Memoiren einer Sozialistin/Einundzwanzigstes Kapitel
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Ein heißer Sommertag. Auf den Wiesen Grainaus brannte die Sonne. In üppiger Farbenpracht glänzten die bunten Blumen, ein sprühender Perlenregen war der Bach. Die Zugspitze spiegelte ihre leuchtenden Schneefelder im Rosensee. Schwül duftete um das Haus der Jasmin.
Ich lag in Decken gehüllt auf der Altane, – ich sah das alles, und doch sah ichs nicht. Tante Klotilde ging ab und zu. Sie war in Berlin eines Tages in mein Zimmer getreten, hatte mich tränenüberströmt in die Arme geschlossen und immer wieder die zwei Worte wiederholt: verzeih mir! Ich hatte ihr versprechen müssen, im Sommer zu ihr zu kommen.
Und nun war ich hier, – zu einer letzten, stillen Rast. Ich wußte, was ich zu tun hatte, wenn ich ihm, der unter grünem Epheu und roten Rosen lag, treu sein wollte. Mein Entschluß war gefaßt. In meinem Schreibtisch lag mein Abschiedswort an die Leser der Zeitschrift, die wir miteinander geleitet hatten, – und der Brief an meine Eltern, von dem ich wußte, daß er sie schmerzen würde, wie nichts vorher. „Sie werden es überwinden –“ dachte ich in meinen schlaflosen [653] Nächten, – „ich werde ihnen von da an eine Gestorbene sein!“
All das war mir nicht einmal schwer geworden, solange ich zu Hause in meinen einsamen Räumen war. Losgelöst fühlte ich mich schon von aller Vergangenheit: Zu den Eltern zurückkehren sollte ich, hatten Vater und Mutter in sorgender Liebe gemeint, – so wenig wußten sie von mir! Großmamas Heim im Schloß von Pirgallen hatte mir Onkel Walter als Ruhesitz angeboten, – so wenig ahnten sie, daß ich nicht ruhen durfte!
Nur Martha Bartels hatte mich verstehen gelernt, während sie mir in den schwersten Tagen der ersten Einsamkeit viele Arbeitsstunden opferte.
„Sie werden uns eine liebe Genossin sein –“ hatte sie gesagt.
Eine Genossin! – Keines Menschen Geliebte, keines Kindes Mutter, – eine Gefährtin nur der Elenden und der Verfolgten. Es war fast ein Gefühl von Freude gewesen, mit dem ich Abschied genommen hatte.
Und nun wurde es mir auf einmal so bitter schwer!
O du Sommertag über den Bergen, wie wunderschön bist du!
Es liegt in der Luft wie eine große Sehnsucht, – und jubelnde Erfüllung zwitschern die Vögel und duften die Blumen. In den Sonnenstrahlen glüht jedes Blatt wie Gold, blutrot färben sich zur Abendstunde die grauen Felsen. Und ein ganzer, großer Korb blühender Alpenrosen steht vor mir. – Ich will die Augen schließen, will das prangende Leben nicht sehen, – aber dann schleicht auf unhörbar linden Sohlen die Erinnerung in meine Träume … Hier begegnete mir vor Zeiten das Glück …
[654] In der Morgenfrühe gleitet mein Kahn über den Badersee. Tief, tief bis zum Grund kann ich sehen, wo um samaragdne Moose glitzernd die Forellen streichen und versteinerte Baumriesen schlafen. Langsam schlepp ich meine müden Füße heimwärts durch den Wald, wo die Orchideen blühen.
Drüben beim Bärenbauern herrscht jetzt der Sepp als Hausherr. Sein junges blondes Weib trägt den ersten Buben an der Brust. Verlegen, die Mütze zwischen den Händen drehend, hatte er die alte Spielgefährtin begrüßt. Sie wußten im Dorf von mir: daß ich die „heilige Kirche“ bekämpfte und es mit den Freidenkern hielt! Warum schmerzt mich das alles so sehr? Was konnten die Wenigen mir sein, da ich den Vielen gehörte?
Übermorgen muß ich fort,“ sagte ich entschlossen zu meiner Tante, – „du weißt, die Arbeit wartet nicht, und ich bedarf ihrer –“
„Bleib noch, mein Kind, bleib noch, – du bist noch so schwach –“ bat sie.
„Ich werde dir morgen beweisen, daß ich stark bin –“ lächelte ich …
Es läutete gerade zur Frühmesse, als ich aus dem Gartentor trat. Einen Atemzug lang stand ich still, die Hände auf dem pochenden Herzen. Mir war, als hätte ich drüben, zwischen den Bäumen einen Menschen gesehen, – eine Erscheinung aus ferner, ferner Vergangenheit.
[655] Dann ging ich festen Schrittes weiter und warf ohne Besinnen meine Briefe in den blauen Kasten an der Post. Hörte ich nicht einen Schritt? – Es war wohl nur das Klopfen und Rauschen meines eigenen Blutes in den Ohren.
