Nach fünfzig Jahren
„Fünfzig Jahre heute! … Der Maitag begann damals so sommerlich warm wie heute … und welche entsetzliche, welche grausige Nacht folgte ihm!“
So sprach am ersten Sonntags-Maimorgen des Jahres 1863 ein Mann in grünem Jagdrocke halblaut vor sich hin. Schneeweiß war sein kurzgestutzter Schnurrbart, und schneeweiß quoll ihm das Haupthaar unter der grünen Mütze hervor. Die tiefen Furchen, welche über seine Stirn und über seine gebräunten Wangen liefen, waren – das erkannte ein geübtes Auge sofort – nicht blos Spuren der Jahre, die über ihm hingegangen, sondern mehr noch Eindrücke der Sorgen und Leiden, die ihn heimgesucht zu haben schienen.
Er saß allein auf einer Bank im Morgensonnenscheine vor einem Forst- und Jagdhause, das, keine tausend Schritte von den letzten Häusern eines in Obstbäumen versteckten Dorfes entfernt, dicht am östlichen Ende eines Waldes stand, der im freundlichen Elsterthale nach Norden, Westen und Süden weithin sich erstreckte, während vor demselben, nach Osten, das kleine Dorf nach einer großen Fläche fruchtbarer Felder hin an einem niedrigen Hange hinanstieg.
Als er die oben angeführten Worte gesprochen hatte, saß der Mann lange schweigend mit tiefgesenktem Haupte da, bis im nahen Dorfe die Kirchenglocken erklangen, um zu dem Frühgottesdienste zu rufen. Alle, die jemals an einem stillen Frühlingsmorgen im Freien Glockentöne vernommen, haben gewiß selbst empfunden, mit welch eigenthümlicher geheimnißvoller Macht sie das Menschenherz ergreifen. Auch auf den alten Förster übten die Morgenglockenklänge ihre tiefe Wirkung. Er nahm langsam die kurze Tabakspfeife aus dem Munde, dann ebenso langsam die grüne Mütze von dem weißen Haupte und faltete die Hände, während tiefandächtige Rührung in seinen Zügen sich ausprägte.
„Die Glocken rufen zur Kirche,“ sagte er leise. „Mich erinnert ihre Stimme immerdar, heute ergreifender als jemals, an den Dank, den ich dem lieben Gott vor fünfzig Jahren schuldig geworden bin.“
Er blickte aufwärts zum Himmel und fuhr dann fort:
„Herr, mein Gott, ich danke Dir. Ein halbes Jahrhundert hast Du mich schützend behütet. Sie ließest Du Ruhe und Frieden finden im Grabe, und die Erde hat das Geheimniß, das furchtbare, getreulich bewahrt.“
Er schwieg von Neuem, und als die Glockentöne verhallt waren, setzte er die Mütze wieder auf.
Alles war still, feierlich still um ihn her. Der alte Jagdhund, der zu den Füßen seines alten Herrn lag, schlief. Hinter dem Hause nur, in dem dicht angrenzenden Walde, ließ ein Vogel seinen schmelzenden Gesang erschallen.
Der Alte zündete seine Pfeife wieder an.
Eine Viertelstunde war vergangen; da kam ein anderer Mann, mit der Büchse auf der Schulter, um die Ecke des Hauses vom Walde her und sagte, sobald er den Alten bemerkte:
„Wir haben doch viel Windfall, Vater. Der Gewittersturm gestern hat ärger gehauset, als wir dachten. Auch unsere einzige Tanne drüben hat er entwurzelt.“
„Die Tanne?“ fragte der alte Förster seltsam bewegt. „Die Tanne?!“ wiederholte er, während er aufstand. „Die Tanne?“ fragte er zum dritten Male und zwar in einem Tone, der nicht blos Bedauern über den Fall des Baumes, sondern eine gewisse Aengstlichkeit zu verrathen schien.
Er nahm auch die Pfeife wieder aus dem Munde und steckte sie in die Tasche, was er immer that, wenn ihn irgend etwas ungewöhnlich ergriff.
Der Sohn sah verwundert und fragend den Vater an.
„Vor fünfzig Jahren, heute vor fünfzig Jahren,“ fuhr der Alte fort, „habe ich die Tanne, damals nur ein Stämmchen, eigenhändig gepflanzt, in schwerer Zeit, in der Nacht, in der entsetzlichsten Nacht meines Lebens.“
„Davon hast Du noch nie gesprochen,“ antwortete der Sohn.
„Um keinen Preis hätte ich jemals davon sprechen mögen. Ich vermied sogar, so viel wie möglich, selbst die Nähe des Baumes und seinen Anblick, weil er mich an Furchtbares erinnerte. Jetzt muß ich zu ihm gehen.“
Der Sohn trat in’s Haus, der Alte aber wendete sich zum Gehen. Sobald er einen Schritt gethan hatte, stand auch der alte Jagdhund auf, schüttelte und dehnte sich und schickte sich an, seinen Herrn zu begleiten. Ehe beide um die Ecke des Hauses, nach dem Walde zu, gekommen waren, sprangen zwei Kinder, ein Knabe und ein jüngeres Mädchen, aus der Thür und eilten dem Alten nach.
„Großvater!“ rief der Knabe. „Laß’ uns mitgehen in den Wald!“
Der Alte antwortete nicht, aber die Kinder liefen voraus. Als sie eine kleine Strecke weit in den Wald hineingegangen waren, rief der Knabe, der weit voraus war, zurück:
„Die Tanne steht nicht mehr.“
Der Alte antwortete nicht, aber er beschleunigte unwillkürlich seine Schritte.
[736] „Sie ist umgestürzt,“ fuhr der Knabe fort. „Ich sehe sie liegen. Sie streckt die Wurzeln empor.“
Bald gelangten sie an die Stelle, wo der stolze Baum gestanden, der in seinem Falle mehrere Büsche und kleine Bäume beschädigt, zum Theil schlimm zerschlagen hatte, wie unter den Menschen ein Großer, Hochgestellter bei seinem Sturze meist mehrere Kleine in seiner Nähe mit in das Verderben reißt. Der Boden, in welchem die Wurzeln der Tanne breit und tief sich erstreckt hatten, war aufgerissen, so daß sich eine Art seichter Grube gebildet hatte.
Der alte Förster trat bewegt an den Rand dieser Grube, die wie ein hastig aufgerissenes Grab aussah, und blickte mit leichtem Schauer hinein. Die Kinder sprangen in die Grube, traten an den gefallenen Baum, kletterten auf den glatten Stamm und zerrten an den umherstarrenden Wurzeln. Der Alte blickte noch immer schweigend in die Grube, als sehe er etwas darin.
„Großvater!“ rief plötzlich der Knabe, der von Neuem in die Grube gesprungen war und sich in derselben gebückt und etwas aufgehoben hatte. „Großvater, ein Degen!“
Der Alte zuckte zusammen.
„Ein Degen?“ antwortete er. „Ein Stück alten Eisens wird es sein. Greife es nicht an, Junge! Laß es liegen! Es ist eine schwere Sünde aus einem Grabe etwas zu nehmen, und die Grube da ist das Grab der Tanne.“
„Es sieht doch aus wie ein Degen,“ entgegnete der Knabe, indem er scheu das Eisenstück fallen ließ, das er in der Hand hielt. – Das Mädchen hatte unterdeß still an den Wurzeln des gefallenen Baumes gespielt und sich damit beschäftigt, mit den kleinen Fingern die Erde zu entfernen, die hier und da noch an denselben hing.
„Sieh, Großvater, was ich habe!“ rief sie nach einiger Zeit, indem sie auf etwas an einer Wurzel wies.
Der Alte war ganz mit seinen Gedanken beschäftigt und achtete nicht auf die Worte des Kindes, der Knabe aber trat alsbald neugierig zu der kleinen Schwester, um zu sehen, was sie dem Großvater zeigen wollte. Beide beschäftigten sich dann eine Zeitlang eifrig mit dem Gegenstande, der ihre Aufmerksamkeit fesselte. Der Knabe nahm sogar ein kleines Messer, das er in der Tasche trug, zu Hülfe. Er schabte und kratzte mit demselben an einer Stelle der Wurzel, die das Mädchen zuerst bezeichnet hatte. Nach einiger Zeit rief er in freudiger Verwunderung:
„Ein Ring! Großvater, komm her! An der Wurzel da hängt ein Ring, ein Ring mit einem Steine, wie ihn der Herr am Finger hat.“
Der Alte trat raschen Schrittes zu den Kindern, um das Wunder selbst zu betrachten.
„Nun ja,“ sagte er, „es sieht beinahe aus wie ein Ring, es ist aber keiner. Wie sollte ein Ring an die Wurzel da kommen?“
„Es ist ein Ring, Großvater,“ entgegnete der Knabe überzeugt, „ein goldener. Er glänzt da, wo ich ihn mit dem Messer geritzt habe.“
„Zu Hause wollen wir das Ding genauer untersuchen,“ entgegnete der Alte, der hastig ein starkes Einschlagemesser aus der Tasche nahm und anfing, die Wurzel, an welcher sich der Ring befinden sollte, zu durchschneiden. Eben als er die fingerdicke Wurzel über und unter dem angeblichen Ringe durchschnitten hatte, erklangen im Dorfe zum zweiten Male die Glockentöne.
„Kommt, Kinder!“ sprach alsbald der Förster, vielleicht nur um die Aufmerksamkeit der Kleinen von ihrem Funde abzulenken; „heute darf Niemand von uns in der Kirche fehlen.“
Als sie Alle nach Hause zurückgekommen waren, schloß der Alte das Gefundene geheimnißvoll in ein Wandschränkchen, und als die Kinder ihrem Vater von dem Ringe erzählen wollten, den sie gefunden, fiel der Alte erklärend ein:
„Es ist nichts, nur eine wunderlich gestaltete Wurzel, wie man sie ja gar oft findet.“
Und er trieb die Kinder an, sich zum Kirchgange bereit zu machen.
Sie gingen auch bald, aber kaum hatten sie sich aus dem Hause entfernt, so verließ der Alte in seiner Unruhe das Zimmer ebenfalls wieder. Er nahm Spaten und Schaufel und kehrte, ohne Jemandem zu sagen, was er beginnen wollte, zu der gefallenen Tanne zurück. Er ging mit ungewöhnlich raschen Schritten und sprach dabei leise vor sich hin:
„Es ist ein Degenstück, was der Junge sah, und es ist ein Ring, was das Mädchen fand. Wunderbar! Selbst das, was der Mensch tief in der Erde birgt, kommt einmal zu Tage. Die Wurzeln der Bäume sogar läßt Gott zu Händen werden, damit sie aus dem Schooße der Erde Verborgenes hervor an das Tageslicht fördern.“
Er ging eine kurze Zeitlang schweigend weiter, dann fuhr er in seinem Selbstgespräche fort:
„Ein Ring ist es. …. Vielleicht sein Ring. … Wie ist er an die Wurzel gekommen? … Ich kann die Grube nicht so offen liegen lassen. … Fremde könnten daher kommen … fremde Augen könnten darin noch Anderes finden.“
Er beschleunigte unwillkürlich seine Schritte noch mehr und sobald er die Stätte erreicht hatte, wo der gefallene Baum lag, begann er emsig und eifrig die Grube auszufüllen und zu ebnen. Er grub und schaufelte so hastig, daß ihm der Schweiß von der Stirn rann.
Als er in ängstlicher Aufregung die Arbeit beendet hatte, setzte er sich matt und ermüdet auf den Baumstamm und senkte das weiße Haupt. „Warum die Angst noch immer?“ sprach er vor sich hin. „Es war ja nur ein Unglück, ein unseliges. Wir Alle sind Schuldner; auch sie. Es war nur seine Schuld. … Aber wie ist der Ring an die Wurzel gekommen?“
„Er sann und grübelte, um das Räthsel sich selbst zu erklären. Nach einiger Zeit endlich murmelte er:
„Ja, ja! Nur so kann es gekommen sein. … Der Finger, an dem sich der Ring befand, zerfiel in Staub und der Ring lag dann frei in der Erde. Die Tanne, die ich an der Stelle gepflanzt, trieb ihre Wurzeln tiefer und tiefer in den Boden; eine Faser kam alsdann zufällig in die runde Höhlung des Ringes. Die anfangs dünne Faser wuchs und wuchs, wurde langsam stärker und dicker und endlich so dick, daß sie den Ring ganz ausfüllte und der selber zuletzt ganz fest in ihr saß. Als dann der Sturm kam und den Baum fällte, riß er im Falle die Wurzeln mit heraus, auch jene, welche den Ring an sich trug. … Eine Fügung Gottes war es, daß das Kind im Spiele die verrätherische Wurzel fand. Ja, wunderbar sind Gottes Wege.“
Wieder saß er eine Zeitlang schweigend da und in den Zügen seines Gesichtes konnte man deutlich erkennen, welch schmerzlich-traurige Gedanken ihn beschäftigten. Erst als zum dritten Male Glockengeläute von dem Dorfkirchthurme her durch den stillen Morgen bis zu ihm in den Wald hinüberklang, stand er rasch auf, als würde er plötzlich geweckt. Ehe er sich aber von der Stelle entfernte, nahm er nochmals seine Mütze ab, faltete die Hände und betete still. Darauf überblickte er noch einmal musternd die Stätte, an welcher die Tanne gestanden und die er sorgsam geebnet hatte. Dann erst trat er, einigermaßen beruhigt, seinen Rückweg nach Hause an, um ebenfalls in die Kirche zu gehen, denn um keinen Preis würde er an diesem Tage den Gottesdienst versäumt haben. –
Nachmittags saßen Vater und Sohn im Zimmer beisammen.
„Vater, Du erwähntest heute früh,“ sagte der Sohn, „daß Du die Tanne, die vom Sturme niedergeworfen worden ist, in der schrecklichsten Nacht Deines Lebens gepflanzt hättest. Hängt es mit den traurigen Vorgängen vor fünfzig Jahres zusammen, von welchen der Pfarrer heute in der Kirche so ergreifend sprach? Warum hast Du mir niemals Mittheilungen darüber gemacht?“
„Oftmals,“ antwortete der Alte nach einem tiefen Seufzer, „habe ich mir vorgenommen, Dir Einiges und, wenn ich es vermöchte, alles hierauf Bezügliche zu erzählen, aber nie konnte ich es über mich gewinnen. Immer war es mir, als verschließe eine geheimnißvolle Macht mir den Mund. Jetzt endlich, da wir den fünfzigsten Jahrestag mit einem feierlichen Dankgottesdienste begangen haben, jetzt, da durch Gottes Schickung der Schleier von dem Geheimnisse wunderbar gehoben worden ist, will und kann ich nicht länger schweigen. Ich stehe ja auch am Rande des Grabes, und es ist mir nur noch kurze Frist gegeben; auch andere Gründe noch machen es mir zur Pflicht, Dir unsere Vergangenheit zu enthüllen, die Dir fast ganz unbekannt geblieben ist. Du wirst Dinge erfahren, von denen Du keine Ahnung hast. Merke also wohl auf! Freudiges ist es nicht, was ich Dir zu berichten habe.“
[737] „Du erschreckst mich, Vater,“ fiel der Sohn in höchster Spannung ein.
