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Pater Gregor

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Textdaten
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Autor: E. Werber
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Titel: Pater Gregor
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aus: Die Gartenlaube, Heft 4–5, S. 67–71, 87–90
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[67]
Pater Gregor.
Ein Seelengemälde von E. Werber.

Das Andenken dieses Mannes brennt in mir wie ein ruhiges, stummes, düsteres Feuer. Zuweilen, am Tage und unter den Menschen, fühle ich es nicht, aber in der Nacht und in den Einsamkeiten, da macht es mir heiß. Pater Gregor, dein Bild steht unverrückbar in meiner Erinnerung. Aber es ist recht so. Bleib in mir, du Mann von Feuer!

Pater Gregor war ein Kapuziner, und ich war auch einer. Unser Kloster, eines der ältesten, hing am schmalen, grasigen Abhange eines viertausend Fuß hohen Felsengebirges. Aus kleinem Anfange nach und nach auf unregelmäßige Weise vergrößert, bot es, vom Thale aus gesehen, einen malerischen Anblick. Hinter der hohen Mauer erhob sich unter braunen Ziegeldächern das zwei Stock hohe, weiß angestrichene Gebäude; nicht ganz in der Mitte glänzte auf dem schlanken, dunkelrothen Thürmchen der kleinen Mönchscapelle eine vergoldete Kugel und über ihr ein Kreuz. Hinter dem Kloster stieg das Gebirg jäh hinan, so jäh, daß die Tannen, welche es hier und dort streifenweise bedeckten, stets eine über der andern standen. An der Mönchscapelle lehnte, größer und höher als diese, aber ohne Thurm, die Kirche, mit frommer Armuth geschmückt. Die Kirche war für Jedermann offen, und diese Seite des Klosters hatte keine Mauer. Man gelangte zu ihm auf zwei steilen, steinigen Pfaden, die sich vor einem runden Platze vereinigten, wo ein zweihundertjähriger Kastanienbaum seine Aeste beinahe bis zum Eingang der Kirche hinüber streckte. Hier befand sich die niedere Klosterpforte von braunem Holze in einer kurzen, durch ein Vordach geschützten Gallerie, zu welcher sechs Stufen emporführten. Durch diese Pforte gelangte man in den langen, mit Backsteinen gepflasterten Gang, dessen Fenster auf den Blumengarten gingen, welcher sich beinahe bis zur Felsenwand erstreckte. In der Felsenwand hatten Schnee und Regen tiefe Rinnen ausgewaschen, in welchen im Sommer nach heftigen Gewittern, aber besonders im Frühling, wenn die Sonne den Schnee küßte, die Wasser herabrauschten und zwischen den Granitblöcken hervorsickerten. Dann hörte ich in ruhelosen Nächten aus meiner Zelle vielfältige Wasserstimmen, und sie vermischten sich mit den Stimmen, die nach und nach in meiner Seele sich erhoben und mir bange machten. Die Felswand hatte einen zerrissenen Kamm, und unterhalb des Kammes traten mehrere große Blöcke hervor und schauten mit furchtbarer Grimasse auf das Kloster und das enge Thal hinab. Einer ganz besonders, zwischen zwei andern Felsen eingeklemmt, gewaltig, schwarz und geborsten, war wie der Rachen eines versteinerten Ungethüms.

Auf der Thalseite und rechts waren wir von zehntausend Fuß hohen Schneebergen umgeben. So groß, so gewaltig stehen sie dort, als könne keine Welt mehr dahinter sein! Links tritt ein schwarzer zackiger Fels mit fünf Nasen trotzig in das Thal herein, und neben ihm stürzt ein dunkler Wildbach tosend über Felsblöcke und Geröll. Jene Schlucht erschien mir immer wie der Eingang zum Reiche der Verdammten. Wenn ich lange gespannt dorthin geblickt hatte, dann dürstete ich nach der Holdseligkeit! Wir hatten eine Holdseligkeit im Kloster – eine junge Muttergottes. Sie hing in schwarzem Rahmen im unteren Gange, zwischen dem heiligen Franziscus mit der Kapuzinerkutte und dem Apostel Paulus. Die Fenster des Ganges befanden sich in einer Nische und hatten aus vielen runden, mit Blei eingefaßten Glasstücken zusammengesetzte Scheiben, welche nicht viel Licht in den Gang hereingossen, aber das Muttergottesbild brauchte nicht viel Licht, denn es war selber hell und strahlend.

Die heilige Maria ging über’s Wasser, und die Wellen hielten ganz ruhig unter dem Zauber von Maria’s frommem Herzen. Sie hielt ihr Röcklein mit der Rechten, und ihre rosigen Füßchen spiegelten sich im Wasser; auf ihr lichtblaues Gewand fiel unter einem röthlichweißen Kopftuche das schöne goldbraune Haar, und über ihrem Scheitel schwebte der zarte Feuerschein der Heiligkeit. Ihre Stirn erglänzte von Unschuld, und auf ihrem Munde lag die himmlische Liebe. Maria ging mit gesenktem Blicke, und es quälte mich, ob ihre Augen wohl blau oder schwarz waren. „O, wenn sie die Lider doch einmal aufschlüge!“ dachte ich.

