Naturdenksäulen deutscher Vergangenheit
Wer auf der Heerstraße von Paderborn nach dem Lippe-Detmoldischen Lande trachtet, den begrüßen aus weiter Ferne die Höhenzüge und Hügelwellen des Teutoburger Waldes, dessen alte Ehren in jedem deutschen Knaben den ersten Stolz auf die Geschichte seines Vaterlandes erwecken. Von der Geschichte bis zurück zur Sage und zur alten Götterlehre der Germanen reichen die Erinnerungen und Wahrzeichen dieses großen Waldes. Heißt er doch selbst im Munde des Volkes der Osning oder der Osnegge, von den nordischen Asen, den Göttern, als deren liebster Aufenthalt er gefeiert wurde. Wer aber auf ihn niederschauen könnte, wie auf eine Landkarte, vor dessen Auge würde ein stattliches Bild sich aufrollen. Denn der Teutoburger Wald, oder der Osning, erhebt sich zuerst bei Stadtbergen an der Diemel über das Flachland, streicht dann bis Veldrom von Süden nach Norden und wendet sich darauf von Südost nach Nordwest, bis das Gebirge sich bei Osnabrück und Reine im Sande verliert. Diese Richtungen verfolgt es in drei ziemlich parallel laufenden Höhenzügen, die für uns besonders bemerkenswerth durch ihre Formation sind. Die äußere östliche Kette besteht nämlich aus Muschelkalk, die mittlere aus Quadersandstein, die äußere westliche aus Kalk. Wer nun auf der Heerstraße von Paderborn nach Detmold den zweiten dieser Höhenzüge, und zwar am östlichen Ende desselben, am Knickenhagen, erreicht hat, der bleibt plötzlich vor einem Naturbau stehen, welchen der Quadersandstein zu seinen eigenen Ehren hier errichtet zu haben scheint. Wir stehen vor den berühmten Extern- oder Eggesterensteinen bei Horn am Lippischen Walde.
Eine Viertelstunde von der kleinen lippischen Stadt Horn ragt nämlich eine Reihe von einzelnen, freistehenden Sandsteinfelsen auf, die, ungleich an Höhe und Gestalt, aber alle kahl und zerrissen, sich fast eine Viertelstunde lang von Nordwest nach Südost hinziehen [380] und deren größte einen Anblick gewähren wie ungeheuere Trümmer und Säulen einer Riesenmauer.
Wenn man einzelne kleinere Felsbrocken unbeachtet läßt, so kann man 13 einzelne Felsen unterscheiden, welche die Reihe der Externsteine bilden. Von diesen sind die östlicheren oft durch weite Zwischenräume getrennt, während im Westen die größten und sehenswürdigsten Felssäulen, und zwar fünf an der Zahl, eine eng- geschlossene Gruppe darstellen, wie unsere Abbildung dies zeigt. Wir sehen zur Rechten den äußersten dieser Felsen, den merkwürdigsten von allen. Er erreicht an seiner westlichen Seite, da, wo sein Fuß sich in einem neuausgegrabenen Teiche spiegelt, eine Höhe von 125 Fuß, während seine östliche Seite 80–90 Fuß hoch emporragt. Uns selbst wendet er seine nördliche Wand zu, mit seinem denkwürdigsten Schmuck, einer der ältesten Bildhauerarbeiten Deutschlands, von welcher wir unsern Lesern hier eine besondere Abbildung mittheilen.