„Fürchte nichts!“ entgegnete der Vater ruhig; „Du wirst nichts hören, was unserer Familie zur Unehre gereichen könnte. – Bis jetzt ist Dir nur bekannt, daß wir nicht aus Deutschland stammen, ich aber besitze alte Papiere, die berichten, wie, wann und warum wir die Heimath – Frankreich – verließen, wie und warum wir gerade hierher kamen. Diese Papiere sind Dein Erbe und ich will Dir dasselbe noch bei meinen Lebzeiten übergeben, jetzt, da ich noch im Stande bin, Erläuterungen hinzuzufügen, wo sie vielleicht nöthig sind. Diese Papiere sind freilich in französischer Sprache geschrieben, aber Du wirst sie lesen können, weil ich ja immer zu verhindern bemüht gewesen bin, daß Du in Deinem deutschen Geburtslande Deine französische Muttersprache vergäßest. Erst nachdem Du alles gelesen hast, was sich auf die früheren Zeiten und Verhältnisse bezieht, alles das, was die Schreiberin bis fast vor ihrem Tode aufgezeichnet hat, werde ich – gefällt es Gott – die Erzählung aufnehmen, sie mündlich fortsetzen und sowohl von der Tanne wie von der furchtbaren Nacht sprechen, in welcher ich sie pflanzte.“
Der Förster holte nach diesen Worten aus einem Versteck ein zusammengeschnürtes Packet vergilbter Papiere und übergab dasselbe seinem Sohne, der alsbald eifrig zu lesen begann. Was er las, war Folgendes.
„Viele traurige Jahre habe ich im fremden Lande gelebt, unter Menschen, die wohl freundlich gegen mich waren, aber meine Sprache nicht verstanden und meinen Glauben nicht theilten. Ich werde fern von der Heimath sterben und mein Leib wird in fremder Erde ruhen; ich werde das so sehr geliebte Vaterland nimmer wieder sehen und nie mehr die erquickende Luft der Heimath athmen; ich fühle, daß mein trauriger Lebenslauf bald vollendet ist, aber bevor die Gedächtnißkraft mich verläßt und bevor meine Augen sich schließen, will ich eine letzte schmerzliche Pflicht erfüllen: ich will für die geliebten Meinigen, die ich hinterlasse, auf diesen Blättern verzeichnen, warum ich das Vaterland verließ, warum ich dasselbe verlassen mußte, was ich gethan, erfahren und gelitten habe. Möge mir die Kraft bleiben, bis ich mit der Schilderung meines Lebens zu Ende gekommen bin!
Ich war das einzige Kind meiner Eltern. Mein Vater, dessen Angesicht gesehen zu haben ich mich nicht erinnere, der letzte Sproß des alten Grafengeschlechtes Neuillac, hatte seine hohe Stellung in der Armee des Königs von Frankreich aufgegeben, sich in sein Schloß im Elsaß zurückgezogen und, schon ziemlich bejahrt, mit der Tochter des Marquis von Lanar sich vermählt, die ihm ein ansehnliches Vermögen zubrachte, aber starb, indem sie mir das Leben gab. Er selbst überlebte ihren Tod, der ihn tief betrübte, nicht lange, und so war ich sehr früh schon eine vater- und mutterlose Waise. Eine Tante, die Schwester meines Vaters, nahm sich meiner an, freilich nur, um mich, der Sitte der Zeit und des Landes gemäß, den frommen Schwestern vom ‚heiligen Herzen‘ ist Straßburg zur Erziehung zu übergeben.
Bei ihnen, hinter hohen Klostermauern, habe ich meine Jugend vertrauert. Mehr als einmal versuchte ich, freilich immer vergeblich, dem Zwang zu entfliehen und mir die Freiheit zu gewinnen. Ach, wie beneidete ich die Vögel, die frei und ungehindert über die Mauern des Klostergartens flogen! Mit welcher Sehnsucht schweiften meine Blicke hinaus in die blaue Ferne, wo, wie ich wähnte, die Freiheit und das Glück wohnten! Welche Traurigkeit empfand ich, wenn ich steif bei dem mich langweilenden Unterricht sitzen ober Stunden lang in der Kirche im Gebete verbringen mußte! Man hatte mich Gott nicht als den allmächtigen und allgütigen Vater lieben gelehrt; meinen kindischen Gedanken erschien er nur als ein Art König, der, wie man sagt, droben im Himmel regiere. Für viel größer, mächtiger und gütiger hielt ich den König von Frankreich, in welchem ich das höchste und gütigste Wesen in der Welt verehrte, denn alle Wohlthaten und die Erfüllung aller Wünsche, die mir bekannt wurden, kamen von ihm.
Mit schwärmerischer Liebe hing ich dagegen an der heiligen Jungfrau wie an einer schönen, gütigen, jungen Mutter, die mir ja immer gefehlt hatte. Ueber ihrem Altare in unserer Klosterkirche hing ihr reizendes, liebliches Bild; zu ihren freundlichen milden Zügen blickte ich stets mit einer Art Verzückung auf, und ihr theilte ich in stillem Gebete alle meine Wünsche und Gedanken mit. Sonst spielte und lachte ich lieber, als daß ich lernte und betete. Ich galt deshalb für leichtsinnig und flatterhaft, wurde häufig gescholten und mußte nicht selten sogar Strafe leiden. Die entsetzlichste, die härteste Strafe aber für mich war es, wenn ich zu der alten strengen Superiorin unseres Klosters beschieden wurde und eine Strafpredigt von ihr anhören mußte. Sie stand dann stets regungslos vor mir; mich durchlief bei ihrem Anblick ein Frösteln; nur mit äußerster Anstrengung vermochte ich zu ihrem marmorstarren und marmorkalten Gesichte aufzublicken, und ich weinte bitterlich, wenn ein Blick aus ihren grauen, stechenden, bösen Augen mich traf. Ich war überzeugt, ich weiß nicht warum, daß sie mich tödtlich hasse, weil sie alt und mürrisch, ich aber jung und frohgemuth war, was ihr jedenfalls gleichbedeutend mit sündhaft erschien.
Mit inniger Freude und mit der aufrichtigsten Liebe gedenke ich nur einer Jugendfreundin, der einzigen, die ich in dem verhaßten Kloster gefunden. Sie kam etwa ein Jahr nach mir dort an, stand in ziemlich gleichem Alter mit mir und war die Tochter vornehmer deutscher Eltern jenseits des Rheines, die ihrem Kinde keine größere Wohlthat erzeigen zu können meinten, als wenn sie dasselbe in einem französischen Kloster erziehen ließen. Die Fremde war ungemein schüchtern und hatte die schönsten sanftesten blauen Augen, wie das goldigst seidenweiche Haar, zwei Eigenthümlichkeiten, die mich zuerst auf sie aufmerksam machten und zu ihr hinzogen. Bald aber lernte ich sie lieben wegen ihres weichen Sinnes, wegen ihres demüthigen Wesens und wegen ihrer nicht zu bezwingenden Geduld, also gerade wegen derjenigen Eigenschaften, die mir gänzlich abgingen, und es gewährte mir eine große, stolze Freude, das sanfte, schüchterne Mädchen unter meinen Schutz zu nehmen. Fast jedesmal, wenn sie einen Fehler begangen hatte und darum gescholten werden sollte, scheute ich selbst eine kleine Unwahrheit nicht, um die Schuld und, im Nothfall, die Strafe von ihr abzuwenden und auf mich zu nehmen, was sie mir durch die wärmste und dankbarste Anhänglichkeit vergalt. Vieltausendmal haben wir uns bei solchen Gelegenheiten ewige Freundschaft und Treue geschworen.
Die Mutter der Freundin, eine stattliche Dame von noch immer großer Schönheit, kam regelmäßig einige Mal im Jahre in unser Kloster, um die Tochter zu besuchen, und da diese bei allen solchen Gelegenheiten mit begeisterter Liebe von mir sprach, wurde auch ich bald der Dame vorgestellt, die ich denn als die Mutter meiner Freundin lieben lernte, weil ich leider selbst keine Mutter hatte.
So vergingen die Wochen, die Monate und die – Jahre unserer Kindheit in unveränderlicher Einförmigkeit; wir wuchsen heran. Die Freundin entwickelte sich zu einer vollen, kräftigen, blühenden Jungfrau, während mein Körper lang, schlank und hager emporschoß, so daß ich die geliebte Freundin bisweilen wohl mit einem gewissen Gefühl von Neid betrachtet habe. Ich erinnere mich wenigstens, daß ich mich der Sünde solchen Neides mehr als einmal im Beichtstuhl angeklagt habe. Der Aufenthalt im Kloster wurde uns, je länger er währte, um so langweiliger und lästiger, und wir sprachen täglich von der ersehnten Zeit, in welcher wir die Freiheit erlangen und in ‚die Gesellschaft‘ eintreten würden. Selten indeß war zwischen uns von unserer Verheirathung die Rede, weil die Freundin immer nur sehr schüchtern und mit sichtbarem Widerstreben in meine seltsamen und schwärmerischen Ideen von dem Glücke einging, das ich mir an der Seite eines geliebten jungen und schönen Mannes nicht reizend und entzückend genug auszumalen vermochte. Sie lehnte es stets mit Erröthen ab, meiner Phantasie von einem solchen Leben zu folgen, ja sie erzählte mir eines Tages weinend, daß ihre Mutter ihr die Mittheilung gemacht habe, sie werde bald aus dem Kloster abgeholt werden, um in die Welt einzutreten, denn der Reichsgraf von * * *, ihr Nachbar, habe für seinen jüngsten Sohn um ihre Hand angehalten, und diese sei ihm mit Freuden zugesagt worden, weil man eine glänzendere Partie für die geliebte Tochter schwerlich jemals wieder finden könne. Der junge Graf sei übrigens außerordentlich liebenswürdig und habe sich durch seinen mehrjährigen Aufenthalt auf Reisen, namentlich in Paris, zu einem solchen Muster von [738] elegantem und galantem Manne ausgebildet, daß er selbst einem vornehmen jungen Franzosen durchaus nicht nachstehe.“
Soweit hatte der Sohn des alten Försters gelesen oder vielmehr mit großer Mühe und Anstrengung die verblaßten dünnen kleinen Buchstaben auf dem vergilbten Papier entziffert. Da sprang er fast ärgerlich auf und sagte zu seinem Vater:
„Wer ist denn die Person, die das schrieb, was ich gelesen, und wie steht sie in Verbindung mit der Geschichte der Auswanderung unsrer Familie aus Frankreich?“
„Das Alles wirst Du erfahren,“ antwortete der Vater, „wenn Du geduldig weiter lesen willst. Diese Mühe kann ich Dir nicht ersparen, denn ich vermag nicht alles so genau zu erzählen, wie es da geschrieben steht. Wenn Du aber nicht Alles ganz genau kennst, wirst Du das Nachfolgende nicht verstehen und begreifen.“
„So sage mir wenigstens, wer die Schreiberin ist!“ bat der Sohn.
„Du wirst es von ihr selbst erfahren,“ antwortete der Alte ruhig.
Der Andere fragte nicht weiter. Er nahm die Blätter vielmehr von Neuem zur Hand und las weiter:
„Das war im Frühjahre. Als der Sommer vergangen war und der Herbst kam, erschien in der That die Mutter der Freundin, um dieselbe mit sich zu nehmen und dem Bräutigam zuzuführen. Es war eine schmerzensreiche Trennung. Wir hielten einander lange eng umschlossen und weinten Beide bitterlich. Fast mit Gewalt mußte man uns endlich voneinander trennen. Es versteht sich von selbst, daß wir schon lange vorher und oftmals hoch und theuer geschworen hatten, einander häufig zu schreiben. Ich hatte sogar einst im Uebermuthe auf diejenige von uns, welche nicht regelmäßig schreiben oder antworten werde, als Strafe den schrecklichen Fluch herabbeschworen, eine unglückliche Ehe führen zu müssen. Von Allem, was wir als junge Mädchen erbeten, versprochen und geschworen, ist leider nichts in Erfüllung gegangen als jener Fluch, der uns Beide, mich aber sehr schwer, getroffen hat. Als man die Freundin in den Wagen hob, der sie hinwegführen sollte, stand ich verzweifelnd am Fenster und breitete noch einmal sehnsüchtig die Arme nach ihr aus; als sie mir dann weinend den letzten Abschied zuwinkte und der Wagen mit ihr fortrollte, brach ich ohnmächtig zusammen. Man brachte mich in mein Bett, in welchem ich mich bald erholte, aber nur um mich noch einmal recht auszuweinen. Die Superiorin selbst kam zu mir, sprach mir anfänglich einige Trostworte zu, begann dann aber eine lange Strafpredigt darüber, daß ich mich meinen Gefühlen zu sehr hingegeben habe. Dies sei stets mein Fehler gewesen. Seit ich mich in dem Hause der Schwestern befinde, habe sie mir unablässig die wohlgemeinte Lehre wiederholt, mich niemals vom Gefühle beherrschen zu lassen. Das Weib müsse frühzeitig lernen, seine Empfindungen streng in Zügel und Zaum zu halten und in Demuth und Geduld alles Das hinzunehmen, was Gott in seiner Weisheit sende. Alle großen Schmerzen und alles tiefe Leid, die ein Frauenherz heimsuchen könnten, rührten daher, daß es seinen Empfindungen zu leichthin nachgegeben habe, ohne, wie es einer frommen Christin zieme, die Folgen solchen Thuns ernstlich zu bedenken.
Ich hörte diese sicherlich wohlgemeinten Worte der vielerfahrenen Frau mit verstocktem Mädchensinne an, denn noch während sie sprach, nahm ich mir vor, sobald wie möglich an die Tante, die ich während meines Aufenthalts im Kloster nur selten gesehen hatte, die dringendste Bitte zu richten, mir endlich die Freiheit zu geben, denn ich sei nun sechszehn Jahre alt und ertrage es nicht länger, in düsteren Mauern eingeschlossen zu sein, zumal die Freundin, deren Anwesenheit mir den Aufenthalt daselbst erträglich gemacht habe, in die Heimath zurückgekehrt sei, um in ihre Familie und mit derselben in die Welt einzutreten, der wir doch Alle angehörten.