Als ich in jenes Kloster, eine Filiale des Hauptklosters, eintrat, war ich sechsundzwanzig Jahre alt und seit acht Jahren Kapuziner. In meinem zwölften Jahre trat ich in ein geistliches Seminar und sechs Jahre später in den Kapuzinerorden. Die Kapuziner beschäftigen sich mit Gebet, Predigt und Beichtehören, mit Brodaustheilung für die Armen, mit dem Besuche der Kranken und dem Studium der Wissenschaften. Die Filiale im Gebirge war eine mühsame Station; zuweilen wurden die Patres in der Nacht zu Kranken und Sterbenden auf einsame Gehöfte und Hütten gerufen, im Schnee und Regen. Nicht Alle hielten diese Mühsale aus; da ich jung und kräftig war, sandte man mich dorthin an die Stelle eines kränklichen Paters. Es waren nur vierzehn Kapuziner in der Filiale; der Stellvertreter des Priors war Pater Gregor. Als ich ihn zum ersten Male sah, ging mir ein Zittern durch alle Nerven, aber es war nicht das Zittern der Furcht, sondern das der Anziehung. Er machte weniger den Eindruck eines Mönches, als den eines Mannes, der schwer gelitten und der eine ungeheure Gewalt über sich selbst hat. Seine großen, dunkeln, tiefliegenden Augen hatten den durchdringendsten Blick, den ich je gesehen. Pater Gregor schlug, wenn man mit ihm sprach, die Augen langsam auf, aber waren sie einmal offen, dann hefteten sie sich auf das Gesicht des Sprechenden mit einer Gewalt und einer Feuertiefe, die nicht Jeder ertragen mochte. Pater Gregor sprach wenig, aber was er sprach, war voll Kraft und trauriger Hoheit. Er war mittelgroß und kräftig gebaut, allein sein Nacken war gebeugt. Er trug den Kopf wie Einer, der gern an den Tod denkt. In seinem Gesichte war Alles schön und bedeutend, der Knochenbau [68] fein, die Stirn mächtig, die Nase edel, der Mund reich und fest, aber in manchen Augenblicken verschwand dies Alles vor der Gewalt seiner Augen. Wenn er einem Redenden zuhörte – und er verstand es, zuzuhören – dann war es, als ob er nicht mit dem Ohre, sondern mit dem Auge hörte. Manche seiner Befehle gab er nicht mit Worten, nur durch einen Blick und eine Handbewegung.

Pater Gregor war in seinem fünfunddreißigsten Jahre in den Orden getreten und stand jetzt im fünfzigsten; die gebeugte Haltung seines Kopfes und sein ergrauender Bart ließen ihn älter erscheinen, als er war. Er predigte nicht gern und nicht oft; dagegen war er ein eifriger Beichtehörer und Besucher der Kranken. Wenn wir um Mitternacht zum Gebete in der Capelle zusammentrafen, war Pater Gregor der Einzige, auf dessen Zügen die Spur des Schlafe nicht lag, und kam er von einem mühseligen Gang im Gebirge zurück, so war sein Schritt so fest und würdevoll wie immer. Manche Tage las er viel, zuweilen blickte er mit unbeschreiblichem Ausdruck zu den Bergen hinüber, wo die Spitzen und Grate schwarz oder dunkelroth aus dem Schnee ragten. Pater Gregor hatte eine Vergangenheit, aber Keiner erfuhr sie je – er hatte sie in seiner Seele begraben. Es muß entsetzlich sein, wenn die Todten aufstehen. Ich glaube, in Pater Gregor’s Seele standen sie manchmal auf und versuchten seine Stärke, denn er hatte Tage, wo er den Kopf noch tiefer als gewöhnlich trug, und wenn er dann die Augen langsam aufschlug, so war es, als ob sie sagten: Es ist begraben. –

Ich litt seit einigen Monaten an einem seltsamen Heimweh, am Heimweh nach dem Unbekannten. Ich hatte nichts von der Welt gesehen; die Gleichgültigkeit, mit der ich stets zugehört hatte, wenn Einer oder der Andere der Patres von weltlichen Verhältnissen sprach, hatte mich an dem Tage verlassen, an welchem ich dem Pater Gregor zum ersten Male gegenüber gestanden. Da schlug ein Gewitter in meine Seele. O, hinter jenen Bergen, die ich niemals überschritten, lag gewiß in süßem Dufte ein Paradies voller Wohlgerüche, voll Farben und Musik. Pater Gregor war darin gewesen – ich fühlte es. Das Schweigen, welches auf ihm lag, verbarg, was er geschaut und gehört hatte, allein es verbarg nicht, daß er geschaut und gehört hatte.

Wie war ich arm in meiner Unerfahrenheit! Und wenn der Himmel vielleicht nicht so war, wie meine fromme Seele ihn noch glaubte, wenn im Vertrauen auf ein anderes, besseres Leben ich dieses versäumte! Wenn die Welt vielleicht nicht so schlimm war, wie man mir gesagt! – Ich hatte im Beichtstuhle stets so unschuldige Sünden bekennen und sie so aufrichtig bereuen gehört. Die Menschen waren außer dem Kloster gewiß nicht schlimmer, als die Menschen im Kloster. Wenn ich meine Lebenskraft und mein Leben an einen Wahn vergeudet hätte! O – wenn ich einmal zu dieser Erkenntniß käme – ich müßte wahnsinnig werden!

Diese Gedanken arbeiteten in mir wie die Wasser in den Felsenschichten, wenn sie dieselben lockerten. Eine heimliche Verzweiflung schüttelte mir manchmal das Herz, und die düstere Umgebung des Klosters goß alle ihre Traurigkeit in meine Seele. Die Kapuziner haben keine Orgel und keinen Gesang; nie hörte ich andere Musik, als das Heulen des Südwindes; wenn er aus der Schlucht hervor raste, und der ärmliche Ton unseres Glöckleins läutete mir nur Schwermuth in’s Herz.