Auf den Stock gestützt, schritt ich langsam bergauf. Wie doch die Bäume gewachsen waren auf der Schonung! Früher reiften hier in der Sonne die süßesten roten Beeren. Und weiter droben war ein neuer Schlag, – kleinwinzige Tannenpflänzchen guckten schon neugierig zwischen Grasbüscheln und alten Wurzeln hervor.
Über die Steinhalde lief ich sonst, – heute wurde mir das Atmen recht schwer!
Nun gings durch den Wald über Sturzbäche, höher und höher, bis der Weg nur als schmales Band an der schroffen Felsenwand des Waxensteins entlang führt. Tief unten braust und schäumt der Höllentalbach.
O, ich kenne noch keinen Schwindel, – findet meine Sohle nur einen Fuß breit Erde, so stehe ich sicher!
Wie frei weht die Luft hier oben, – wie leicht läßt es sich atmen! Über himmelhohem Abgrund schwingt sich die eiserne Brücke von Berg zu Berg, und jenseits führen Leitern wieder empor. Auf weichem Moos unter einer Tanne, die ihre Wurzeln keck um einen Felsvorsprung klammert, halte ich Rast. Im Halbkreis schieben sich hier die Berge aneinander, ein Zirkus, von Riesen gebaut, bestimmt für die Spiele unsterblicher Götter.
Da hör’ ich Schritte, – Nagelschuhe auf Felsstufen, – ein Wilddieb vielleicht, oder ein Bergführer, der über die Knappenhäuser zur Hochalm will. Ich stehe auf – die Hand fest um den Stock –, hier gibt [656] es kein Ausweichen. Und schon sehe ich ihn vor mir, den einsamen Wanderer, die Spielhahnfeder am grünen Hut, ein gebräuntes Antlitz darunter, mit Augen – –! Ein Zittern durchläuft meinen Körper –
„Warum erschrickst du vor mir, Alix, – ich bin ja nur ein Gespenst unserer Jugend –“
Ich raffe mich zusammen und seh ihm gerad’ ins Gesicht. Wie hart sind die weichen Züge geworden, denke ich. Das Blut strömt mir wieder zum Herzen.
„Laß mich vorüber, – ich glaube nicht an Gespenster,“ sag’ ich, den Ton meiner Stimme zur Kälte zwingend.
„Du gingst denselben Weg, wie ich: hinauf!“ gibt er leise zurück und rührt sich nicht von der Stelle.
„Denselben Weg?! Nein, – unsere Wege sind längst auseinandergegangen, – und daß der deine emporführt, – daran erlaubst du mir wohl, zu zweifeln!“ antworte ich höhnisch, – meine eigenen Worte stechen mich wie lauter Nadeln.
„Ich suchte dich, Alix, – seit Wochen, – kein Zufall ists, daß ich hier bin –;“ aus seinen Augen dringt ein blaues Blitzen –
„Du – mich?!“ Ich lache, daß es vom Felsen wiederklingt, – aber in meinem Herzen weint es.
„Ich liebe dich,“ flüstert er – „ich habe geglaubt, ich könnte dich vergessen, – aber meine Sehnsucht bliebst du, – mein ganzes Leben war ein einziges Warten auf dich. Endlich hab’ ich dich gefunden! Alix, mein Lieb, – verlaß mich nicht wieder!“ Und flehend, wie ein Hungernder, streckt er die geöffneten Hände mir entgegen.
„An eine Nacht denke ich, Hellmut, in der ich vor [657] dir stand und dir schenken wollte, was du heut’ begehrst; – jetzt hab’ ich nichts mehr, bin bettelarm! – Ich liebe nur noch die Erinnerung, – nicht dich; – du bist ein fremder Mann für mich, – an dem ich vorüber muß –“
In meinem Herzen zuckt es, wie ein verborgenes Leben, das mit dem Tode ringt –
„Ich will um dich werben, Alix, – demütig – geduldig, – an meiner Liebe wirst du Kalte wieder warm werden –“
Ich schüttle den Kopf. „Nein!“ sagt eine harte Stimme. War das die meine?!
Er richtet sich auf, sein Blick erstarrt, – er tritt zurück, und ohne aufzusehen, schreite ich an ihm vorbei, – sehr langsam, schwer atmend, auf den Stock gestützt.
Hoch oben, wo auf grüner Halde um die Ruinen der Knappenhäuser in dichten Büschen dunkelblaue Vergißmeinnicht blühen, sehe ich noch einmal hinab: auf dem Wege zu Tal steht eine graue Gestalt, vom Dunst der Tiefe halb verwischt: meine Jugend.
Und der steile Steg, den ich gehen will, wohin führt er?
Papier von Bohnenberger & Cie., Papierfabrik Niefern bei Pforzheim
Einbände von E. A. Enders, Großbuchbinderei, Leipzig« Zwanzigstes Kapitel | Memoiren einer Sozialistin | [[Memoiren einer Sozialistin/|]] » | |||
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