Schon am nächsten Tage schrieb ich in der That und bat inständig um Erlösung. Ich wußte zwar nicht, welches Leben mir bei der alten Tante beschieden sein könnte, aber schon die Freilassung aus meinem Klosterkerker, schon die Entfernung von der strengen Superiorin, deren Zufriedenheit ich so selten zu erlangen vermocht hatte, erschien mir als beneidenswerthes Glück. Wie sehr ich aber auch dieses Glück ersehnt, es sollte mir noch lange vorenthalten werden. Auf meinen Brief an die Tante erhielt ich, und zwar erst nach Wochen, eine keineswegs erfreuliche Antwort; denn sie schrieb mir, daß sie mich erst abholen könne, nachdem ich die nächsten Ostern noch in dem Kloster gehalten. Welch trauriger Winter stand mir also bevor und wie peinlich langsam schlichen die Tage dahin! Bald war ich traurig bis zu verzweifelnder Schwermuth, bald leidenschaftlich erregt und gereizt. Die guten Schwestern im Kloster mögen große Noth mit mir gehabt haben. Meine Verstimmung steigerte sich täglich, namentlich auch durch den Verdruß darüber, daß ich nach der rasch erfolgten brieflichen Anzeige der Freundin, sie sei glücklich im Vaterhause angekommen und solle an einem der nächsten Tage schon den ihr bestimmten Bräutigam sehen, den sie mir getreulich, unserer Verabredung gemäß, beschreiben werde, keine Zeile von ihr erhielt, obgleich ich ihr, sofort nach dem Empfange ihres ersten Briefes, ausführlich geantwortet und in meinem Schreiben all’ meinen Kummer ausgegossen hatte. Ich war freilich überzeugt, daß die Superiorin, durch deren Hände alle unsere abgehenden und ankommenden Briefe gehen mußten, die mir bestimmten Briefe der Freundin vorenthalte. Ich sprach dies auch in einem Klageschreiben an die Entfernte unverhohlen aus. Diesen Brief erhielt ich, wegen der darin ausgesprochenen Beschuldigung, von der Superiorin mit einer neuen Strafpredigt und der Weisung zurück, meinem Schreiben eine andere Fassung zu geben. Sie hatte also meinen Brief gelesen und – ich schrieb nicht wieder, weil es meinem Stolze als eine Erniedrigung erschien, der ich mich nicht unterwerfen dürfe, anders zu schreiben, als ich empfand.
Eine andere, eine neue Freundin unter den Genossinnen meiner Gefangenschaft mochte ich mir nicht suchen; ich war und blieb also allein, ganz allein mit meiner Trauer, die ich mir täglich schmerzlicher durch die Vorstellung machte, welche ich von dem Glücke der sicherlich bereits geschlossenen Ehe der Freundin hatte. In dieser unbeschreiblich trübseligen Stimmung verging langsam der Winter und das Osterfest kam heran. Ich verbrachte es diesmal in wirklicher Andacht und dankbarer neuer Aufheiterung, denn ein Brief der Tante, der mir ihre baldige Ankunft meldete, hatte mir wieder Muth und Hoffnung gegeben. O, wie freudig klopfte ihr mein Herz entgegen! Ich liebte sie jetzt zärtlich, leidenschaftlich – als meine Befreierin. In solcher Stimmung nahm ich Abschied von den Schwestern, mit denen ich so viele Jahre der Kindheit und Jugend verbracht hatte, ließ noch einmal, diesmal aber mit musterhafter Geduld, einen Strom von Ermahnungen und guten Lehren über mich ergehen und fuhr dann vergnügt und hoffnungsreich in die fremde Welt hinein, nach der ich mich so lange und so sehr gesehnt hatte. Ich wähnte ja, das Glück, alles Glück wohne in dieser ‚Welt‘, und mit fröhlicher Zuversicht hoffte ich, es erwarte da auch mich.“
[751] „Nachdem wir etwa vier Wochen lang in dem kleinen alten Schlosse der Tante verbracht hatten, machte sie mir die höchst erfreuliche Mittheilung, daß sie mit mir nach Paris reisen werde. Von dieser Wunderstadt hatte ich mir stets eine wahrhaft märchenhafte Vorstellung gemacht, und doch übertraf sie, als ich sie sah, weit alle meine Erwartungen. Es war mir, als sei ich in ein Zauberland versetzt worden, denn Alles, was ich sah, war mir fremd, neu und wunderbar. Ich schwamm in einem Meere von Entzücken und sagte mir täglich mehrmals, wie sehr ich Recht gehabt, wenn ich im Kloster zu Straßburg geglaubt und erwartet habe, in der Welt draußen sei Alles schön und groß zu finden. Die Tante hatte viele Freunde und Freundinnen in den aristokratischen Kreisen der Hauptstadt, und zu meiner Begeisterung über Paris trug es sicherlich nicht wenig bei, daß viele ältere und jüngere Herren sich beeiferten, mir ihre Huldigungen darzubringen, und mich mit Galanterien überhäuften. Die Tante war freilich auch eifrig bemüht gewesen, wie ich später erfuhr, in ihren Kreisen bekannt werden zu lassen, daß ich eine reiche Erbin sei. Am meisten überrascht von dieser Eröffnung war ich selbst, da mir bisher sorgsamst und vollständig verheimlicht worden war, daß ich ein nicht unbedeutendes Vermögen besitze. Als ich die Tante fragte, warum man mich über meine Vermögensverhältnisse so ganz in Unkenntniß erhalten habe, erhielt ich die Antwort, es sei dies wohlweislich geschehen, um zu verhindern, daß ich stolz und eitel werde, wozu ich, nach der Aussage der Superiorin des Klosters, eine stark ausgeprägte Anlage von der Natur erhalten habe.
Ich wurde dann nach und nach mit den schönsten und kostbarsten Toiletten in der neuesten Mode und mit Schmucksachen aller Art reichlich ausgestattet; die letzteren erhielten für mich zum Theil dadurch einen doppelten Werth, weil sie von meiner Mutter herrühren sollten. Ein kostbares Perlenhalsband, das sie getragen, habe ich oftmals unter Thränen des Schmerzes und der Freude mit Küssen bedeckt.
Nach mehreren Wochen waren endlich alle Vorbereitungen getroffen, und der große Tag erschien, an welchem ich am Hofe eingeführt, dem Könige und der Königin vorgestellt werden sollte. Jede meiner Bewegungen, die ich bei diesem hochwichtigen Ereignisse zu machen, jede Miene, die ich anzunehmen, jeder Schritt, den ich zu thun haben sollte, war lange vorher einstudirt und wiederholt eingeübt worden. Bei aller Freude aber, die ich empfand, konnte ich doch auch ein Gefühl beängstigender Bangigkeit nicht überwinden, das mich jedesmal bei dem Gedanken ergriff: ich soll vor dem Könige von Frankreich erscheinen, zu dessen Größe und Hoheit ich stets nur mit der ehrerbietigsten Verehrung emporgesehen hatte. Mit der gespanntesten Erwartung also und in äußerster Schüchternheit fuhr ich endlich an dem lange voraus bestimmten Tage mit der Tante, die mir nochmals alle ihre Lehren und Empfehlungen wiederholte, in das Königsschloß der Tuilerien. Mit größter Anstrengung nur gelang es mir, das Zittern aller meiner Glieder zu beherrschen, als sich vor uns die Flügelthüren des Saales öffneten, in welchem ich die irdische Majestät sehen sollte. Es war bereits eine zahlreiche und glänzende Gesellschaft vornehmer Herren und Damen dort versammelt, und Aller Blicke richteten sich neugierig und prüfend auf mich. Eine Andere wäre dadurch vielleicht in Verlegenheit gebracht worden, mir dagegen gab dieses Mustern, dem ich ausgesetzt war, mein Selbstgefühl vollkommen wieder. Ich sagte mir, daß alle Anwesenden nur meines Gleichen wären, deshalb hielt ich und benahm ich mich ganz zur Zufriedenheit der Tante, die mir sogar einen anerkennend-ermunternden, stolz-freundlichen Blick zuwarf.
Nach ziemlich langem Warten erschien der König Ludwig der Sechszehnte mit der Königin Antoinette, deren Schönheit ich staunend bewunderte und von der ich meine Blicke auch deshalb kaum abwenden konnte, weil mir sofort ihre täuschende Aehnlichkeit mit meiner Klosterfreundin auffiel. Die Milde und Güte, die aus den Zügen des Königs zu mir sprachen, entzückten mich. Ich hätte vor den Majestäten auf die Kniee sinken mögen, wie ich oftmals vor dem Bilde der heiligen Jungfrau in dem Kloster betend gekniet hatte.
Die Reihe traf endlich auch mich, den Majestäten vorgestellt zu werden, und ich machte die tiefe huldigende Verbeugung – die Hauptsache bei dieser Gelegenheit, wie mir die Tante oftmals versichert hatte – so tadellos, daß ein leises bewunderndes Beifalls-Gemurmel durch den Saal ging und die Tante später mich hoch erfreut dafür küßte. Der König, der meinen Vater persönlich sehr wohl gekannt hatte und ihn hoch in Ehren zu halten schien, sprach zu mir sehr freundlich von ihm.
‚Ich werde mir angelegen sein lassen,‘ sagte er, ‚der Tochter des Hochverdienten einen passenden Gemahl zu suchen. Das junge Herz ist doch noch frei?‘ setzte er mit Lächeln fragend hinzu.
Ich fühlte, daß meine Wangen glühten, und verbeugte mich statt aller Antwort tief und schweigend. Dem Könige irgendwie zu widersprechen hätte ich unter keiner Bedingung gewagt, auch [752] wenn mein Herz dabei gebrochen wäre. Den Mann, den mir mein König bestimmte, nahm ich jedenfalls ohne alles Weigern nicht nur, sondern auch dankbar für die Huld und Gnade an, denn von ihm konnte mir ja doch nur Gutes kommen.
‚Wir sprechen später gelegentlich darüber,‘ fügte der König nach einer kleinen Pause hinzu, in welcher er mich lächelnd aufmerksam betrachtet hatte. Dann entfernte er sich mit freundlichem Gruße von mir.
Die Königin war ebenfalls ungemein gnädig. Mit ihrem bezauberndsten Lächeln sagte sie zu meiner Tante, indem sie sich zugleich auch halb zu mir wendete: ‚Frau Marquise, ich wünsche und hoffe Ihre liebe Nichte, die Sie uns heute zuführen, bald unter den jungen Damen meines Hofes zu sehen, wenn Sie das Opfer zu bringen vermögen, sie mir zu überlassen.‘
Die Tante schien von so viel unerwarteter Huld so ganz überwältigt zu sein, daß sie offenbar eine Unwahrheit darauf sagte. Sie entgegnete nämlich der Königin:
‚Meine Nichte ist zwar mein höchster Stolz und die einzige Freude meines Alters; ich habe gehofft, sie so lange wie möglich bei mir zu haben, nachdem ich dieselbe so lange habe entbehren müssen, aber jeder Wunsch Ihrer Majestät ist für mich ein Befehl und meiner Königin zu gehorchen mein höchstes Glück, ja ich kann mir keine größere Freude denken als eine Gelegenheit zu finden, für meine Königin ein Opfer zu bringen.‘
Als wir dann wieder zu Hause waren, setzte sie mir weitläufig auseinander, welches außerordentliche Glück mir als Einer der Hofdamen der Königin bevorstehe. Da die hohe Frau mich auszeichne, werde ich sicherlich sehr bald eine Zierde des Hofes und von allen Herren desselben umworben werden. Sie selbst, die Tante, habe allerdings, wie die Königin, sobald sie mich gesehen, die Ueberzeugung gewonnen, daß ich eine der ersten Damen Frankreichs, die Zierde und der Stolz der Familie werden müsse, da man mir es ansehe, daß ich zum Herrschen geboren sei und alle Eigenschaften des Charakters besitze, die mich befähigten, dem Range entsprechend mich zu benehmen, den mir der König ganz gewiß durch den Mann geben werde, den er für mich wahrscheinlich schon bestimmt habe.
Ich wurde in der That bald darauf unter die jungen Hofdamen der Königin aufgenommen, die mir aber, als ich sie näher kennen gelernt hatte, durchaus nicht geeignet erschienen, meine Freundinnen zu werden. Sie sprachen von nichts und schienen an nichts zu denken, als an Putz, Moden, Intriguen aller Art und Eroberungen; sie waren neidisch und eifersüchtig auf einander, leichtfertig und, trotz ihrem heuchlerisch frömmelnden Wesen, im Grunde ihres Herzens ungläubig. Eine sagte der Andern alles mögliche Sündhafte nach, ja sie scheuten sich sogar nicht von Leichtfertigkeiten der Königin selbst zu sprechen, von denen sie unterrichtet sein wollten. Das alles reizte und erzürnte mich allmählich, so daß ich schon nach einigen Tagen, als sie sich wieder unterfingen, von Ihrer Majestät der Königin in der leichtfertigsten Weise zu sprechen, zwischen sie trat und ihnen eine Strafpredigt hielt, wie sie länger und strenger selbst die Superiorin unseres Klosters nicht hätte halten können. Anfangs sahen sie mich und sahen sie sich untereinander verwundert an, dann fingen sie höhnisch zu lachen an, und ehe ich zu Ende gekommen war, hatte Eine nach der Andern sich entfernt. Von da an waren alle, mehr oder minder offen und ehrlich, meine Feindinnen, und ich stand an dem glänzenden Hofe wieder so einsam und allein, wie damals im Kloster zu Straßburg. Zum Glück währte dieser Zustand nicht lange. Kurze Zeit nach jenem Vorfall trat eines Tages der König freundlich zu mir und sagte, er habe einem jungen Manne den Befehl gegeben, zu der Marquise, meiner Tante, zu gehen und ihr zu sagen, der König wünsche ihn mit mir zu vermählen, wenn sie einwillige und ich selbst keine Einsprache dagegen erhebe. Wenn der junge Herr die Genehmigung der Frau Marquise erlange, werde er sich auch mir vorstellen und um mein Herz und meine Hand bitten.