Pater Gregor bemerkte, daß etwas in mir vorging: er zeigte mir zwar keine besondere Theilnahme, aber sein Auge ruhte oft mit erkenntnißvollem Blicke auf mir. Wenn er mir einen Auftrag gab, so schien mir seine tiefe Stimme weicher zu klingen als wenn er zu den Anderen sprach, und eines Tages sagte er zu mir:

„Pater Josias, ich meine, Ihr sitzet zu viel und brütet über den Büchern! Ich will Euch eine andere Beschäftigung geben: helfet dem Bruder Anton bei der Gartenarbeit!“

Darauf reichte er mir die Hand und drückte sie und dieser Druck sagte: Ich verstehe Dich.

Pater Anton war der glücklichste aller Kapuziner; er liebte die Blumen, wie ein Vater seiner Kinder liebt, und sein Leben verfloß in Gebet und Blumenduft. Er hatte ein fünf Fuß hohes, freistehendes Rosenspalier gezogen, welches durch die ganze Länge des Gartens lief, und wenn in manchen Stunden durch den Einfluß der Atmosphäre diese Rosen ganz besonders stark dufteten, dann sagte er: „Die Rosen beten!“

Es ergriff mich, aber ich glaubte ihm nicht. Der Rosenduft drang ganz anders in meine Sinne. Es war kein Gebet, es war ein stiller Rausch. Pater Anton war nicht mit mir zufrieden.

„Er hat heftige Hände und thut den Blumen weh,“ sagte er zum Pater Gregor.

Da rief mich dieser zu sich. Er hatte mich am Vormittag vor der Maria, welche über’s Wasser geht, stehen gefunden und seine Hand leise auf meine Schulter legend gesagt:

„Pater Josias, studiret Ihr die Malerei?“

Ich hatte nichts darauf geantwortet, sondern war gesenkten Blickes in’s Oratorium, wie wir die Capelle nannten, gegangen, wo ich das Vorgebet zu sprechen hatten. Aber meine Augen trübten sich; die Buchstaben im Brevier wurden wie Feuer, Feuer schoß auch in meinen Kopf; meine Hände wurden eiskalt und schwach, und meine Stimme erlosch.

„Pater Josias, Ihr fühlet Euch unwohl; geht in Eure Zelle hinauf!“ sagte Pater Gregor.

Taumelnd erstieg ich die Treppe, und in meiner Zelle warf ich mich mit dem Angesicht auf den Boden.

„Weh!“ schrie es in mir, „ich bin verloren. In wessen Gewalt bin ich? Engel, an die ich nicht mehr glaube, kommt mir zu Hülfe! Maria, die über’s Wasser geht, nimm mich an der Hand, damit ich nicht ertrinke! Schlage Deine Augen auf und zerschmettere mich mit einem Blick voll himmlischen Zornes! Und von Deinen Lippen nimm die Süßigkeit hinweg, die mich vergiftet!“

Ein Krampf in der Brust verschlang das Uebermaß meines Seelenleidens; ich erhob mich und riß das Fenster auf. Die Berge waren von einem blaßgoldenen Dufte überhaucht, ihre Schrecknisse gemildert, ihre herben Formen verschleiert. Das that mir wohl. Das Herz wurde mir weich, und ich konnte weinen. O Thränen, wohlthätige Löserinnen der Qual!

Als ich am Nachmittage in Pater Gregor’s Zelle trat, stand er sinnend am Fenster. Ich fühlte, daß die Stunde gekommen war, in der ich sprechen mußte, und es war mir recht.

„Ihr leidet, Pater Josias?“ fragte er mit theilnehmendem Tone.

„Ja, ich leide.“

„Woran leidet Ihr?“

„An einem Weh, das keinen Namen hat.“

Pater Gregor griff gesenkten Blickes in seinen langen Bart.

„Es ist kein körperliches Weh, nicht wahr?“ fragte er.

„Nein, Pater Gregor. Ich bin krank im Gemüth.“

„Seit wann?“

„Verzeihet die Kühnheit, mit der ich Euch jetzt antworten werde. Ich bin krank, seit ich Euch sah.“

Pater Gregor blieb eine Weile stumm, dann sagte er:

„Erkläret mir das!“

„Ihr habt den Menschen im Mönch erweckt.“

„Ich erinnere mich nicht, jemals mehr mit Euch gesprochen zu haben, als mit den andern Patres.“

„Ihr thatet es nicht – es ist wahr, aber Ihr seid mächtig, auch wenn Ihr schweiget. Es ist etwas ganz Besonderes über Euch ausgegossen, etwas, was sonst die Mönche nicht haben – Pater Gregor, ich fühle, daß Ihr das Leben draußen in der Welt mit allen Euren Kräften genossen habt – und das hat mich zum Nachdenken geführt und hat mir Zweifel an meinem Beruf zum Klosterleben und eine brennende Sehnsucht nach jenen irdischen Paradiesen in’s Herz gepflanzt, die mir für immer verschlossen sind.“

„Die irdischen Paradiese!“ wiederholte er sanft. „Pater Josias, kannst Du mir sagen, was Du Dir unter einem Paradiese vorstellst?“

„Das Gegentheil vom Kloster.“

„Du bist ein aufrichtiger Kapuziner, Pater Josias. Also, eines Deiner Paradiese wäre zum Beispiel: Die Freiheit der Bewegung?“

„Ja!“

„Ein anderes: Die Geltung Deiner Person?“

„Ja!“

„Noch ein anderes: Die geistige Freiheit?“

„Ja!“

„Dann: Der Verkehr mit den Menschen, die Vergnügungen, die Reisen, das Gewühl, die feinen Sitten, die Künste, die [70] Freunde und – das Weib? – Du hast nicht mehr den Muth ‚Ja!’ zu sagen?“

Ich schwieg.

