Meines Fensters Weihnachtsgäste
[892] Meines Fensters Weihnachtsgäste. (Zu dem Bilde S. 869.) Der Winter ist hart, aber in ihm feiern wir das Fest der welterlösenden Liebe! Und der warmherzige Mensch lindert nicht nur nach Kräften das Los seiner Brüder, sondern er erbarmt sich auch der Thierwelt. Vor meinem Fenster ist täglich Freitisch für die benachbarte Vogelwelt. Meine Wohnung in der Vorstadt liegt nahe am Wald, der mir gar edle Gäste sendet. – Wir schreiben den 25. Dezember, da muß doch auch vor meinem Fenster Weihnachten werden! Ich habe mir als Freßgeschirre einige flache Holzkästchen machen lassen, diese bestellen wir jetzt mit ganz besonderen Leckerbissen. Mohn-, Kanarien- und Hanfsamen in das eine, Sonnenblumenkerne und Stückchen Fleisch in das zweite. Das dritte mit geriebenen gelben Rüben, Semmelbrosamen und reichlicher Ausbeute aus dem „Mehlwurmtopfe“ stellen wir vorerst noch zurück.
Jetzt zwei Kästchen hinaus! Hui, wie das anschwirrt! Auserlesene Gesellschaft: „Schilp, schilp, schilp“ – kennst du sie, die Gassenjungen der Vogelwelt? „Rärärärä“, da sind sie, meine Zeisige, die kecken, lustigen Thierchen! – Ein paar ritterliche Herren kommen jetzt angeschossen; es sind Edelfinken, und ihr heller Lockruf weckt Frühlingsahnung in unserer Brust, trotz der winterlichen Landschaft. Der Ruf hat aber jetzt auch das Dompfaffenpaar angezogen, das ja täglich mein Fenster besucht. Diese stattlichen Vögel sitzen im vielgeliebten Hanfsamen und knacken gravitätisch Korn für Korn. Nun entschließen sich auch Stieglitze, heranzukommen, dem Mohn- und Hanfsamen können sie doch nicht widerstehen. Auch das ewig fröhliche Volk der Meisen ist nun da, und darum rasch hinaus mit Kasten Nr. 3! – Brrr! Wie das auffliegt, zankend und schimpfend über die Störung! Der ganze Zaun ist voll Vögel und immer noch kommt Zuzug. Ist das nicht auch ein Christfest?
Allgemeiner Aufruhr da draußen und ein ganz neues Bild! – Das kleine Volk, schon ziemlich gesättigt, ist verscheucht, und drei Amseln, deren tiefer, sanftflötender Gesang schon an sonnigen Februartagen unser Ohr erfreut, beherrschen das ganze Fensterbrett. Nun gesellt sich auch noch eine Drossel dazu, und höchst überflüssiger Weise kommen auch noch Tauben! Die könnten sich eigentlich von ihren Herren Besitzern füttern lassen!
Noch gar viele Gäste besuchen meinen Weihnachtstisch heute, aber mein Liebling fehlt mir schon seit gestern: ein Rothkehlchen! Einsam und traurig kam es täglich an mein Fenster und that so zahm und so vertraulich, und doch wagte es sich nicht in die Stube, wo ich es so gerne versorgt hätte. Was mag das Thierchen wohl abgehalten haben, mit den Seinigen zu ziehen, die jetzt fern im Süden weilen? War es Krankheit, war es zu später Kindersegen? Ach vielleicht, während gestern in warmer Stube der Weihnachtsbaum brannte, sank draußen im Wald der melancholische liebliche Sänger erstarrt zu Boden und leise, leise fällt der weiße Schnee auf sein blutrothes Brüstchen und deckt es langsam zu.