‚Der junge Mann,‘ setzte der König hinzu, ‚ist in Gefahr, und da sein Vater mir gute Dienste geleistet hat, fühle ich mich verpflichtet, zu seiner Stellung beizutragen, so viel ich vermag. Er ist in die Hände der Unzufriedenen gerathen und mich schmerzt es stets, wenn ich Männer von gutem Adel, Söhne von königstreuen Vätern sogar, mit Leuten sich verbinden sehe, die Thron und Altar zu stürzen versuchen. Die Vermögensverhältnisse des jungen Mannes sind nicht glänzend und schon darum ist er leider dem Gifte jener Umsturzlehren leichter zugänglich, die mehr und mehr Verbreitung zu finden scheinen. Das beste Mittel, ihn auf dem rechten Wege zu erhalten, ist jedenfalls das, ihm eine Frau zur Seite zu geben, die nicht nur das ihm fehlende Vermögen, sondern auch die rechten Grundsätze, einen festen Charakter und so viel Geist besitzt, um ihn beherrschen zu können, kurz, die geeignet ist, ihn vor den gefährlichen Irrlehren unserer Zeit zu bewahren. Eine solche Frau für ihn glaube ich in Ihnen, mein Fräulein, gefunden zu haben, und ich bin fest überzeugt, daß Sie den Erwartungen vollkommen entsprechen werden, die ich von Ihnen hege.‘
Die Aufgabe, die mir in solcher Weise von meinem Könige gestellt wurde, entsprach vollständig meinen Neigungen und meinem Charakter, und ich zweifelte deshalb keinen Augenblick, daß sich der König in seinen Erwartungen von mir nicht täuschen werde, ich hoffte indeß dabei auch, daß ich den Mann, dem er mich bestimmt hatte und den ich bald sehen sollte, werde lieben lernen und lieben können. … Er kam schon an einem der nächsten Tage, stellte sich mir vor, und ich nahm ohne langes Bedenken seine Bewerbungen um mein Herz und meine Hand an, obwohl er meinen Mädchenaugen keineswegs sonderlich gefiel, namentlich weil die Züge seines Gesichtes starke Leidenschaftlichkeit, wenn nicht gar eine gewisse Rohheit sehr deutlich verriethen. Die Tante hatte ihm ihre Genehmigung sofort bereitwillig ertheilt; ich stellte nur eine einzige Bedingung, die nämlich, daß wir die ersten zwei Jahre unserer Ehe wenigstens auf einer meiner Besitzungen im Elsaß zubrächten, die ich zwar selbst noch nicht kannte, die aber nach der Beschreibung der Tante reizend gelegen sein sollte und, wie sie mir mehrmals erzählt hat, der Lieblingsaufenthalt meiner Mutter und das Erbgut meines Vaters gewesen war. Diese beiden letzten Umstände hatten meine Wahl bestimmt, während der Zweck meiner Bedingung – zwei Jahre auf dem Lande zuzubringen – dahin ging, den Mann, welchen mein König mir anvertraute, von seinen Pariser Freunden entfernt zu halten und ihn stets unter meinen eigenen Augen zu haben, damit ich auf ihn einzuwirken vermöge, wie es der König wünschte und erwartete. Der mir bestimmte Bräutigam ging bereitwillig auf Alles ein, was ich verlangte; es stand also unserer wirklichen Verbindung nichts mehr im Wege, und sie wurde denn auch nach kurzer Zeit geschlossen. Die Majestäten gaben mir noch viele Beweise ihrer besondern Huld und Gnade, meine Feindinnen, die Hofdamen, waren wieder sehr freundlich gegen mich geworden, natürlich aus Freude darüber, daß ich so bald von ihnen scheide, und wir reisten nach unserem künftigen Wohnsitze ab, auf welchem zu unserem Empfange Alles eingerichtet worden war. Das malerisch auf einer kleinen Anhöhe gelegene Schloß, ein wunderlicher alterthümlicher Bau, mit seinem umfänglichen Parke gefiel meinem Gatten sehr, und ich fühlte mich heimathlich wohl darin, weil ich ja wußte, daß meine Eltern dort glücklich gelebt hatten, daß ihre sterblichen Ueberreste dort nebeneinander ruhten und daß ich selbst dort geboren worden war. Auch habe ich wirklich die zwei schönsten Jahre meines Lebens an diesem Orte verbracht, die einzigen glücklichen, die mir das Schicksal gönnte. In diesen ersten zwei Jahren unserer Ehe hatte ich keine Ursache, mit meinem Gatten wirklich unzufrieden zu sein, und als uns auch eine Tochter geboren war, meinte ich, mein Glück könne nicht höher steigen und nie enden.
Es sollte bald anders werden. Die schreckliche Zeit der Revolution begann, und mein Mann nahm, trotz meiner wiederholten und ernstlichsten Abmahnungen, schon an den ersten Anfängen derselben eifrig und leidenschaftlich Antheil. Er gehörte der Nationalversammlung an und reiste voll Hoffnung nach Paris. Trotz meiner Vorstellungen, die ich selbst bis zu Drohungen steigerte, schloß er sich dem scheußlichen Mirabeau an und sagte sich von der Partei des Königs, seines Gönners und Wohlthäters, wie von dem Adel los. Mit jubelnder Begeisterung meldete er mir brieflich die Erstürmung der Bastille, die er eine der größten Heldenthaten nannte. Seine Anhänglichkeit an die Revolution steigerte sich allmählich bis zum Fanatismus, obwohl die blutigsten Gräuel Paris und Frankreich bereits befleckten. Ich mußte den Schmerz erleben, seinen Namen unter den wüthendsten Parteimännern genannt zu wissen.
Eine lange Zeit sah ich ihn nicht; er schrieb mir auch nur [753] selten und dann nur, um neue Versuche zu machen, auch mich für ‚die gute Sache‘ zu gewinnen, wie er die Revolution zu nennen sich nicht scheute. Seinen Namen verschweige ich aus gutem Grunde, wie ich ihn längst abgelegt habe, auch in diesen Blättern, denn er soll meinen Nachkommen ewig unbekannt bleiben, und vor Allem wünsche ich, daß meine Tochter niemals erfahre, welchen blutbefleckten Namen ihr Vater führte. … Viele Adelige waren bereits in das Ausland geflohen, weil sie empört waren über die Frevel und Schändlichkeiten gegen den König und die Kirche, die begangen worden waren und deren täglich noch schlimmere nachfolgten. Inständig bat und beschwor auch ich meinen Mann, mit mir das unglückliche Vaterland auf so lange zu verlassen, bis die alte Ordnung wiederhergestellt sein werde. Statt aber meinen Wunsch und meine dringende Bitte zu erfüllen, verhöhnte er mich, weil ich so blind sei, die neue Zeit nicht zu verstehen und zu würdigen, welche begonnen habe und ungeahntes Glück in die Welt bringen werde. Schließlich kündigte er mir an, daß er nächstens selbst zu mir kommen werde, um einen letzten Versuch zu machen, mich von meiner Verblendung und meinen Vorurtheilen zu erlösen. Gleichzeitig sandte er mir eine rothe wollene sogenannte Freiheitsmütze, eine der kleinen schwarzen Perrücken, die man ‚Jacobinerperrücken‘ nannte, und einen ‚Gürtel der Vernunft‘, wie ihn die freche Schauspielerin Saunier in die Mode gebracht. Auch sprach er die empörende Erwartung aus, daß ich ihn in diesem Aufputze empfangen werde, da alle Damen in Paris sich so zeigten, welche aufgeklärt genug wären, um der Revolution zu huldigen. Ich warf, wie es sich wohl von selbst versteht, alle die verhaßten Symbole des Umsturzes sofort in das Feuer und hatte mit meinem Manne, als er wirklich bald darauf selbst erschien, eine sehr heftige, fast gewaltthätige Scene. Wenn ich nicht starke Nerven besessen hätte, würde ich bei seinem Anblicke schon in Ohnmacht gefallen sein, denn er war frech genug, vor mir mit den Abzeichen des Sansculottismus zu erscheinen, nämlich in der Carmagnole, der bekannten kurzen Jacke mit ganz kleinen Schößchen, in Matrosenbeinkleidern von grobem Zeuge, in entblößtem Halse, um den nachlässig nur ein kleines Tuch geschlungen war, und mit einer kleinen goldenen Guillotine als Ohrgehänge. In seinem ganzen Thun und Wesen trat mir die leidenschaftliche Rohheit seines Charakters, die ich in ihm geahnt und gefürchtet hatte, als ich ihn das erste Mal sah, in der abschreckendsten und widerwärtigsten Weise entgegen. Er drohte, als ich mich weigerte, seinen Plänen mich anzuschließen und als ich darauf bestand, Frankreich mit meinem Kinde zu verlassen, die Tochter mir zu entreißen, damit sie von mir nicht auch zu einer Aristokratin, sondern durch ihn selbst zur echten Bürgerin erzogen werde. Er selbst hatte bereits alle seine Titel abgelegt und nannte sich stolz ‚Bürger‘. … Zum Glück blieb er nicht lange in dem Schlosse, denn seine höheren Pflichten, wie er sich ausdrückte, riefen ihn bald wieder nach Paris zurück. Er verabschiedete sich in heftigem Zorne von mir und mit der gewiß ernstgemeinten Drohung, er selbst werde mich als Aristokratin denunciren und der Guillotine zuführen lassen, wenn ich trotzig bei der Verehrung der nun vergangenen alten Zeit der Knechtschaft und bei dem Widerstreben verharre, der neuen Zeit mich ehrlich anzuschließen. Er könne und werde – mit Freude sogar – mein Haupt fallen und mein Blut fließen sehen, denn ich sei eine der verstocktesten Aristokratinnen und die Freiheit werde um so schneller und um so herrlicher auf Frankreichs Boden erblühen, je mehr Aristokraten- und Pfaffenblut denselben gedüngt habe.
Ich war über alles Das tief betrübt und innerlich empört; um so mehr blieb ich fest entschlossen, den Widerstand gegen meinen Mann und gegen die Revolution, die er fanatisch verehrte, energisch fortzusetzen und selbst, wenn es sein müßte, das Aeußerste nicht zu scheuen.
Die Leute auf meiner Besitzung, namentlich alle meine Dienstboten, hielten noch treu zu mir, weil ich allen Regungen revolutionärer Gelüste, sobald sie sich irgendwie zeigen wollten, kräftig und entschieden entgegentrat und auf der andern Seite Diejenigen reichlich unterstützte, welche mir und meinen Grundsätzen anhänglich sich bewiesen, obgleich ich nicht leugnen mag, daß mein Mann sich höchst wahrscheinlich alle Mühe gegeben hatte, mich mit Spionen zu umringen.
Die Herrschaft des Schreckens wurde unterdeß von Woche zu Woche grauenhafter in Paris; man vergriff sich feindlich selbst an der Majestät des Königs, und leider gehörte, wie es nicht verschwiegen blieb, mein Mann zu denjenigen, die am schamlosesten und am undankbarsten gegen ihn auftraten. Ich erkannte also mehr und mehr, daß meines Bleibens in dem unglücklichen Frankreich nicht länger mehr sein könnte, nicht meinetwegen, denn ich hätte wohl den Muth besessen, selbst dem Tode auf dem Blutgerüste zu trotzen, sondern meiner kleinen Tochter wegen, die vor den Gräueln der Revolution zu schützen meine erste und heiligste Pflicht sein mußte, zumal da ihr eigener Vater sich bestrebte, sie in den Schmutz der Revolution hineinzuziehen und ihre junge Seele völlig zu verderben. Ich entschloß mich also, an die Reichsgräfin, die Jugendfreundin aus dem Kloster, zu schreiben, um sie zu fragen, ob sie mir und meinem Kinde in ihrem Hause oder doch in ihrer Nähe Aufnahme gewähren wolle. Ich erhielt leider keine Antwort von ihr, und das änderte meine Pläne vollständig. Mein Entschluß aber, das Vaterland zu verlassen, blieb unerschüttert, und ich betrieb unablässig die Vorbereitungen dazu. Mit meiner Kammerfrau, der schon etwas bejahrten Pflegerin meines Kindes, hatte ich schon öfter meinen Fluchtplan besprochen und sie hatte sich immer bereit erklärt, mir zu folgen, wohin ich sie auch führen wolle. Ohne alle männliche Begleitung aber die gefährliche Flucht und Reise zu unternehmen, schien nicht gerathen zu sein, und so überlegte und prüfte ich sorgsamst, welchem meiner Diener ich mich wohl am sichersten anvertrauen könnte. Meine Wahl fiel sogleich auf Mathis, den Kammerdiener und Jäger meines Mannes, der die Revolution und Alles, was mit derselben zusammenhing, in Paris, wohin er im Anfange seinen Herrn begleitet, gründlich hassen gelernt und, nach kurzem Aufenthalte dort, nicht eher geruht, bis er die Erlaubniß erhalten hatte, zu seiner Familie in der Heimath zurückkehren zu dürfen. Bald darauf hatte er seine junge Frau verloren, wie er überzeugt war, durch den Tod aus Angst vor der Revolution und aus Entsetzen über die Revolutionäre. Die Zustände in Frankreich waren ihm also ebenfalls verhaßt und nichts hielt ihn da zurück, ja er entfernte sich wahrscheinlich sogar gern, wenn er sein einziges Kind, einen kleinen Knaben, mit sich nehmen durfte, was ich ihm sehr gern erlaubte.“
„Mathis!?“ wiederholte der Sohn des alten Försters, als er den letzten Satz gelesen hatte. „Mathis? Bist Du das, mein Vater? Ist die Erzählerin die Dame, von der Du so oft und so gern sprichst?“
„Fast hast Du richtig gerathen,“ erhielt er von dem geduldig dasitzenden Alten, der seine Augen von dem lesenden Sohne keinen Moment abgewendet hatte, zur Antwort. „Die, welche das schrieb, was Du gelesen, war allerdings unsere verehrte Herrin, die Mutter Deiner Mutter, aber bedacht hast Du nicht, daß der Mathis, welchen sie erwähnt, in jener Zeit sicherlich doch wenigstens dreißig Jahre alt war und daß er demnach, wenn er jetzt noch lebte, hundert Jahre zählen müßte. Jener Mathis war vielmehr mein Vater, und ich bin sein ‚kleiner Knabe‘, der erwähnt wird. Jetzt frage nicht weiter, sondern lies zu Ende!“
„Eines Tages rief ich Mathis zu mir,“ so las der junge Försterssohn weiter; „ich schloß mich mit ihm in meinem Zimmer ein und theilte ihm meinen Vorsatz und meinen Plan mit.
‚Hätte ich die Mittel besessen, um auswandern zu können,‘ antwortete er mir sogleich, ‚ich würde schon längst mit meinem Knaben die Heimath verlassen haben, in welcher jetzt die Bluthunde so unverantwortlich hausen. Ihnen, gnädige Frau, folge ich deshalb mit Freuden, bis an das Ende der Welt sogar, um von dem unglücklichen Vaterlande so wenig wie möglich oder, noch lieber, gar nichts mehr zu hören.‘
Ich freute mich solcher Ansichten und solcher Anhänglichkeit an mich, und wir beriethen darauf mit einander, wie wir am besten, das heißt am sichersten, die Flucht bewerkstelligen sollten. Freilich wurde uns dabei auch immer deutlicher, wie beschwerlich nicht nur, sondern wie gefährlich auch die Ausführung des Unternehmens sein würde, da die Auswanderer von der herrschenden revolutionären Partei mit dem Tode bedroht waren. Bei jedem Plane, den wir entwarfen und beriethen, trat uns die fast sichere Unmöglichkeit seiner Ausführbarkeit entgegen, und [754] da wir uns zunächst für keinen zu entscheiden vermochten, wurde die Abreise von Tage zu Tage immer wieder verschoben.
Die Entscheidung brachte endlich das Entsetzlichste, was die Revolution unternehmen konnte: die blutbefleckten Mörder scheuten sich nicht, das geweihete Haupt des Königs auf dem Schaffote fallen zu lassen. Dies steigerte meinen Unwillen und Zorn gegen das Land, in welchem eine solche entsetzliche Schandthat möglich war, auf das Höchste, so daß ich nun, selbst mit Gefahr meines Lebens und mit Verlust meines Vermögens, zu fliehen beschloß. Das Band, das mich mit meinem Manne vereinigt hatte, sah ich dadurch für vollständig gelöst an, daß er sich den Königsmördern angeschlossen und für den Tod des Königs, seines Wohlthäters, gestimmt hatte. Mein Kind durfte von nun an seinen Vater, den Mann nicht wiedersehen, den es als Mörder verabscheuen mußte.