Pater Gregor ging ein paar Mal auf und ab, dann stellte er sich dicht vor mich und fragte:

„Bist Du ehrgeizig?“

„Ich weiß es nicht.“

„Prüfe Dich: wenn Du wüßtest, daß Du einmal Prior würdest, ein Mann von Würde und Macht, der viele Fäden in seiner Hand hält und Großes zum Gedeihen der Menschen und der Kirche damit schaffen kann, würde das Kloster Dich dann mehr befriedigen?“

„Aber mein Herz, mein Herz!“ rief ich.

„Dein Herz? Du darfst ja alle Menschen lieben. Sind alle Menschen nicht genug für Dein Herz?“

„Pater Gregor, was bekomme ich von ihnen?“

„Ah, Du verlangst Erwiderung. Wenn Dir ein Kranker, dem Du Hülfe geleistet und Trost zugesprochen, die Hand küßt und Dich segnet, so ist Dir das nicht genug? Du willst, daß er Dich mehr liebe, als alle Anderen, daß er sich in Dir vergesse, wie Du Dich in ihm vergaßest? Du denkst, draußen in der Welt liebt man die Menschen nicht umsonst. Du denkst, dort findet jedes Gefühl eine Erwiderung, jeder Liebesbeweis eine Anerkennung. Pater Josias, Du hast noch nichts vom Leben genossen; Du bist jung und dürstest nach – nach den Genüssen. Ich begreife das. Aber Du weißt, daß Du ein Gelübde auf Leben und Tod geleistet hast, und daß Du das Kloster nur durch die Flucht verlassen kannst.“

Als ich schwieg, sagte er:

„Sieh mich an! Siehst Du, was die Paradiese, nach welchen Du lechzest, aus mir gemacht haben? Ich will Dir sagen, was man in jenen Paradiesen findet: Leiden, Leiden, Leiden!“

„Aber ich leide hier auch! Und hier bin ich einsam.“

„Und Du wähnst, draußen sei man nicht einsam? Je mehr Du fühlst, je mehr Du denkst, desto einsamer bist Du draußen.“

„Aber die Freunde? Die Familie?“

„Die Freunde!“ sagte Pater Gregor bitter, „die Freunde sind Vampyre, die Dir das Blut bis zum letzten Tropfen aussaugen und Dich, wenn Du nichts mehr zu geben hast, elend am Wege liegen lassen. – Die Familie? Du meinst Frau und Kinder? – Das habe ich nie gehabt.“

„Wolltet Ihr es nicht haben?“

„Pater Josias, man kann im Kloster alles haben, was im Kloster zu finden ist, in der Welt aber ist manches, was man nicht haben kann.“

Er trat an’s Fenster.

„Komm,“ rief er leise und zeigte mit dem Finger nach den Bergen hinüber; „dort hinaus geht Dein Verlangen, nicht wahr?“

„Ja,“ sagte ich seufzend.

„So fliehe! Aber merke Dir Eins. Draußen in der Welt gedeiht der Mittelmäßige und der Schlechte; der Erleuchtete und der Edle leidet. Wie im Fieber wird Dich’s in die Freundschaft hineinreißen und – in die Liebe. Aber sei klug! Zertheile den Strom Deiner Gefühle in viele dünne Bäche, gieb heute ein Stück von Deinem Herzen und morgen eins – niemals das ganze! Damit, wenn Du Deine Paradiese alle durchkostet hast und als ein Kranker und ein Bettler aus dem Taumel plötzlich erwachst und Dich in einer Wüste befindest, Du Dir sagen kannst: Nun, ich habe ja auch nichts Ernsthaftes gewollt.“

„Ich verstehe Euch nicht, Pater Gregor.“

Da sah er mich an, und sein Blick verwirrte mich.

„Es giebt Menschen,“ sagte er, „die nichts halb thun, noch halb sein wollen; sie haben ganze Gedanken, ein ganzes Wort und ein ganzes Herz. Man sollte glauben, solchen Menschen müsse alles gelingen, nicht wahr? Aber es gelingt ihnen nur selten etwas; sie scheitern an der Halbheit der Andern. Wer wenig einsetzt, verliert wenig; aber wer alles einsetzt, verliert alles. Bist Du ein solcher Mensch, dann behalte den Durst in Dir und versuche nicht, ihn zu löschen! Jeder Mensch, der denkt und fühlt, leidet, wo er auch sei. Aber hier leidet man weniger; man leidet sanfter, als draußen in der Welt.“

„Pater Gregor, sind denn die Paradiese nicht so, wie ein junger, eingeschlossener Mönch sie träumt?“

„Die Paradiese sind gar nicht, Pater Josias. Du weißt, daß es in der Wüste schöne Trugbilder giebt, die dem Wanderer als Wirklichkeit erscheinen; man nennt ein solches Trugbild eine Fata Morgana. Jedes irdische Paradies ist eine Fata Morgana. Man genießt es wohl, aber nur im Verlangen, im Traume, nicht in Wirklichkeit!“

„Verzeihet mir, eine Frage, Pater Gregor! Ist – die Liebe auch eine Fata Morgana?“

„Die schönste und die entsetzlichste von allen! – Sie hat ein holdes Gesicht und zauberhafte, flammende Augen, die Dir die Seele aus dem Leibe trinken.“

