der Geschichte gehört …“ sagte mein Vater. „Alle Wetter, daß Du nicht gehorchen kannst. Aber es soll hingehen, weil Du Dich gut benommen hast. Weiß alles. Pietzker drüben …“

Und damit war ich entlassen.

Wie gerne denk’ ich daran zurück, nicht um mich in meiner Heldenthat zu sonnen, sondern in Dank und Liebe zu meinem Vater. So muß Erziehung sein. Der liebenswürdige Mann, wenn er zum Strafen abkommandirt wurde, traf er’s nicht immer glücklich, wenn er aber seinem unmittelbaren Gefühle folgen konnte, traf er’s desto besser.




Kapitelübersicht: Meine Kinderjahre

· 1 – Meine Eltern · · 2 – Gascogne und Cevennen - Französische Vettern - Unsere Ruppiner Tage · · 3 – Unsere Übersiedelung nach Swinemünde - Ankunft daselbst · · 4 – Unser Haus, wie wir's vorfanden · · 5 – Unser Haus, wie's wurde · · 6 – Die Stadt, ihre Bewohner und ihre Honoratioren · · 7 – Die Schönebergs und die Scherenbergs · · 8 – Die Krauses · · 9 – Wie wir in unserem Hause lebten - Sommer- und Herbsttage - Schlacht- und Backfest · · 10 – Wie wir in unserem Hause lebten (Fortsetzung) - »Große Gesellschaft« · · 11 – Was wir in Haus und Stadt erlebten · · 12 – Was wir in der Welt erlebten · · 13 – Wie wir in die Schule gingen und lernten · · 14 – Wie wir erzogen wurden - Wie wir spielten in Haus und Hof · · 15 – Wie wir draußen spielten, an Strom und Strand · · 16 – Vierzig Jahre später ·  17 – Allerlei Gewölk · · 18 – Das letzte Halbjahr ·

HR Fontane
HR Fontane
Hauptseite: Meine Kinderjahre