Ich hatte eine ansehnliche Summe Geldes zusammengebracht, damit ich im Auslande meinem Stande gemäß so lange leben konnte, bis es mir möglich sein würde, nach Frankreich zurückzukehren. Ich hoffte, daß dies bald ausführbar sein werde, da die Fürsten Europas sich ja entschlossen hatten, den Königsmord zu rächen und zu züchtigen, und auch bereits mit ihren Heeren den Grenzen meines unglücklichen Vaterlandes sich näherten. Jene Geldsumme, sowie meine werthvollsten Schmucksachen hatte ich durch Mathis bereits an einen zuverlässigen Mann nach Deutschland bringen lassen und auch alle anderen Vorbereitungen zu unserer Abreise waren fast beendigt, als uns die Nachricht erschreckte, ein ehemaliger Geistlicher aus Straßburg, ein Deutscher, Eulogius Schneider mit Namen, ein fast wahnsinniger Fanatiker der Revolution und eines der furchtbarsten Ungeheuer, welche jene Zeit des Schreckens hervorbrachte, ziehe mit der Guillotine im Elsaß umher, vergieße unter geistlichem Gaukelspiel Ströme von Blut und feiere zugleich mit fanatisirten Bauern und entmenschten Weibern die schändlichsten Orgien. Man tanze, hieß es, die Carmagnole um das Blutgerüst, und der Rasende habe sogar allen Nachtwächtern des Landes befohlen, bei dem Abrufen der Stunden der Nacht nicht mehr zu singen: ‚Lobet Gott, den Herrn‘! sondern: ‚Lobet Gott, den Bürger‘! Mit seinen Teufelsschaaren, wurde uns weiter berichtet, nähere sich der Unmensch bereits unserer Gegend, ja, man versicherte sogar, mein Mann selbst sei aus Paris angekommen und habe sich jenen blutgierigen Wahnsinnigen angeschlossen, um, wie er sich ausgedrückt haben sollte, das Seinige mit beizutragen, das arme Elsaß von ‚der Pest der Aristokratie und der Pfaffen‘ zu reinigen. Unter solchen schrecklichen Verhältnissen durften wir keinen Augenblick länger zögern, unseren Entschluß zur Ausführung zu bringen, so lange es überhaupt noch möglich war.
Ich entschied mich auch sofort, packen und durch meinen Kutscher am nächsten Morgen meinen Wagen anspannen zu lassen. Wohin ich fahren wolle, sollte er erst später erfahren, damit Niemand vorher wisse, wohin ich mich zu wenden gedenke. Mathis erbot sich zwar, selbst das Amt des Kutschers zu übernehmen, weil er kein rechtes Vertrauen zu dem meinigen habe, seit er gehört, daß er auch revolutionäre Reden zu führen anfange. Ich lehnte indeß das Anerbieten des Getreuen ab, weil ich fürchtete, gerade dann Verdacht zu erregen, wenn ich eine Reise mit meinem Kinde und der Wärterin desselben antrete und den Wagen nicht von meinem gewöhnlichen Kutscher lenken lasse.
So sehr ich mich freute, endlich das blutgetränkte Frankreich zu verlassen, nahm ich doch im Stillen mit Thränen Abschied von dem Vaterhause, in dem ich geboren worden war wie meine Tochter, und in welchem ich die ersten zwei Jahre meiner Ehe glücklich verlebt hatte. Wer konnte mit Gewißheit sagen, ob und wann ich dasselbe wiedersehen werde? Endlich stiegen wir, zwischen Trauer und Freude schwankend, in den Wagen, in dem sich die werthvollen Gegenstände befanden, die ich noch mit mir zu nehmen wünschte; auch eine Summe Geldes führte ich bei mir. Mathis, dem ich vorsorglich ebenfalls Geld anvertraut hatte, und der später mit seinem Sohne auf dem Sitze hinter dem Wagen Platz nehmen sollte, war ganz im Stillen schon mehrere Stunden vor unserer Abfahrt vorausgegangen, um an einer genau bezeichneten Stelle unseres Weges aufgenommen zu werden. Es sollte durch diese Vorsicht verhütet werden, daß meine Leute sofort erfuhren, daß Mathis und selbst der kleine Sohn desselben uns begleite. Gegen Abend hofften wir den Rhein an einem Punkte zu erreichen, wo durch Mathis vorher schon ein Boot gemiethet worden war, das uns still über den Fluß bringen sollte. Die Fahrt im Wagen ging anfänglich verhältnißmäßig gut von Statten; wenigstens stießen wir auf kein Hinderniß, das uns aufhielt. Wir holten auch Mathis mit dem Knaben ein und konnten Beide, wie verabredet worden war, aufnehmen. Freilich theilte der treue und auf Alles achtende Diener mit einer gewissen Besorgniß mir mit, es sei, als der Wagen gehalten, um ihn aufzunehmen, von dem hintern Sitze desselben ein Mann herabgesprungen und habe sich eilig nach dem nächsten Dorfe zu, auf einem Seitenwege, entfernt. In der Schnelligkeit sei es ihm zwar nicht möglich gewesen, den Mann genau zu beobachten, er wolle aber beschwören, setzte er hinzu, daß es Einer meiner Leute gewesen und daß er eine Freiheitsmütze getragen. Er, Mathis, könne sich deshalb des Verdachtes nicht erwehren, der Mann sei ein Spion gewesen, der den Auftrag gehabt, mir zu folgen, um zu ermitteln, ob ich zu fliehen beabsichtige und wohin ich mich zunächst wende. Um, für den Fall, daß Mathis recht gemuthmaßt, die Pläne der Feinde zu vereiteln, befahl ich dem Kutscher, so rasch wie möglich weiter zu fahren. Die Wege waren aber so schlecht, stellenweise so spurlos, daß wir wir sehr langsam weiter kamen.
In dem Wirthshause des nahen Dorfes, das wir bald erreichten, schien es sehr lebhaft zuzugehen. Man sang und schrie darin. Jedenfalls waren wilde Revolutionäre dort versammelt, und ich fürchtete, nicht ohne Belästigung vorüberzukommen. An der Thür und an den Fenstern zeigten sich in der That verschiedene verdächtige Gestalten, doch konnten wir glücklich, das heißt unangefochten vorüberfahren; wir gelangten unangetastet durch das ganze Dorf und hinter demselben in einen dort beginnenden ziemlich tiefen Hohlweg. Der Kutscher klatschte an dieser Stelle auffallend oft und stark mit seiner Peitsche, was ich, ich gestehe es, in meiner leicht erregten Besorgniß anfänglich für ein Zeichen hielt, das er dadurch Leuten gebe, mit denen irgend eine Verabredung getroffen worden sei, doch bat ich ihm bald in Gedanken mein Mißtrauen gegen ihn ab, da sich nichts Verdächtiges zeigte und er ja auch durch solches häufige Klatschen einen uns etwa entgegenkommenden Wagen aufmerksam machen konnte auf unser Herannahen, damit er an einer Stelle halte, wo ein Ausweichen zweier Wagen in dem engen Hohlwege etwa möglich sei. Unser Wagen schlich eine lange Zeit hindurch langsam weiter, ohne daß wir einem andern begegneten, bis sich der Hohlweg allmählich mehr und mehr zu verflachen anfing. Dann ging es auf ebenem Wege fort bis an ein Wäldchen. Der Wagen fuhr langsam in dasselbe hinein, und kaum waren wir eine kurze Strecke vorwärts gekommen, als uns plötzlich rauhe Stimmen gebieterisch zuriefen, Halt zu machen. Die Pferde wurden von Bewaffneten angehalten und an dem Wagenschlage, zu beiden Seiten, zeigten sich Gewehrläufe, während uns mehrere Stimmen aufforderten, auszusteigen.
[767] „Die Sonne stand bereits nahe am Horizonte und im Walde fing es allmählich zu dunkeln an. Mein Kind, das geschlafen hatte, erwachte und begann zu weinen. Mathis, der mit seinem Knaben sofort abgestiegen war, stand bereits am Wege, bang erwartend, was nun geschehen werde. Widerstand konnten wir nicht leisten, ja, wenn wir es vermocht hätten, würde es jedenfalls die äußerste Thorheit gewesen sein, dies zu thun. Ich stieg also, wie uns geheißen war, aus, und gleich hinter mir folgte die Wärterin mit dem Kinde, das ich sofort in meine Arme nahm, um es selbst zu schützen, wenn es gefährdet sein sollte, denn meine Besorgniß war sehr groß.
Als wir Alle, angstvoll der Dinge harrend, die geschehen würden, am Wege standen, stiegen zwei der Bewaffneten in den Wagen und durchsuchten denselben genau. Ein Dritter setzte sich zu dem Kutscher, den man nicht genöthigt hatte, abzusteigen, auf den Bock und ein Vierter nahm den Platz hinten am Wagen ein. ‚Umkehren!‘ riefen gleich darauf die Zwei, die in den Wagen gestiegen und darin geblieben waren. Wir standen noch immer am Wege und fürchteten nun, ebenfalls wieder zum Einsteigen genöthigt und mit Gewalt zurückgebracht zu werden. Der Kutscher lenkte indeß um, wie ihm befohlen war, dann trieb er die Pferde zu raschem Laufe an und fuhr in den Hohlweg zurück, aus dem wir soeben herausgekommen waren. Wir aber standen hülflos unter dem freien, dunkelnden Himmel, und wußten nicht, ob Die, welche uns angehalten hatten, Revolutionsmänner waren, die mich an der Flucht zu hindern beabsichtigten, oder Räuber, die vermutheten oder wußten, daß ich eine Summe Geldes bei mir im Wagen habe, und derselben sich bemächtigen wollten. Da uns durchaus sonst kein Leid angethan worden war, so schien wohl die letztere Annahme die richtige zu sein.
‚Der Kutscher ist im Einverständnisse mit den Räubern oder wohl gar der Anstifter des Anfalls gewesen‘, meinte Mathis.
Daß ich irgend einmal und zwar bei der ersten Gelegenheit Frankreich, das ich haßte, so lange es unter den Schreckensmännern der Revolution schmachtete, verlassen werde, war unter meinen Leuten allerdings kein Geheimniß, auch hatte man sehr wohl bemerken können, daß ich in der letzten Zeit Vorbereitungen getroffen, die auf meine baldige Abreise deuteten, und daß ich mich reichlich mit Geld bei dieser Gelegenheit versehen werde, ließ sich sehr wohl voraussehen. Die Vermuthung des treuen Mathis hatte also die Wahrscheinlichkeit für sich.
Da standen wir nun in dem einsamen, dunkelnden Walde, ohne zu wissen, was wir beginnen sollten. Sollten wir umkehren, uns bemühen, die Uebelthäter zu ermitteln und sie der Strafjustiz zu übergeben? Aber dann wurde meine Absicht, das Land zu verlassen, unbestreitbar offenkundig, und ich setzte mich der Rache der Revolutionäre noch mehr aus. Vielleicht, ja wahrscheinlich, war der schreckliche Eulogius Schneider mit der Guillotine und seinen Begleitern unterdeß unserer Gegend noch näher gekommen, und wenn ich ihm in die Hände fiel, war ich unrettbar verloren. Diese Aussicht, die sich mir mit allen Schrecknissen immer fürchterlicher darstellte, entschied, und ich erklärte, daß wir trotz Allem, was geschehen sei und vielleicht noch geschehen werde, den Weg fortsetzen müßten.
‚Eines Wagens werden wir gar nicht bedürfen,‘ äußerte Mathis, ‚weil wir uns in ganz geringer Entfernung vom Rheine befinden. Das Dorf, in welchem der Mann wohnt, der versprochen hat, gegen eine bestimmte Summe uns über den Fluß hinüber zu bringen, muß ganz in der Nähe liegen. Haben wir dann deutschen Boden betreten, können wir unsere Reise ungestört nach Belieben fortsetzen, wann und wohin wir wollen.‘
So wanderten wir denn, keineswegs entmuthigt, jenem Dorfe zu und erreichten dasselbe auch glücklich, ehe die Nacht vollständig eintrat. Wir hörten deutlich das Rauschen des Rheines, denn das kleine Dorf lag dicht am Ufer desselben, und der Mann, der uns überzusetzen versprochen hatte, wohnte in dem ersten Häuschen.
Mathis ging zu ihm voraus: ‚Alter, da sind wir!‘ rief er an der Thür des Häuschens. ‚Wie steht’s? Alles in Ordnung?‘
‚Das Boot liegt schon bereit,‘ antwortete ihm der Mann, ‚aber ich rathe, mit der Ueberfahrt zu warten bis zum nächsten Morgen. Ich allein kann im Dunkel die Fahrt nicht wagen, denn der Rhein geht hoch, und mein Gehülfe ist nicht zur Hand. Ehe er aufgefunden werden kann, vergeht wohl eine Stunde, und dann ist finstere Nacht. Gleichwohl ist er der Einzige, dem wir trauen dürfen, und es ist im Dorfe bereits gemeldet, daß Aristokraten kommen und von hier aus zu fliehen versuchen würden, auch Befehl gegeben, sie anzuhalten.
Wir traten in das Häuschen des Schiffers.
‚Retten Sie uns!‘ beschwor ich ihn. ‚Ich will Sie reich belohnen, reicher als Sie vermuthen können – aber retten Sie uns sofort! Sie sind mit dem stürmischen Elemente vertraut; so wagen Sie es denn, uns allein über den Fluß zu bringen! Schaffen Sie uns hinüber – es soll Sie nicht gereuen!‘
[768] ‚Ich werde tapfer mitrudern,‘ sagte Mathis, indem er den Mann zur Eile trieb.
‚Sei’s denn!‘ meinte dieser nach längerem Widerstreben.
Wir stiegen also in das Boot, hüllten uns zum Schutze gegen die kalte Luft auf dem Flusse so gut wie möglich in unsere Tücher und Mäntel ein und – der Schiffer stieß das leichte Fahrzeug vom Ufer mit den Worten ab: ‚in Gottes Namen sei’s gewagt!‘
Ich athmete wieder auf, denn ich betrachtete mich schon als gerettet. Unsere Abfahrt war ja erfolgt, ohne daß wir gesehen worden. Auch entfernten wir uns ziemlich schnell mehr und mehr vom Ufer. Wir vernahmen nichts als das Rauschen des Flusses und das leise Geräusch der Ruder. Leichte Nebel schwammen über dem Wasser, und ich segnete sie, denn sie verhüllten unser Boot vor den Feinden, wenn diese uns verfolgen wollten. Noch hatten wir die Mitte des Flusses nicht erreicht, als wir in die Nähe einer der Inseln gelangten, deren es in jener Gegend im Rheine mehrere giebt. Der Schiffer begann kräftiger und rascher zu rudern, und das Boot glitt schnell dahin. Mit jedem Ruderschlage kamen wir der Insel näher; bald befanden wir uns ihr gegenüber und fuhren einige Augenblicke an derselben hin. Der Schiffer ruderte mit verstärkter Macht. Fast hatten wir die Insel bereits hinter uns gelassen, als plötzlich Stimmen von derselben her in gebieterischem Tone uns ‚Halt!‘ zuriefen und ein Boot an der Spitze der Insel, von der andern Seite derselben her, auf uns zukam. Die Strömung war indeß hier so stark, daß das jedenfalls feindliche Boot, welches gegen dieselbe fahren mußte, sich uns nur langsam nähern konnte.
‚Halt!‘ rief man uns immer auf’s Neue und immer heftiger und drohender zu.
‚Jetzt gilt’s,‘ flüsterte der Schiffer und er strengte seine Kräfte auf das Aeußerste an.