„Aber es giebt doch eine edle, eine hohe Liebe?“

„Pater Josias, wenn die Gottheit in den Aether haucht, so entflammt er sich und wird eine Seele; wenn die hohe Liebe zu einem Menschen kommt, so geht der unsterbliche Theil in ihm auf. Aber auch der Schmerz! Das Größte und das Beste gedeiht nicht auf der Erde; darum gedeiht auch die hohe Liebe nicht auf ihr. Es kommen böse Menschen, Krankheiten, Unglücksfälle aller Art und der Tod und löschen sie aus. Die Poeten sagen, die Liebe sei stärker als der Tod; wissen können es nur Jene, welche gestorben und wieder auferstanden sind.“

„Glaubet Ihr fest an die Auferstehung?“

„Mönch, was fragst Du mich da? Was kann es Dir nützen, ob ich daran glaube oder nicht? Bist Du ein Starker, so gehe frei! Bist Du ein Schwacher, so nimm den Stab und stütze Dich darauf! Hast Du nicht genug an diesem Leben, so hoffe auf ein anderes!“

Er schlug die Arme über einander und sagte nach einer Weile: „Was willst Du nun thun? Fliehen oder bleiben?“

„Ich will mich prüfen, Pater Gregor –“

„Ah, Du bist unentschlossen.“

„Gebt mir Zeit!“

„So viel Du willst!“

Ich machte eine Bewegung, um mich zu entfernen; da nahm er mich bei der Hand: „Blicke zuweilen hinauf zu jenen wilden Einsamkeiten, wo Adlernester hängen, und dann hinab in’s Thal, wo die Sperlinge und Hühner den fetten Boden aufwühlen und sich mit Klaue und Schnabel um einen Regenwurm streiten – und dann frage Dich, was Du wohl lieber sein möchtest, ein Sperling oder ein Adler!“

„Pater Gregor, gestern Nacht, als ich nach dem Gebet wieder in meine ,Zelle trat, sah ich am Himmel einen Stern, wie ich noch keinen sah. Er hatte kalte grüne und heiße rothe Flammen. So seid Ihr! O saget mir, wie kam Euch der Entschluß, Kapuziner zu werden?“

Er streckte beide Hände vor sich auf die Fensterbrüstung und sagte, seinen abgründigen Blick in’s Weite heftend:

„Ich verließ in einer Nacht, wo mich der Ekel erfaßte, die Stadt, in der ich lange gelebt hatte. Ein brauner Nebel kam herab und verbarg mir den Pfad, auf dem ich ging. Hinter mir schimmerten festliche Lichter, vor mir gähnte die dunkle Nacht.

Mein Kopf war heiß und wirr, mein Herz kalt und müde, und ich ging ohne Ziel und ohne Hoffnung. Ich dachte nur: du gehst eben, bis du zusammenbrichst; entweder stirbst du dann, oder es wird klar in dir. – So wanderte ich, nur wenig ruhend, sieben Tage und sieben Nächte. Endlich, in der siebenten Nacht brach ich zusammen. – Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in diesem Thale; die Sonne Gottes hatte die zackigen Berggipfel entzündet. Ueber mir schwebte im grünblauen Himmel eine Wolke, die eine tiefe, trichterförmige Oeffnung hatte, daraus Gold und Feuer quoll, und mir gegenüber schimmerte im Dufte das Kloster. Ein Adler flog mit wildem Schrei in den Trichter der Wolke hinein, und dann fing sanft die Klosterglocke zu läuten an. Es war, als schliefen bei diesem Tone alle meine Schmerzen ein. Eine mitleidige Stimme sagte dicht an meinem Ohre:

‚Esset einen Bissen Brod und nehmt einen Schluck Milch!’

Jetzt sah ich eine Bäuerin neben mir knieen und mir einen Topf mit Milch reichen; ich trank davon, aß auch ein wenig Brod.

‚Was ist das für ein Kloster dort oben?’ fragte sich sie.

‚Ein Kapuzinerkloster. Die Mönche haben ein hartes Leben hier im Gebirge. Sie thun den Armen und den Kranken viel Gutes.’

Als die Frau, die ein Stück Brod neben mich gelegt hatte, gegangen war, schlief ich ein, und ich erwachte erst, als die Klosterglocke zum Abendgebet läutete. Da stand ich auf und blickte um mich – und da ich den Wall von Bergen sah, der das Thal [71] von der Welt abschließt, da fühlte ich mich stark. Und als ich wieder zum Kloster hinblickte, da fühlte ich, als würden meine Arme und meine Brust von Stahl! Dort will ich den Tod erwarten, sagte ich mir und schritt festen Schrittes zum Kloster hinauf. Und als ich droben unter dem Kastanienbaum stand, warf ich über jene Berge hinaus der Welt meine Verachtung zu.

‚Lebet wohl, Ihr Eitlen,’ rief ich, ‚Ihr Verdächtigen, Ihr Kleinen und Erbärmlichen, Ihr hochmütigen Neider, Ihr niedrigen Hasser und Verleumder, Ihr Treulosen, Ihr Feinde ohne Größe noch Muth! Jetzt bin ich befreit von Euch. Ihr reichet nicht zu den Adlern herauf.’ –

Und so,“ setzte er leiser hinzu, „so ward ich ein Kapuziner.“

„Habt Ihr hier den Frieden gefunden, Pater Gregor?“ fragte ich zögernd.

Da sah er mir mit seinen Feueraugen in die neugierige Seele hinein: „Ich habe nur die Einsamkeit gesucht, und diese habe ich hier gefunden,“ sagte er.