Diese „Kreuzabnahme“ ist an sich ein höchst beachtenswerthes Werk. Obwohl roh in der Reliefausführung, muß doch Gedanke und Composition dieses Bildwerks vortrefflich genannt werden und bestätigt die Annahme, daß es nur von den tüchtigen Meistern, welche zu Anfang des 12. Jahrh. in Paderborn am Dome arbeiteten, herrühren könne. Eine im Jahre 1838 von Bandel entdeckte und von Maßmann erklärte Inschrift sagt: „Im Jahre der Menschenwerdung des Herrn 1115 hat der Bischof Heinrich von Paderborn dieses Heiligthum eingeweihet.“ Es zerfällt in zwei Abtheilungen, eine untere, welche den Sündenfall (Adam und Eva von einer Schlange umwunden), und die obere, welche die Erlösung durch Christi Tod darstellt. Eine Beschreibung nach dem Original ist die folgende: Zur Rechten des Kreuzes steht Joseph von Arimathia, welcher mit Nicodemus den Leichnam des Gekreuzigten sich erbeten hatte, auf einem so zierlich und schön gezeichneten Stuhle, wie er noch heute nicht geschmackvoller erdacht werden könnte. Joseph hat den Leichnam oben vom Kreuze losgemacht und hält dasselbe noch mit dem rechten Arme umschlungen. In seinem Antlitz prägt sich tiefes und wehmüthiges Nachsinnen aus. Links hat Nicodemus die schwere Last des Heilandes auf sich genommen, und neben ihm steht, vorgebeugt, in langem schöngefaltetem Gewande die Madonna. Leider ist das sehr beschädigte Bildwerk gerade an dieser Stelle am härtesten mitgenommen; das Haupt der Maria fehlt ganz. (Ueber diesen Theil des Bildes sagt Goethe: „Vorzüglich loben wir den Gedanken, daß der Kopf des herabsinkenden Heilandes an das Antlitz der zur Rechten stehenden Mutter sich lehnt, ja durch ihre Hand sanft angedrückt wird; ein schönes, würdiges Zusammentreffen, das wir nirgends wieder gefunden haben, ob es gleich der Größe einer so erhabenen Mutter zukommt.“) Ihr gegenüber, auf der rechten Seite des Kreuzes steht, ebenfalls in langem Gewande mit gutem Faltenwurf, der treue Jünger Johannes. Ueber dem linken Arme des Kreuzes erscheint Gott der Vater mit einem edlen Antlitz voll Ernst und Theilnahme; er trägt die Seele des Heilandes als Jesuskindlein angedeutet an der Brust und hält zugleich mit der Linken eine Siegesfahne, während die Rechte wie segnend nach unten ausgestreckt ist. Unmittelbar neben Gott dem Vater zeigt sich die Sonne mit ihrem weinenden Engel hinter einem herabhängenden geschmackvoll drapirten Schleier halb verhüllt. Ihr entsprechend steht rechts der Mond, dessen Engel, ebenfalls umschleiert, mit der Hand sich die Thränen abwischt. Alle Figuren des Bildwerks sind richtig vertheilt, alle Räume zweckmäßig benutzt, die Gesichter voll Ausdruck und selbst die Gestalten nur in sehr wenigen Partien verzeichnet. Dieses Kunstwerk aus uralter deutscher Zeit verdient in vollem Maße die Liebe und Sorge, die seiner Erhaltung jetzt gewidmet wird.
Neben dieser Kreuzesabnahme sehen wir zwei große Oeffnungen im Felsen. Es sind dies Zugänge oder Fenster zweier lief in das Gestein eingearbeiteter Grotten. Die größere derselben, 36 Fuß lang, 11 Fuß breit und in der Wölbung 8–9 Fuß hoch, krümmt sich von der Nord- zur Ostseite hin und hat vier Eingänge. Neben dem östlichen Eingang steht die kolossale, aber schlecht erhaltene Figur des Apostels Petrus am Felsen. Neben der größern geht noch eine kleinere Grotte in den Felsen hinein, die sich jedoch an ihrem Ende in jene öffnet. Jene nennt man „Kirche“, diese „Seitenkapelle“. Auf diese frühere Bestimmung der Grotten deutet ein Weihwasserbecken hin, das in die Wand, und ein Taufbecken, das in den Boden eingemeißelt ist. Auf den Rücken dieses Felsen steigt man mit Hülfe einer außen eingehauenen Wendeltreppe von 88 Stufen. Bemerkenswerth ist noch die außerordentliche Wirkung des Wiederhalls auf dem Gipfel und am Fuß dieses ersten und mächtigsten Externsteins.
Sein Nachbar ist ein thurmartiger höherer Koloß, der nach Westen hin stark überneigt. Ersteigbar ist er nur mit Hülfe seines nächsten Nachbarn, des dritten Steins. Auf den Gipfel desselben führt eine in den Fels gehauene Treppe, und von diesem gelangt man mittelst einer Brücke hinüber zum zweiten Stein und zwar gerade auf einen Vorsprung, der abermals zu einer Kapelle führt, die sicher nicht ohne große Gefahr an dieser Stelle aus dem Felsen herausgemeißelt werden konnte. Sie ist 18 Fuß lang, 11 Fuß breit und mit einem 2 ½ Fuß langen, ebenfalls aus dem Stein gehauenen Altartisch versehen. – Ein 8 Fuß hoher, ausgehöhlter und mit Stufen versehener Felsblock am Fuß dieses zweiten Steines heißt die Kanzel.