‚Halt!‘ hörten wir noch einmal, und gleich darauf knallten zwei oder drei Schüsse. Die Kugeln, die uns galten, pfiffen über uns hin, ohne uns zu treffen. Der Schiffer keuchte vor Anstrengung, und auch Mathis führte das Ruder mit Aufbietung all seiner Kraft. Gott war uns gnädig. Das feindliche Boot verschwand im Nebel, während bald darauf, schon ziemlich deutlich zu erkennen, das rettende – das deutsche – Ufer vor uns lag. Auch ein Haus schien da zu stehen, denn wir bemerkten ein Licht. Nicht lange mehr, und wir hatten deutsches Land erreicht. Der Schiffer sprang an das Ufer, befestigte das Boot, und wir konnten wohlbehalten aussteigen. Mit welchen Gefühlen betrat ich das Land, das nicht Frankreich war! Der Schiffer, unser Retter, begleitete uns zu einem ihm wohlbekannten Hause in der Nähe und empfahl uns den Bewohnern desselben, die uns freundlich aufnahmen.
‚Mathis,‘ sagte ich, ‚lohne dem Braven, der uns gerettet, reichlich diese muthige That!‘ – und der treue Diener that, wie ich befohlen.
Der Schiffer erschöpfte sich in Danksagungen und wünschte mir eine baldige glückliche Rückkehr in besserer Zeit. Dann erbot sich Mathis, da wir in dem kleinen Hause nicht wohl die Nacht verbringen konnten, in die ihm wohlbekannte sehr nahe kleine Stadt zu gehen und einen Wagen zu bestellen, der mich und die Meinigen so bald wie möglich dahin abhole.
Es war fast Mitternacht, als wir in einem Gasthause jener Stadt ankamen, wo wir nach dem ereignißreichen Tage endlich Ruhe fanden. Wir verweilten dort beinahe eine Woche lang, um uns ganz zu erholen, bevor wir die Reise weiter fortsetzten, deren nächstes Ziel Freiburg sein sollte, wo ich Nachricht von der Jugendfreundin erhalten zu können hoffte, da die Besitzung ihrer Eltern, wie ich mich wohl erinnerte, in der Nähe jener Stadt gelegen war und die Freundin selbst mit dem Sohne des Nachbars hatte verheirathet werden sollen. Freiburg, wo ich während meiner hoffentlich nur kurzen Abwesenheit aus dem Vaterlande zu verweilen gedachte, war damals eine fast französische Stadt geworden, in welcher sich namentlich viele geflüchtete französische Geistliche, auch solche aus Klöstern, aufhielten. Häufig begegnete man ihnen in ihren verschiedenen Ordenstrachten in den Straßen.
Es gelang mir bald, eine wenn auch bescheidene Wohnung dort zu finden, die nach der einen Seite hin den Blick auf den rebenbepflanzten Schloßberg, nach der andern auf den zierlichen Thurm des herrlichen gothischen Münsters gestattete. Den Namen meines Mannes, den ich bis dahin hatte führen müssen, legte ich nun ab, um mich auch in dieser Weise ganz von ihm loszusagen und durch den Namen nicht fortwährend an ihn erinnert zu werden. Ich nannte mich nach den Disteln in dem Wappen meines Vaters Madame Chardon und untersagte meinen Leuten streng, mich jemals anders als mit diesem einfachen, unbekannten Namen zu bezeichnen. Ich fühlte mich nun gesichert, auch ziemlich beruhigt und gewöhnte mich bald an das stille Leben, das mir um so mehr wohlthat, als die Nachrichten aus Frankreich und namentlich aus dem Elsaß täglich grauenerregender lauteten. Von andern Sorgen war ich frei. Mein Kind gedieh sichtbar, und durch Mathis hatte ich in Frankfurt einen Theil der dort hingelegten Gelder erheben lassen.
Eines Tages, als ich aus dem Münster kam, in welchem ich regelmäßig meine Andacht verrichtete, stieg aus einem Wagen, der an dem Haupteingange hielt, eine stattliche, schwarz gekleidete Dame. Meine Blicke fielen zufällig auf sie, und kaum konnte ich einen freudigen Ausruf zurückhalten, denn ich erkannte in ihr, wie sehr sie sich auch verändert hatte, die Mutter meiner Klosterfreundin, die ich stets verehrt und geliebt hatte. Sie dagegen schien mich nicht zu erkennen. Ich hatte freilich seit dem Aufenthalt im Kloster zu Straßburg ein ganz anderes Aussehen erhalten. Dennoch trat ich ihr freudig entgegen und rief ihr den Namen jenes Klosters zu. Sie blieb verwundert stehen und sah mich forschend an. Da nannte ich ihr meinen Mädchennamen. Sofort traten ihr die Thränen in die Augen, und sie ergriff meine beiden Hände. Ich berichtete ihr flüchtig, daß ich aus meinem unglücklichen Vaterlande geflohen sei und seit einigen Tagen hier in Freiburg wohne. Dann fragte ich nach ihrer Tochter, meiner Freundin, und erzählte, daß ich derselben eigentlich zürne, weil sie mir keine Antwort auf meine Briefe gegeben.
‚Ein Geschäft,‘ entgegnete die Dame darauf, ‚hat mich heute nach Freiburg geführt, und ich kann die Stadt nie verlassen, ohne im Münster zu beten. Geben Sie mir Ihre Wohnung an! Ich komme zu Ihnen, um mit Ihnen von meiner Tochter zu sprechen.‘
Ich that, wie sie gewünscht hatte, und wir schieden. Die Dame trat in den Dom, ich aber eilte nach Hause. Eine halbe Stunde später klingelte es an meiner Thür, und die Mutter meiner Freundin trat bei mir ein. Sie erzählte unter Thränen, daß sie keine Ruhe mehr finde, seit ihre unglückliche Tochter im Grabe ruhe, denn sie klage sich täglich an, daß sie die Schuld an dem Tode derselben trage.
‚Seit dem Tage,‘ begann die unglückliche Frau, ‚an welchem sie den ihr bestimmten Bräutigam gesehen, verfiel meine arme Tochter in tiefe Trauer. Unter Thränen erklärte mein beklagenswerthes Kind, daß es den Mann, mit dem es verbunden werden sollte, nie werde lieben lernen. Das ganze Wesen desselben war dem zarten Mädchen in tiefster Seele verhaßt, denn nur zu bald wurde es klar, daß er alle üblen Eigenschaften der Franzosen, ihre Laster und ihre gleißenden Formen, ohne eine Spur von deutschem Gemüthe besitze. Dennoch stellte ich meiner Tochter in unseliger Verblendung vor, daß sie durch Voreingenommenheit sicherlich sich täuschen lasse, und, wie sie immer sanft und gehorsam gewesen, willigte sie auch diesmal, um ihre Eltern nicht zu betrüben, nach kurzem Widerstreben ein, die Frau des jungen Grafen zu werden. Sie hoffe, sagte sie, ihn wenigstens achten zu lernen, wenn es ihr auch nicht möglich sein werde, ihn zu lieben. Die Trauung erfolgte, und meine Tochter bezog mit ihrem Manne eine Besitzung in der Nähe, die ihm sein Vater überließ – aber achten und lieben lernte sie ihn nicht. Nach kurzer Zeit fanden sich mehrere seiner Pariser Freunde und leider auch seiner Freundinnen ein, und es begann ein Leben so toll und frech, daß ich es zu schildern gar nicht versuchen will. Meine Tochter verbrachte ihre Tage in Trauer und Einsamkeit, weil sie sich weigerte an den Festen und Lustbarkeiten Theil zu nehmen, die alle Tage stattfanden und die sie verletzten. Gott verzeihe mir, daß ich es ausspreche – es war ihr Glück, daß sie im Kindbette starb. Ihr Mann, der junge Graf, hatte sich durch seine Lebensweise in maßlose Schulden gestürzt; seine Besitzung wurde verkauft, die andern Schulden [769] aber zu bezahlen, verweigerte sein Vater; er selbst ging nach Coblenz und trat in das Heer der französischen Prinzen und Emigranten.‘
Ich weinte mit der armen Mutter und versprach ihr, einige Tage zu ihr zu kommen, ehe ich aber mein Versprechen ausführen konnte, sah ich mich durch die täglich sich wiederholender Gerüchte von dem nahe bevorstehenden Erscheinen der Sansculotten in Deutschland veranlaßt, das zu dicht an der Grenze Frankreichs liegende Freiburg zu verlassen und einen anderen, sicherern Zufluchtsort aufzusuchen. Ich fand keinen mir ganz zusagenden, und wir zogen deshalb unstät von Stadt zu Stadt: wir hielten uns in Mannheim und Frankfurt und eine längere Zeit in Weimar auf, wo die verwittwete Herzogin Amalie mich sehr freundlich aufnahm. Ich hätte hier ruhig und unbelästigt leben können, aber – es waren nun seit meiner Flucht Jahre vergangen, und die Gelder, die ich nach Deutschland mitgebracht hatte, fingen allmählich an, zu Ende zu gehen; ich hatte mich sogar bereits genöthigt gesehen, einige meiner Juwelen zu verkaufen, so daß ich nicht mehr ohne Besorgniß in die Zukunft sehen konnte, zumal an eine baldige Rückkehr nach Frankreich für mich noch nicht zu denken war. Geld aus Frankreich zu erhalten, war ganz und gar unmöglich. Die Nachrichten aus der Heimath lauteten zwar beruhigend, mir widerstrebten aber die Zustände dort noch immer, und ich blieb fest entschlossen, meinen Fuß auf den Boden des blutgetränkten Frankreichs nicht zu setzen, so lange man die königliche Familie nicht zurückberufe und die Republik bestehen lasse. Nach meinem Manne mich zu erkundigen, unterließ ich aus fortdauernd ungeschwächtem Hasse gegen denselben, aber man meldete mir unaufgefordert, daß die Folgen meiner Flucht traurig genug gewesen.
Meine Besitzung mit dem merkwürdig alterthümlichen Schlosse, von dem aus ich geflohen, war von der revolutionären Regierung eingezogen worden, wie die Güter aller Emigrirten. Die Besitzung hatte auch verkauft werden sollen, mein Mann aber hatte es durchzusetzen gewußt, daß sie ihm als Belohnung für seine der Revolution geleisteten Dienste eigenthümlich überlassen wurde. Man meldete mir auch, daß ich durch ihn von Spionen umgeben, daß die Räuber, durch die ich auf meiner Flucht überfallen worden von ihm gedungen gewesen wären und den Auftrag erhalten hätten, mir nur das Geld abzunehmen, das ich im Wagen bei mir haben dürfte, mich selbst aber reisen zu lassen. Das Kind freilich sollte mir auch geraubt werden, aber nicht, so lange ich mich auf französischem Boden befände, weil man mit Recht erwartete, ich werde mich von ihm nicht trennen lassen. Aus diesem Grunde sollte das Boot, das uns über den Rhein brachte, mit Gewalt angehalten, das Kind hier mir entrissen, zu seinem Vater zurückgebracht, ich aber verhindert werden, demselben zu folgen. Deshalb hatte man uns auf dem Rheine anzuhalten versucht, deshalb sogar auf uns bei der Ueberfahrt geschossen, und nur der ungewöhnlichen Anstrengung des braven Schiffers war es zu danken gewesen, daß der schändliche Plan mißrieth. Für seine gute That war dann aber leider der Schiffer gleich nach seiner Rückkunft in die Heimath festgenommen worden, weil er mir, einer Aristokratin, zur Flucht verholfen. Er war als das erste Opfer des Ungeheuers Eulogius Schneider gefallen, als dieser mit der Guillotine in jener Gegend erschienen war.
Alle diese Nachrichten erschütterten und erzürnten mich heftig. Dazu kam mein täglich wachsender Haß gegen den neuen Helden der Revolution, gegen Bonaparte, von dem ich im Anfange gehofft hatte, er werde die Familie des ermordeten Königs zurückführen und dem Ungeheuer ‚Revolution‘ das Haupt zertreten, der aber, wie sich bald deutlich zeigte, die Herrschaft derselben weiter, selbst über die benachbarten Länder ausbreitete und vielleicht gar für sich und seine eigenen ehrgeizigen Pläne thätig war.“
Hier endeten die Aufzeichnungen, und der junge Förster, welcher mit Spannung gelesen hatte, rief unbefriedigt aus:
„Nun bin ich so klug wie vorher und weiß nicht, warum Ihr in Deutschland geblieben seid und warum wir uns gerade hier befinden.“
„Das werde ich Dir erzählen,“ entgegnete sein Vater, „und zwar sogleich, da wir gerade jetzt ganz ungestört sind. Höre mich also aufmerksam an! Was Du gelesen hast, ist Alles noch vor Ablauf des vorigen Jahrhunderts geschehen. Ich und Marie, die Tochter der Schreiberin, waren noch sehr jung, ich erinnere mich aber noch lebhaft unseres Aufenthaltes in Weimar, von dem in den Aufzeichnungen zuletzt gesprochen wird, und ich sehe noch immer die gnädige Frau, wie sie damals aussah, vor mir. Mein Vater, der der beste Schütze seiner Zeit war, gefiel bei einer großen Jagd, die der Herzog von Weimar veranstaltete, einem der anwesenden fremden Herren so sehr, daß er von demselben aufgefordert wurde, in seine Dienste zu treten. Dieser Herr war der Vater unseres jetzigen Guts-Oberherrn. So angenehm meinem Vater der Antrag war, der seinen Neigungen und Kenntnissen vollständig entsprach, und so gern er ihn gewiß angenommen hätte, schlug er ihn doch aus, weil er sich nicht entschließen konnte, seine Herrin zu verlassen. Er sprach dies gegen den fremden Herrn unverholen aus und gewann dadurch die Achtung desselben in dem Maße, daß er aufgefordert wurde, zu bleiben wo er sei, zugleich aber auch die Versicherung erhielt, daß er ihm zu jeder Zeit willkommen sein werde.
Bald nach jenen Jagdtagen erkrankte unsere liebe Herrin aus Verdruß über eine neue Nachricht aus Frankreich. Vielleicht war es die Nachricht gewesen, daß ihr Gemahl, den sie so sehr haßte, daß sein Name vor ihr nie genannt werden durfte, in der Armee Bonaparte’s diene, den sie nie anders als den Usurpator und den größten der Revolutionäre nannte. Ihre Krankheit verschlimmerte sich von Tag zu Tag, und die gute Frau selbst fing an zu glauben, daß sie bald werde sterben müssen.
Eines Tages ließ sie uns Alle an ihr Bett bescheiden, um Abschied von uns zu nehmen. Sie verfügte über ihr Vermögen, das nur noch klein war, bestimmte eine Summe für ihr Begräbniß, eine andere für die Pflegerin ihres Kindes, der sie zugleich empfahl, sobald wie möglich in ihre Heimath zurückzukehren; denn sie wußte, daß die Frau große Sehnsucht nach Frankreich empfand. Meinem Vater übergab sie den ihr gebliebenen Rest von Schmucksachen mit dem Auftrage, dieselben nach und nach zu verkaufen und für ihre Tochter zu verwenden. ‚Nimm die Dir angebotene Jägerstelle an,‘ fuhr sie fort, ‚aber führe mein Kind mit Dir und laß’ es gemeinsam mit Deinem Knaben erziehen! Der Gedanke, meine Tochter könne einmal ihrem Vater wieder übergeben werden, läßt mich nicht ruhig sterben. Schwöre mir, treuer Diener, jenem Manne, der mich so unglücklich gemacht hat, den Aufenthalt seiner und meiner Tochter stets zu verheimlichen! Nenne Niemandem den wahren Namen und Geburtsort des Kindes! Laß’ meine Tochter in Unkenntniß über ihren Stand und ihr Herkommen! Erziehe sie einfach, wie ich es bisher gethan, in der Furcht Gottes und in der Liebe zu ihrem Fürsten!‘
Dann nahm die Kranke ein goldenes Medaillon, auf dem man außen das Bild eines alterthümlichen seltsamen Schlosses in sehr schöner Prägung und Ciselirung sah und in dem sich ein neues Portrait ihres Vaters befand, vom Halse. Sie übergab es meinem Vater mit den Worten: ‚Dies soll meine Tochter anlegen und niemals von sich thun, wie ich es nie abgelegt habe. Meine Mutter, die es als Brautgeschenk von meinem Vater erhielt, hat es ebenfalls stets getragen.‘ Mein Vater schwor mit Thränen in den Augen, getreulich Alles zu erfüllen, wenn, was er nicht fürchten möge, der Tod sie uns entreiße.