„Pater Gregor,“ bat ich, „gebt mir eine rauhe Arbeit, die mich ermüdet!“

Er griff wieder in seinen Bart und sagte dann: „Es fließen beständig die Wasser am hintern Felsen herab; grabe längs der Gartenmauer eine Rinne, damit sie sich nicht stauen, sondern frei hinunter fließen! Und – studire nicht so eifrig die Malerei! Gehet jetzt, Pater Josias, und wenn Ihr wieder in innere Nöthe gerathet, so saget es mir!“

„Wie kann ich Euch für so viel Güte danken, Pater Gregor?“

„Ich thue nichts für Dank, Pater Josias, aber wenn Ihr ein dankbares Gefühl für mich hegt, so bringet es zum Ausdruck, indem Ihr mich nichts mehr über mein Leben, noch über meine Seele fragt!“

Darauf entließ er mich mit einem stummen Gruße.

Ich schlich wie ein Träumender in meine Zelle. Die Sonne ging hinter Wolken unter und die Nebel umfingen langsam die Bergspitzen; dann kam die Dämmerung und das Abendgebet. Als ich in die Capelle trat, waren die Mönche schon versammelt.

„Pater Josias, könnt Ihr jetzt vorbeten?“ fragte Pater Gregor.

Ich öffnete das Buch und las; er selbst las die antwortenden Strophen; seine Stimme klang noch tiefer und reicher als sonst und kräftigte mir die Seele, und als das Gebet zu Ende war und ich zu ihm hinüber blickte, sah ich, daß sein Gesicht von Blässe überhaucht war. Aber es war keine Schwäche. Denn als er aufstand und den Blick erhob, war er der Mann, vor dem die Mönche ihren Blick zu Boden schlugen.

Mit Hacke und Schaufel ging ich am nächsten Tage hinter den Garten; ich grub tiefer, als es nöthig war, und legte die Rinne mit Steinen aus, damit diese Arbeit recht lange Zeit erfordere. Ich fand Gefallen an dieser Beschäftigung, und hätte ich nicht die braune Kutte auf mir gehabt, ich würde für Augenblicke mich frei geglaubt haben. Der Duft der Tannen drang zu mir her; zarte weiße und gelbe Alpenblumen hoben mir zur Seite ihre Sternenköpfchen aus dem Grase, und über meine Schaufel schlüpften schillernde Eidechsen. Ich trank die Luft, als wäre sie Wein, und oftmals hätte ich laut hinausrufen mögen: Süße Natur, ich liebe dich. Und ich preise mich selig, daß ich lebe und dein Kind bin.

Aber diese Arbeit ermüdete mich nicht, sie that das Gegentheil: sie erfrischte mir das Blut und stärkte meine Glieder, und wenn ich zum Gebet in die Capelle trat, dann sank mir ihre Armuth und die Blässe der Mönche schwer auf’s Herz. Wie viele von ihnen, fragte ich mich im Stillen, haben gekämpft, wie ich kämpfe? Wie viele haben sich in Ergebung ertödtet, wie viele sind in Erbitterung gealtert! Wie viele von ihnen sind glücklich, und wie viele sind elend! Und wie viele hat die Zeit stumpf und kalt gemacht!

Pater Gregor war gegen mich nicht freundlicher und nicht strenger, als gegen die Anderen, und hätte ich von jener bedeutungsvollen Unterredung mit ihm nicht einen feurigen Stachel in der Brust behalten, ich würde sie für einen Traum gehalten haben. Nichts an ihm zeigte, daß er noch eine Erinnerung daran habe.

Nach vierzig Tagen hatte ich die Abzugsrinne beendet. Als ich den letzten Stein in die Erde gedrückt, setzte ich mich nieder: „Jetzt mußt du Abschied nehmen von der Natur,“ sagte ich mir. Und da die Dinge, welche wir verlassen müssen, in der Abschiedsstunde immer am schönsten sind, so kam jetzt ein Zwiespalt in mein Herz, ein grausamer Zwiespalt. – Leben, Leben, du ziehst mich an dich mit weichen, unsichtbaren Händen und bethörst mir die Seele, wie eine sanfte Musik. Ich sitze unterhalb des Klosters; die Dämmerung kommt; Niemand sieht mich; die Sehnsucht und das böse Gewissen werden mir Flügel geben – ich fliehe aus diesem trostlosen Kerker und bin frei. Aber du Mann dort oben hinter der Klostermauer, du gebeugtes Haupt, du Feuerauge, du geheimnißvoller Pater Gregor, du fesselst mich. O, entsetzlich litt ich in jener Stunde! Aber als sie vorüber war, nahm ich Hacke und Schaufel auf die Schulter und stieg zum Kloster hinan. Und in der Nacht, die auf jenen Abend folgte, hatte ich ein seliges Einschlafen.

Mein Kerker schien mir am nächsten Tage weniger düster, und ich war ruhig im Gemüth. Während vierzig Tagen hatte ich nicht ein einziges Mal zu Maria, die über’s Wasser geht, hingeblickt. Wenn ich an dem Bilde vorbeiging, schloß ich die Augen; das Herz klopfte mir entsetzlich, und alle meine Nerven geriethen in Erschütterung. Und wenn ich das Bild dann hinter mir hatte, athmete ich tief auf, wie Einer, der einer Gefahr entging. Und doch – ich wage kaum es zu sagen, obschon mein Gefühl kein unheiliges war – hatte ich eine Empfindung, als ob Maria unzufrieden mit mir sei, weil ich sie nicht mehr ansah. Dann bat ich sie im Herzen um Verzeihung.