Zwischen dem dritten und dem östlich davon emporragenden vierten Externsteine zieht die Heerstraße von Paderborn in’s Lipperland weiter hinein, und östlich neben beiden schließt ein fünfter Stein, beide an Höhe und Umfang bedeutend übertreffend, den sehenswerthesten Theil der ganzen Gruppe ab.
Der Ursprung der Steine und ihres Namens (oder ihrer Namen, denn sie kommen auch als Eggester-, Agister-, Egister-, Exster- und Egerstersteine in den Schriften vor) liegt noch in ungeklärtem Dunkel. Die Gelehrten halten diese freien Säulen für die Trümmer eines Sandsteinlagers, das hier von gewaltigen Fluthen ausgewaschen, zerrissen und durchbrochen worden sei, und den Namen erklären sie als Steren-, d. h. Sternsteine an der Egge, wie der Osning im Paderbornschen genannt wird.
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[382] An diese grauen und geheimnißvollen Naturdenksäulen verlegt die Sage den Dienst der deutschen Götter, sie weiht sie zur Stätte, wo des Varus Römerlegionen ihr letztes Schicksal ereilte, wo die siegjubelnden Schaaren Hermanns die gefangenen Tribunen und vornehmsten Hauptleute der Römer den Göttern an ihrem Heiligthume opferten; selbst für die germanische Wahrsagerin Velleda öffnet die Sage hier geheime Hallen, läßt auch die Irmensäule hier gefunden werden und nimmt den alten Kaiser Karl unter die Gestalten auf, mit denen sie die Vergangenheit dieser Felsthürme schmückt. Hier sieht das Volk noch heute den Ort, wo er die Opferaltäre der mannhaften heidnischen Sachsen zerstörte und mit blutigem Schwerte dem Christenthum eine Stätte weihte.
Mit dem 11. Jahrhundert beginnt die Zeit der Urkunden über die Externsteine. Wir finden sie im Besitz des Klosters Abdinghof, dem kirchlichen Dienst geweiht und allen Wundern und Wunderlichkeiten der religiösen Sage erschlossen, und damit das Romantisch-Grauenhafte nicht fehle, müssen Mönche und Eremiten die Höhlen am Tage zum Beten und bei Nacht zu Mord und Raub an den friedlichen Wanderern benutzen. Trotz alledem blieben die Kirchen und Kapellen der Externsteine vielbesuchte Wallfahrtsorte, bis die Reformation ihnen die Thore schloß.
Seit dem 17. Jahrhundert lenkte der Blick der regierenden Landesherrschaft von Lippe sich den vielgefeierten Naturherrlichkeiten zu. Sie ließen (zuerst ein Graf Hermann Adolph) Jagdschlösser dort bauen, die Felsen ersteigbar machen und sie endlich sogar mit schönen Anlagen umgeben, wozu auch der anmuthige Teich unter dem ersten Felsen gehört.
Die Fürstin Pauline von Lippe-Detmold machte auch der Gefahr, mit welcher hier eine böse Sage ihre Dynastie bedrohte, rasch ein Ende. Da steht auf dem vierten Felsen, gerade auf die Heerstraße herabdräuend, ein schier amboßförmiges Felsstück, anscheinlich so locker und leicht vorgeneigt, daß man ihm wohl die schändliche Absicht zutrauen könnte, daß es einmal eine Landesmutter aus dem lippeschen Grafenhause erschlagen wolle. Um diesem Verbrechen der erhabenen Natur vorzubeugen, bestiegen starke Männer den Fels und versuchten mit aller Kraft den gefährlichen Amboß der sagenhaften Schicksalsschmiede in die Tiefe zu stürzen. Aber vergeblich. Der Block wich nicht und wankte nicht. Darum schickte man die Schmiede von Horn über ihn, die legten ihm eiserne Fesseln an und klammerten ihn fest an seinen Felsstock, so daß fortan jede Landesmutter mit beruhigtem Herzen unter ihm weilen und wandeln kann.