Sie lebte darauf nur noch einige wenige Tage. Die Kammerfrau machte sehr bald Gebrauch von der erhaltenen Erlaubniß, nach Frankreich zurückkehren zu dürfen, und verabschiedete sich eilig, sowie ohne großen Schmerz von uns und dem Kinde ihrer Wohlthäterin, das sie über Alles zu lieben vorgegeben hatte. Aber auch das Kind sah sie ohne Trauer ziehen. Mein Vater, der nun mit zwei Kindern, einem eigenen und einem fremden, im Auslande sich befand, konnte sich dennoch nicht entschließen, in sein Vaterland zurückzukehren; er schrieb vielmehr an den Herrn, der ihn hatte in seinen Dienst nehmen wollen, meldete demselben, daß er jetzt bereit sei zu kommen, und erhielt bald darauf die Weisung, sobald wie möglich einzutreffen.
Er verließ alsbald Weimar mit mir und Marie; wir zogen hierher, und die neue stille Wohnung am Walde wurde uns allmählich eine wirkliche liebe Heimath. Wir lernten die guten Leute im Dorfe kennen und spielten wohl auch gelegentlich mit den Kindern. Ich erinnere mich, daß Marie von den anderen Mädchen ihres Alters im Dorfe durch ihre lieblichere [770] und gewandtere Zierlichkeit, durch die dunklere Farbe ihrer Augen und ihres Haares, sowie durch ihre weit größere Lebhaftigkeit sich unterschied, die sich sogar bis zur Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit steigerte. Wir Beide hatten beim Schullehrer und Pfarrer Unterricht, auch in der Religion und zwar im protestantischen Glauben, weil weit und breit kein katholischer Geistlicher sich befand. So wuchsen wir allmählich heran in jugendlichem Glücke und fühlten uns durch nichts Fremdes von unseren Nachbarn und Bekannten getrennt, zumal wir Beide unsere Muttersprache wenig übten, da sie selbst in unserm Familienkreise mehr und mehr außer Gebrauch gekommen war.
Als die Franzosen bis in unsere Nähe gelangt und bei Jena die große Schlacht siegreich geschlagen hatten, war Marie bereits eine stattliche Jungfrau geworden, und ihre Angst vor den französischen Soldaten steigerte sich von Tag zu Tag, gleichsam als sei dieselbe eine Erbschaft von ihrer Mutter, wie das Medaillon, das sie nach der Weisung derselben stets am Halse trug. Oftmals bat sie uns sogar um Verzeihung, daß sie uns mit dieser ihrer Furcht quäle, aber welche Mühe sie sich auch gab, ruhig zu sein, wurde sie doch stets von unerklärlicher Angst ergriffen, wenn sie nur von Franzosen sprechen hörte.
Eines Tages, als sie auch so gegen mich sich aussprach und zwar als wir Beide allein hier im Zimmer waren, antwortete ich:
‚Fürchte Dich nicht, liebe Marie! Ich bin ja bei Dir und ich schütze Dich, sollte es mir auch mein Leben kosten.‘
Sie schmiegte sich nach diesen Worten an mich, als suche sie an meiner Brust den Schutz, den ich ihr verheißen hatte. Was in diesem Augenblicke in mir vorging, weiß ich nicht. Ich hatte Marie immer sehr lieb gehabt, lieb wie eine Schwester, jetzt auf einmal sah ich nicht die ‚Schwester‘ in ihr, sondern nur das schöne Mädchen, und entdeckte plötzlich in meinem Herzen ein Gefühl, das andere, leidenschaftlichere Liebe war. Unwillkürlich umfaßte ich sie, die sich vertrauensvoll an mich gelehnt hatte; ich mußte ihr sagen, daß ich sie liebe und nichts mehr wünsche, als sie mein Weib nennen zu können, und ich fragte sie, ob sie die Meine werden wolle.
‚Ewig die Deine!‘ antwortete sie. ‚Ich habe Dich immer geliebt und es oftmals in stiller Nacht der Mutter im Himmel gestanden, während ich ihr Medaillon küßte, auch meinen Wunsch gegen sie im Gebete ausgesprochen, immer bei Dir zu bleiben.‘
Das war unsere selige Verlobungsstunde.
Als der Vater dann zu uns kam, theilten wir ihm mit, was wir einander gestanden und gelobt hatten.
‚Ich gebe gern meinen Segen dazu.‘ antwortete er, ‚und ich weiß, daß ich Dir, Marie, auch den Segen Deiner Mutter geben kann. Als ich ihr geschworen habe, getreulich alles Das zu thun, was sie mir über Dich aufgetragen, setzte sie leiser, gegen mich gewandt, die Worte hinzu, die ich Euch jetzt wiederholen darf. Sie sagte: ‚Wenn die Kinder herangewachsen sind, und in ihren Herzen entwickelt sich eine Neigung zu einander, so daß sie als Gatten mit einander durch das Leben gehen möchten, so tritt ihrem Wunsche nicht entgegen! Ich habe die feste Ueberzeugung, daß meine Tochter an der Seite Deines Sohnes glücklicher sein wird, als ich es in anderen Verhältnissen gewesen bin. Nur laß sie nie nach Frankreich zurückkehren, wie Du mir feierlich geschworen hast!“
‚Von dem, was Deine Mutter sonst besaß, Marie,‘ fuhr mein Vater fort, ‚ist nichts mehr übrig geblieben als ein Perlenhalsband, das ich nie verkaufen mochte, obgleich sie mir die Erlaubniß dazu gegeben hatte, weil ich wußte, daß es ihr liebster Schmuck gewesen war, ein Andenken an ihre Mutter.‘
Er suchte das Perlenhalsband hervor und übergab es Marie, die bald dieses neue Andenken an die theure Mutter, bald das Medaillon unter Freudenthränen küßte. Wir saßen an dem Tage noch lange traulich bei einander, denn der Vater, der ungewöhnlich heiter geworden war, erzählte vielerlei aus Frankreich und von vergangenen Zeiten. Seine Heiterkeit wurde nur ein wenig gestört, als Marie ihn bat, ihr auch von ihrem Vater etwas mitzutheilen. Es schien ihm schwer zu werden, eine rechte Antwort darauf zu finden. Endlich sagte er:
‚Ich habe ihn nicht gekannt, und Deine Mutter sprach nie von ihm.‘
Der Bund unserer Herzen empfing die priesterliche Weihe, doch verging, ehe das geschehen konnte, eine ziemlich lange Zeit, denn der Geistliche verlangte Papiere über unsere Herkunft, die theils nicht zu beschaffen waren, theils der Vater zu erlangen nicht einmal versuchen wollte. Endlich erfolgte unsere Trauung, ohne daß die geforderten Papiere vorgelegt worden wären, weil man der Versicherung des Vaters glaubte, daß sie im Sturme der Revolution verloren gegangen. Wir waren nun insgesammt über alle Beschreibung glücklich, da mir die Zusicherung gegeben war, des Vaters Nachfolger zu werden, namentlich aber da auch der Krieg eine Zeitlang geschwiegen oder sich in ferne Länder gezogen hatte. Leider sollte die Zeit des Friedens nicht lange währen. Im Frühlinge des Jahres 1813 zeigten sich wieder gewaltige Truppenmassen auch in unserer Gegend, und es hieß sogar, daß es in unserer Nähe zur Schlacht kommen werde. An einem der ersten Maitage jenes Jahres, als ich im Dunkel des Abends von einem Gange zurückkam, sah ich drüben auf der Anhöhe hinter dem Dorfe, in der Richtung nach Lützen hin mehrmals Leuchtkugeln aufsteigen, und ein Bekannter, der mir begegnete, wollte am Tage fernen Kanonendonner gehört haben.
Am andern Tage – ein Sonntag war es, wenn ich nicht ganz irre, – schon ziemlich früh erschienen bei uns Flüchtlinge aus dem nächsten Städtchen, die mit Entsetzen meldeten, es würden zahlreiche Verwundete von dem Schlachtfelde bei Lützen dahin gebracht und ein Theil des siegreichen französischen Heeres ziehe heran. Es sei möglich, daß es auch zu uns kommen werde. Indeß verging uns der Tag ruhig, wenn auch in großer Angst und Aufregung. Gegen Abend etwa kamen in der That endlose Massen französischer Infanterie aus dem Walde auf dem Wege unterhalb des Dorfes heraus und wendeten sich diesem zu. Ich sehe sie mit den langen Gamaschen und den hohen schwarzen Bärenmützen noch deutlich vor mir. Sie sangen. Voll Besorgniß fragten wir uns Alle, wohin die Schaaren sich wenden würden, da es bereits zu dunkeln anfing. Marie zitterte vor Angst und schloß die Thür des Hauses. Ich wich nicht von ihrer Seite, denn sie war, was wir lange vergeblich ersehnt hatten, zum ersten Male guter Hoffnung; der Vater dagegen ging bis an das Dorf, um zu sehen, wohin die Truppen zögen, und es uns dann zu berichten. Sie marschirten, wie er uns heimkehrend berichtete, in dichtgeschlossenen Reihen durch die Gassen des Dorfes, noch immer singend, bis auf die Felderfläche vor demselben. Dort machten sie Halt. Sie schienen, wie der Vater meinte, die Nacht hier verbringen und ein Lager aufschlagen zu wollen.
Unterdeß war es völlig Abend geworden. Es herrschte eine Todtenstille im Dorfe, weil sich in banger Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, Niemand regte. Plötzlich vernahm man eigenthümliche Trommelschläge, die bis zu uns drangen und einen schauerlichen, unheimlichen Eindruck in der stillen Nacht machten.“
[796] „Der Vater“, fuhr der alte Förster in seiner Erzählung fort, „ging nochmals in’s Dorf, um zu erfahren, was jene Trommelschläge bedeuteten. Es war das Signal zum Plündern. Die Soldaten stürzten sich in regellosen Haufen eilig und gierig auf das arme Dorf. Der Vater kam alsbald zurück. Was geschah, erzählte man uns später. Die Franzosen hatten seit zwei Tagen nichts gegessen; der Hunger trieb sie in die Häuser. Ein jedes durchsuchten sie von unten bis oben, vom Keller bis unter das Dach; kein Winkel blieb verschont; mit Lichtern, mit brennenden Spähnen, ja mit lodernden Strohwischen, liefen sie suchend in jede Kammer, in die Ställe und selbst in die Scheune. Nicht blos was sie an Eßbarem fanden, war gute Beute, auch Kühe, Schafe und Schweine führten sie hinweg und alle Kessel, Töpfe und Schüsseln folgten als Koch- und Eßgeschirr hinaus in das Lager, wo man dann zu schlachten und zu kochen begann. Alle Thüren in den Häusern, alle Tische und Stühle, alles Holz und Stroh, Planken und Zäune, mit einem Worte, alles Brauchbare schleppte man ebenfalls fort, um die Koch- und Wachfeuer damit zu nähren, die auf den Feldern in einem weiten Halbkreise vor dem Dorfe nacheinander aufflackerten und die Umgegend grell und schauerlich beleuchteten. Dann trat wieder tiefe Stille ein. Die Bewohner des Dorfes waren zum Theil geflohen, als die Franzosen erschienen, und hatten ihre gesammte Habe preisgegeben; zum Theil waren sie in ihren Häusern geblieben. Die Weiber weinten, und die Männer saßen entweder in dumpfer Ergebung da oder fluchten leise.
Nachdem die Ruhe etwa eine Stunde gedauert hatte, erschreckten uns die früheren unheimlichen Trommelschläge noch einmal und wiederum fielen die Soldaten gleich Heuschrecken über das unglückliche Dorf her. Sie waren gesättiget und kamen nun, um Stroh, Betten, Kleidungsstücke und Decken zu suchen und sich Lagerstätten daraus zu bereiten. Sie suchten wohl auch Geld und Geldeswerth, gewiß ist wenigstens, daß sie alles, buchstäblich alles, was sie forttragen konnten, mit sich nahmen, wenn sie offenbar auch keinen Gebrauch davon machen konnten. In jedem Hause bewegten sich, einander entgegengesetzt, zwei Menschenströme, einer in das Haus hinein, die Treppe hinauf und durch die Kammern, ein anderer die Treppe hinunter und aus dem Hause hinaus. Fünfzig, hundert Mann und mehr noch sollen gleichzeitig in einem der kleinen Häuser gewesen sein. Dieses Hin- und Herwogen unendlicher Menschenmassen dauerte ununterbrochen fort, bis ein anderes Trommelsignal die Soldaten wieder in das Lager rief. Dann trat von Neuem Stille ein. Jeder Soldat bereitete sich draußen auf dem Felde, im jungen Getreide, unter freiem Himmel mit dem, was er erbeutet hatte, eine Lagerstätte, streckte die müden Glieder auf derselben aus und versuchte, zu schlafen. Für die zurückgebliebenen Bewohner des Dorfes aber gab es diese Nacht keinen Schlaf; sie hatten auch nichts, wohin sie ihr sorgenschweres Haupt legen konnten.
Auch wir in unserem Hause, das vom Lager, ja von dem Dorfe aus nicht gesehen werden konnte und deshalb von solchen Besuchen freigeblieben war, wagten nicht, uns zur Ruhe zu begeben. Der Vater saß still am Fenster und horchte auf jedes Geräusch draußen. Marie schmiegte sich in ihrer Angst vor den französischen Soldaten an mich; sie zitterte an allen Gliedern und weinte, so liebevoll ich ihr auch Muth und Trost zuzusprechen nicht müde wurde. Sie fürchtete noch immer, daß auch unser Haus entdeckt und dann von plündernden rohen Soldaten heimgesucht werde. Sie bat sogar unter Thränen: ‚Laßt uns in den Wald fliehen, tief hinein! Dort werden sie uns nicht suchen, nicht finden; mögen sie hier rauben, was ihnen gefällt!‘
‚Noch ist uns ja kein Leid geschehen, Marie,‘ antwortete der Vater, ‚noch ist unser Haus nicht einmal entdeckt worden, und vielleicht ziehen die Soldaten ab, sobald es Tag wird.‘
In diesem Augenblicke verkündigte die Uhr die zwölfte Stunde.
Gleich darauf hörten wir rasche Tritte vor unserem Hause und dann auch ein starkes Klopfen an der verschlossenen Thür.
Marie rief halblaut und unter starkem Zittern:
‚Mein Gott, sie kommen!‘
Dabei sank sie mit gefalteten Händen in die Kniee und betete, daß Gott uns schützen möge.