[87] Eines Morgens wurde der Klostergang frisch angestrichen, und Maria war verschwunden. Ich war ganz in Verzweiflung und wagte doch nicht zu fragen, wohin man sie gebracht habe. Am nächsten Tage aber, als ich von einem Krankenbesuche zurückkam, stand Bruder Anton auf einem Stuhle und hielt das Bild in die Höhe. „Kommt Pater Josias, habt die Güte das Bild aufzuhängen! Ihr habt längere Arme als ich,“ sagte er und stieg vom Stuhle herab. Heilige Scheu und heilige Wonne durchzitterten mich, als ich das Bild in die Hände nahm und Maria sich so geduldig von mir in die Höhe heben ließ. Ich sah nicht recht, als ich die eiserne Schlinge des Bildes in den Haken fügen sollte, aber endlich gelang es mir doch. Ehe ich vom Stuhle herabstieg, blickte ich Maria an: sie hatte noch die himmlische Liebe auf den Lippen, und ich fühlte, daß sie mir nicht böse war. In meinem gequälten, unschuldigen Herzen bat ich sie. „O Maria, wirst du denn nie die Augen aufschlagen?“

In einer gewitterhaften Nacht schlug Maria die Augen auf, schwarze, zauberhafte, flammende Augen, die ich im Leben nimmermehr vergessen kann.

Es war um Mitternacht; wir waren zum Gebet im Oratorium versammelt, als die Glocke an unserer Pforte mit Heftigkeit gezogen wurde. Man kam, um für einige Reisende Beistand zu erbitten, welche durch einen Sturz des Postwagens verletzt und in einer Schenke untergebracht waren; Einer derselben glaubte zu sterben und verlangte Beichte und Oelung.

Pater Gregor sagte, er selbst werde hinunter gehen, und wählte mich zum Begleiter. Die Nacht war finster und schwül; leise Donner zogen wie schwermüthige Träume durch die Luft. Eine Laterne in der Hand, stiegen Pater Gregor und ich den steilen Pfad hinab, neben welchem die Wasser ihre geheimnißvollen Melodien sangen. Im Thale brannte kein einziges Licht, aber wenn dort Einer wachte und in die Nacht hinausblickte, so mußten unsere wandelnden Lichter einen seltsamen Eindruck auf ihn machen.

Das Gewitter brach los. Gleich Feuerschlangen fuhren die Blitze am Gebirge herunter, und ehe noch ein Donnerschlag mit erlöschendem Grolle in den Klüften verhallt war, folgte schon ein anderer. Wir waren ganz in Donner eingehüllt, und Pater Gregor sagte:

„Wenn Einer, der etwas auf dem Gewissen hat, bei einem solchen Gewitter im Sterben liegt, so mag ihm fürchterlich zu Muthe sein.“

Der Mann, welcher uns geholt hatte, erzählte, es seien drei Personen äußerlich verletzt, der Mann aber, der einen Beichtvater verlangt habe, scheine einen innern Schaden bekommen zu haben; ein junges Fräulein, seine Tochter, sei unbeschädigt.

Die Schenke lag an der Landstraße. Wir wurden in das obere Stockwerk geführt, wo man in einem Tanzsaale drei Betten auf den Boden gebreitet hatte: hier lagen drei verwundete Männer. Zwei unverletzte Reisende, von welchen der Eine ein junger Arzt war, leisteten ihnen die nöthige Hülfe. Als wir uns den Betten näherten, trat der Arzt auf uns zu und sagte:

„Verehrte Väter, in der Stube nebenan liegt ein Herr, welcher am schlimmsten daran ist. Er hat etwas im Leibe gebrochen, und es ist möglich, daß er daran stirbt. Er wünscht die Sacramente zu empfangen.“

In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür jener Stube, und ein junges, schlankes Mädchen that einen Schritt in den Saal:

„O, ich bitte einen der Patres, schnell zu meinem Vater zu kommen, schnell! Er verlangt so sehr nach einem Geistlichen,“ sagte sie angstvoll.

„Maria!” rief der Kranke; sie eilte in die Stube zurück, und Pater Gregor folgte ihr und schloß die Thür hinter sich. [88] Ich trat zu einem der Verwundeten und kniete an seinem Bette nieder – da ertönte in der Nebenstube ein Schrei des Schreckens, ein so schauervoller Schrei, daß er mir wie ein Messer durch’s Gebein fuhr. Die Thür wurde aufgerissen, und Maria rief:

„Pater, Pater! O kommt!“

Und als ich gekommen war, da sah ich einen Mann mit dem Ausdrucke höchsten Entsetzens aufrecht im Bette sitzen, sich auf seine Fäuste stützend. Seine Augen waren weit aufgerissen und starrten Pater Gregor an, und den bleichen, zuckenden Lippen entrangen sich die Worte:

„Entsetzliches Gespenst, verschwinde! Warum kamst Du aus dem Grabe? – Jetzt, in dieser Stunde?“

Pater Gregor stand ruhig wie ein Fels und heftete seine Augen auf das Gesicht des zitternden Mannes, bis dieser wie unter einem Zauber zusammenbrach und auf die Kissen zurücksank. Dann wandte er sich zu mir:

„Pater Josias,“ sagte er, „empfanget statt meiner die Beichte dieses Mannes!“ Und mit einem stummen Gruße zu Maria verließ er die Stube. Mich überlief es kalt.

Ich stand noch wie gebannt, als Maria meine Hand erfaßte und flüsterte: „Pater, was war das? O, bleibet bei meinem Vater – und bei mir! Ich fürchte mich.“ Und ihre Hände drückten bittend meine Hand, und ihr Blick sank bittend in den meinen. Er sank noch tiefer – er sank mir in das Herz.