Der Vater stand auf, um die Thür zu öffnen, da das Klopfen immer stärker wurde.
‚Nicht aufmachen, Vater, nicht aufmachen!‘ bat Marie ängstlich.
‚Es ist nur ein Mann, wie ich sehe,‘ antwortete der Vater. ‚Weisen wir ihn ab, so kehrt er vielleicht zum Lager zurück und holt Andere, um die Thür gewaltsam zu öffnen.‘
Er ging, um die Thür zu öffnen.
‚Ein Bett! … Schlafen … eine Stunde!‘ hörten wir draußen den Fremden in gebrochenem Deutsch sagen.
‚Treten Sie ein!‘ antwortete der Vater, indem er den Mann eintreten ließ, wohlbedacht aber die Thür hinter ihm wieder schloß und bald darauf mit ihm in unserem Zimmer erschien, in dem nur eine kleine Lampe brannte.
Der Fremde war ein Franzose, ein höherer Officier, von Wetter gebräunt, von Pulver geschwärzt, mit kleinen stechenden Augen und harten Zügen. Er mochte etwa in den Fünfzigern sein und machte den Eindruck, als sei er sehr ermüdet und übler Laune.
Der Vater sah ihn lange aufmerksam und kopfschüttelnd an.
‚Ein Franzose!‘ sagte Marie im Tone des Entsetzens, indem sie sich zu mir schutzsuchend flüchtete.
[797] ‚Ja, Franzose!‘ antwortete der Officier. ‚Vive l’empereur! Ein Bett! Schlafen – eine Stunde!‘
Und er näherte sich bei diesen Worten Marie.
Sie trat noch weiter zurück, als fürchte sie schon seine Nähe. Er lächelte gezwungen und versuchte ihr in das Gesicht zu sehen. Sie hielt den Kopf tief gesenkt. Da streckte er die Hand nach ihr aus, faßte sie am Kinne und richtete ihr den Kopf empor. Kaum hatte er einen Blick in ihr Gesicht gethan, so blieb er starr vor ihr stehen und schaute sie forschend unverwandt an.
‚Wunderbar!‘ sagte er dabei halblaut vor sich hin.
Er hielt sie noch immer am Kinne fest, damit sie den Kopf nicht wieder senke, und dabei fiel ihm nun auch das Medaillon, das sie an diesem Tage, wie immer, am Halse trug, in das Auge.
‚Das Gold sehen!‘ sagte er erregt und griff hastig nach dem Medaillon.
Da fürchtete Marie wohl, er wolle ihr das theure Andenken an ihre Mutter einreißen; sie machte sich gewaltsam von ihm los und floh in das kleine Nebenzimmer da, aus dem, wie Du weißt, eine Thür in den Garten und von da in den Wald führt. Wollte sie sich in dem Stübchen in ihrer Angst einschließen, oder durch die Gartenthür in den Wald fliehen, ich weiß es nicht; sie wollte sich zunächst wohl nur dem Franzosen entziehen.
Dieser rief nochmals: ‚Das Medaillon!‘ und eilte der Fliehenden nach, ehe sie die Thür des Stübchens schließen konnte.
Wir, der Vater, welcher die Augen von dem Fremden nicht abwenden konnte, und ich, standen da und wußten nicht, was wir thun sollten. Wenn wir den Franzosen anfaßten, um ihn mit Gewalt zurück zu halten, reizten wir ihn vielleicht zu Thätlichkeiten. Ein Leid konnte Marie’n nicht geschehen, da wir ja im Nothfalle zu ihrer Hülfe in der Nähe waren. Ich rief ihr nur bittend zu, sie möge zurückkommen. Sie antwortete nicht. Sie stand drüben in dem Stübchen, wie ich wohl sah, in der fernsten Ecke, da wo die Gewehre hingen. Der Franzose, der, wie gesagt, ihr nachgeeilt war, trat rasch in ihren Versteck und auf sie zu.
‚Ne me touchez pas!‘ rief ihm Marie zu unserer nicht geringen Verwunderung zu, denn sie hatte lange Zeit kein französisches Wort über ihre Zunge gebracht.
‚Ah, vous êtes Française, vraiment?‘ entgegnete der Franzose in seltsam bewegtem Tone, und sein Eifer, Marie das Medaillon abzunehmen, schien sich zu verdoppeln. Schon streckte er die Hand wieder nach demselben aus, um es zu fassen. Da griff Marie in Verzweiflung oder Zorne nach einem der neben ihr an der Wand hängenden Gewehre und hielt dasselbe dem Franzosen zitternd entgegen.
‚Um Gottes willen, Marie!‘ rief ich ihr zu und wollte zu ihr eilen, um sie zu beruhigen und zu verhüten, daß vielleicht gar ein Unglück geschehe. Als ich den Fuß bereits über die Schwelle setzte, sah ich, daß der Franzose das Gewehr gefaßt hatte, um es ihr zu entreißen, und in demselben Augenblicke erschütterte ein Schuß das Haus. Das Gewehr hatte sich entladen und der Fremde stürzte, in die Brust getroffen, lautlos zu Boden.
Alles war das Werk einer Secunde gewesen.
Wir aber standen wie versteinert vor dem Grauenhaften und konnten es nicht fassen. Der Vater, der sogleich auch herbeigeeilt war, kam zuerst zu einiger Besinnung. Er trat zu Marie, die noch immer todtenbleich und regungslos dastand, die weit aufgerissenen Augen auf das Gewehr gerichtet, das sie noch in den zitternden Händen hielt, nahm es ihr ab und hängte es an die Wand, an die Stelle, von der sie es genommen hatte. Ich aber trat zu dem Daliegenden, überzeugte mich bald, daß kein Leben mehr in ihm sei, und sagte bebend: ‚Er ist todt.‘
‚Todt?‘ wiederholte Marie entsetzt. ‚Eine Mörderin bin ich? Aber ich bin nicht schuld an seinem Tode; ich drückte das Gewehr nicht ab – ich schwöre es vor Gott und bei dem seligen Geiste meiner Mutter.‘ Sobald sie ‚Mutter‘ gesagt hatte, stürzte ihr ein Strom von Thränen aus den Augen.
‚Was aber nun?‘ fragte der Vater. ‚Was sollen wir thun? Was wird uns geschehen? Man wird den Officier vermissen und suchen. Wenn man ihn hier findet – als Leiche, sind wir Alle verloren. Wir müssen den Todten wegschaffen,‘ fuhr er zu mir gewendet fort, ‚sogleich, ehe es zu spät wird. Man kann den Schuß draußen gehört haben. Wir müssen den Leichnam hinaustragen in den Wald und dort sogleich begraben.‘
Dann öffnete er das Fenster, damit der Dampf und Geruch vom Pulver sich verziehe, und als dies geschehen war, sagte er seufzend zu mir:
‚Fasse den Todten mit an, damit wir ihn hinwegtragen können! Erst aber ein Tuch auf das Gesicht, damit ich dasselbe nicht sehe, denn es weckt Erinnerungen in mir, die sich mir immer von Neuem aufdrängen, wenn ich sie auch mit Gewalt von mir weise und mir sage, es sei eine Täuschung und müsse eine Täuschung sein.‘
Er breitete das erste beste Tuch, das er fand, über das Gesicht des Todten.
Dann trugen wir ihn hinaus in den Wald, eine ziemliche Strecke weit, gruben da ein seichtes Grab und legten ihn hinein. Später pflanzte ich die Tanne darauf, die prächtig gedieh und nun, nach fünfzig Jahren, von dem Sturme entwurzelt worden ist.
Das war jene entsetzliche, furchtbare Nacht, und daß ich nie von ihr habe reden mögen, wird Dir nun erklärlich sein.
Aber noch war nicht Alles vorüber.
Als früh der Morgen zu grauen anfing, waren wir mit unserer grausigen Arbeit zu Ende und kehrten in das Haus zurück.
Marie war in demselben zurückgeblieben, denn der Vater hatte ihr aufgetragen, als wir die Leiche forttrugen, die dicke wollene Decke zu entfernen, auf welche der Franzose gefallen war, weil auf derselben wahrscheinlich Blutflecke sich befinden würden.
Als wir eintraten, lag Marie neben der allerdings blutigen Decke. Sie hatte dieselbe aufheben und hinwegtragen wollen, als sie aber das Blut daran erblickt, das sie vergossen hatte, war sie ohnmächtig niedergesunken.
Ich trug sie in ihr Bett und bemühte mich mit dem Vater, sie wieder in’s Leben zu rufen. Es währte eine lange Zeit, ehe sich ein Zeichen rückkehrenden Lebens und Bewußtseins erkennen ließ. ‚Ich sterbe,‘ waren die ersten Worte, die sie leise zu mir sprach. Kaum waren diese Worte über ihre Lippen, so vernahmen wir starkes Trommeln aus dem Dorfe drüben. ‚Sie kommen, sie kommen!‘ fuhr Marie in Todesangst fort. ‚Sie wollen mich holen. – Laß uns fliehen!‘
Sie konnte sich kaum regen, so matt war sie. Der Vater aber, der vielleicht auch fürchtete, daß die Soldaten eine Nachsuchung nach dem Officiere in den Häusern anstellen wollten, lief rasch in das Stübchen, um die mit Blut getränkte Decke zu entfernen, die noch immer dalag und Alles verrathen konnte.
Dann trat er vor die Thür des Hauses, um sich zu überzeugen, was das Trommeln bedeute; er kam sehr bald zurück, um uns zu melden, daß die Soldaten abmarschirten. ‚Gott sei Dank!‘ sagte er, ‚wir sind gerettet.‘ Die Töne der rasselnden Trommeln entfernten sich in der That mehr und mehr; die Franzosen zogen also wirklich ab. Ein Haus aber in dem Dorfe brannte; die Bewohner weinten und rangen die Hände. Auf den Feldern draußen, wo die Franzosen gelagert, zeigte sich ein fast noch traurigeres Schauspiel. Nicht genug, daß das Getreide zertreten war, Betten, Kleider, Kochgeschirre, Ueberreste von dem geschlachteten Vieh etc. lagen wirr unter einander. Die Morgensonne dagegen schien hell und warm in die Fenster unseres Hauses; einer ihrer Strahlen traf das Gesicht Mariens, die dalag blaß wie eine Leiche. ‚Wie ist Dir?‘ fragte ich sie theilnehmend.
‚Ach!‘ entgegnete sie, ‚ich möchte fliehen, fliehen vor mir selber. Ich bin eine – Mörderin.‘
Noch im Verlaufe dieses Tages, des Tages nach der grauenvollen Nacht, wurdest Du geboren und Marie, Deine Mutter, verfiel in eine schwere Krankheit. Lange schwebte sie zwischen Tod und Leben, und nur sehr langsam erholte sie sich; aber niemals konnte sie vergessen, was geschehen war. Niemals habe ich sie wieder lachen sehen, und nur bisweilen lächelte sie, wenn sie Dich, ihr Kind, erblickte. Mit Widerwillen und Grauen, und nur, wenn sie es nicht vermeiden konnte, betrat sie das Nebenstübchen, in welchem die That geschehen war, und niemals wagte sie sich in die Nähe der Stätte im Walde, wo wir den Todten begraben hatten. In der Nacht, im Schlafe fuhr sie oft auf und rief angstvoll nach Hülfe. Der Wurm, der an ihr nagte, zehrte unablässig an dem Marke ihres Lebens und so [798] starb sie frühzeitig, als Du zehn Jahre alt warst, wie Du Dich erinnern wirst. Von dem Franzosen, der draußen unter der Tanne den Todesschlaf schlief, haben wir niemals etwas vernommen; es scheint keine Nachforschung nach ihm angestellt worden zu sein; mein Vater aber sagte oft: ‚sein Gesicht schwebt mir immer vor, und wenn die Muthmaßung, die sich mir stets aufdrängt, nicht gar zu gräßlich wäre, würde ich sie, wenigstens gegen Dich, ausgesprochen haben, um keinen Preis möchte ich sie aber Marien nur andeuten, denn, wenn ich es thäte, würde sie sicherlich vor Schmerz und Grauen sterben oder wahnsinnig werden.‘“
„Und Du hast nie erfahren, was er meinte?“ fragte der junge Förster seinen Vater.
„Ich erfuhr’s erst kurz vor seinem Tode,“ antwortete dieser, „auf seinem Sterbebette, begann er: ‚Ich muß Dir nun offenbaren, was mir so lange schwer auf dem Herzen gelegen hat, so schwer, daß ich es allein kaum ertragen konnte. Als der französische Officier in jener Nacht Einlaß in unser Haus begehrte und ich seine Stimme vernahm, weckte ihr Klang Erinnerungen aus längst vergangener Zeit in mir, aber sie wurden mir nicht deutlich; als ich dann sein Gesicht sah, wußte ich, daß ich dasselbe sehr oft gesehen, daß ich es sehr wohl gekannt, daß es aber verändert, sehr verändert sei. Als er hier im Zimmer Marien scharf und starr ansah, als er vor sich hinsprach: ‚wunderbar!‘ als weckten ihre Züge in ihm ebenfalls Erinnerungen auf, und zumal als er hastig nach ihrem Medaillon faßte, wurde mir es fast über allen Zweifel klar, wer der Fremde sei. Als er dann, von der Hand Mariens getödtet, im Stübchen lag, faßte mich ein so gewaltiges Grauen, daß ich sein Gesicht nicht noch einmal sehen mochte. Ich bedeckte es mit einem Tuche, damit nicht etwa meine schreckliche Ahnung noch mehr bestätigt werde. Sie ganz zurückzudrängen habe ich nie vermocht, die entsetzliche Ahnung, daß der Fremde kein anderer war als …‘
Er flüsterte den Namen so leise, daß ich ihn kaum verstand. Ich erschrak so, daß ich vor Grauen und Entsetzen aufsprang. Wenn ich auch glauben mußte, daß mein Vater wohl bedacht habe, was er sprach, habe ich doch immer gezweifelt, daß es die Wahrheit gewesen, die er gesagt; jetzt aber, da der Ring in so wunderbarer Weise an’s Licht gebracht, zweifle ich nicht mehr. Das Wappen, das in den Stein eingeschnitten ist, kenne ich sehr wohl; ich habe es ja gar oftmals gesehen auf anderen im Besitze unserer ehemaligen Herrin befindlichen Ringen und in Abdruck auf Siegeln; es ist das Wappen des Gemahls unserer Herrin, des Mannes, den sie, wie Du gelesen, so heiß haßte, der sie aus der Heimath vertrieben und der ihre Güter sich angemaßt, des Mannes, vor dem sie um jeden Preis ihre Tochter schützen wollte. Gott sei Dank, daß dieser, ihrer Tochter, erspart worden ist auch nur zu ahnen, daß der Mann, vor dem sie sich so sehr fürchtete, den sie durch ihr Gesicht wahrscheinlich an ihre Mutter erinnerte und der jedenfalls aus dem Medaillon das Bild des Schlosses erkannte, in welchem sie zusammen gewohnt, daß der Mann, den sie – wenn auch ohne ihre Schuld – erschossen hat – ihr Vater war, der im französischen Heere mit hierher gekommen!
Die Wege des Herrn sind wunderbar.“