„Seid ruhig, Fräulein! Ich bleibe hier,“ erwiderte ich, löste sanft meine Hand aus der ihren und trat zu ihrem Vater. Da seine Augen geschlossen waren, so fragte ich. „Könnt Ihr mir antworten?“

Er öffnete die Augen und blickte mich mit Schrecken an: „Ist der Andere fort?“ flüsterte er.

„Ja, Eure Tochter und ich sind hier; Niemand sonst.“

„War der Andere ein Gespenst?“

„Nein, ein Mensch und ein Kapuziner, wie ich.“

„Ein Kapuziner!“ Dumpf war der Ton, mit dem er diese Worte sprach.

„Wenn Ihr stark genug seid, noch mehr zu sprechen, so bin ich bereit, Euch jetzt die Beichte abzunehmen. Oder wollt Ihr bis morgen warten?“

„Nein,“ sagte er, „ich könnte sterben.“

Maria stand schluchzend am Fußende des Bettes und bedeckte ihr Gesicht mit den schmalen, feinen Händen.

„Maria,“ sagte der Kranke, „entferne Dich jetzt! Ich will mich zum Tode vorbereiten.“

„O Vater, stirb nicht!“ rief sie und entfernte sich händeringend in eine neben der Stube liegende Kammer.

Das Gewitter ließ nach; sanfte verhallende Donner zogen mit den Wolken in’s Weite. Ich stellte die brennende Lampe seitwärts, setzte mich an das Bett und sprach ein Gebet; dann bedeckte ich mein Gesicht mit einem Tuche und sagte:

„Wessen klaget Ihr Euch an?“

Was der Mann in jener Stunde mir bekannte, bleibt ein Geheimniß zwischen Gott, ihm und mir. –

Nachdem ich ihm die Absolution und die Oelung ertheilt, wurde er ruhiger und schlief ein. Ich stand auf und klopfte sanft an der Kammerthür. Maria trat mit roth geweinten Augen herein und blickte nach ihrem Vater hin.

„Er schläft,“ sagte ich leise. Wenn es Euch recht ist, bleibe ich hier und wache bei ihm; so könnt Ihr Euch niederlegen und ruhen.“

„Pater, wie ist Euer Name? Verzeiht!“

„Josias.“

„O, Pater Josias, bleibet hier und laßt mich mit Euch wachen!“

Ich rückte mir einen Stuhl an das Kopfende des Bettes. Maria setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in ihre Hand. Die natürlichste Richtung meiner Augen war die zu ihr hinüber. Es fiel ein Strahl der Lampe auf ihr goldbraunes Haar und auf ihr sanftes Profil; die schwarzen, zauberhaften, flammenden Augen verbargen ihre Gluth hinter den müden Lidern. Ich saß zwischen der Sünde und der Unschuld und draußen wandelte einsam in der Nacht Pater Gregor und erklomm den Felsen, von dem er der Welt seine Verachtung zugeschleudert hatte. Was ging jetzt wohl in seiner Seele vor? –

Maria erhob das Haupt und sagte:

„Pater Josias, warum ist mein Vater so erschrocken vor dem anderen Pater?“

„Euer Vater hat es mir nicht gesagt; allein ich vermuthe, daß ihn die Blässe und die großen dunklen Augen des Pater Gregor erschreckt haben.“

„Aber,“ entgegnete sie, „Ihr seid auch blaß und habt auch große dunkle Augen, und mein Vater ist nicht vor Euch erschrocken!“

„Vielleicht,“ stammelte ich, „weil ich noch jung bin.“

Auf diese einfältige Antwort sah sie mich mitleidig an, und ihre Augen ertödteten in mir die Gebete, welche ich für den Kranken hätte verrichten sollen.

„Seid Ihr schon lange Kapuziner, Pater Josias?“ fragte sie.

„Seit acht Jahren.“

„Acht Jahre! – Ich hatte auch schon den Wunsch, in ein Kloster zu gehen, aber meine Mutter, welche todt ist, sagte, man sei im Kloster nicht glücklich. – Seid Ihr glücklich, Pater Josias?“

O Marter! Was sollte ich ihr antworten? „Verzeiht,“ sagte ich, mich erhebend, „ich will einen Augenblick nach den anderen Verwundeten sehen.“

Sie hatten Schmerzen und fieberten; während ich bei ihnen blieb, ging der Arzt in die Nebenstube, wo Maria’s Vater lag. Maria war sehr jung, und ich hoffte, sie habe den Grund meiner Entfernung nicht errathen. Als der Arzt zurück kam, sagte er: „Ich habe Hoffnung, daß jener Herr zu retten ist.“

Der Morgen graute, ich ging in die Stube zurück und setzte mich wieder an’s Bett; Maria war eingeschlafen; ihr Kopf lag auf dem Arme. Was in meinem Herzen vorging , als ich neben ihr saß, das kann Keiner, der nicht Mönch war, errathen noch empfinden. Ich vermöchte auch nicht, es auszudrücken, aber es war süß, heilig und entsetzlich.

Zuweilen erwachte der Kranke, und ich gab ihm dann zu trinken; einmal erwachte auch Maria, und da sie mich gewahrte, erröthete sie. Langsam zum Bette tretend, beugte sie sich über ihren Vater:

„Glaubt Ihr, Pater Josias, daß mein Vater sterben muß?“

„Es ist möglich, daß er stirbt, aber es ist wahrscheinlich, daß er nicht stirbt.“

„Wenn man Gott recht inbrünstig um die Erhaltung eines Lebens bittet, wird die Bitte erhört?“

Maria, was für Dinge fragtest Du mich! Ich senkte den Blick und erwiderte:

„Wenn es zu unserm Besten ist.“

„Aber, Pater Josias, der Tod meines Vaters wäre ja ein Unglück für mich. Wie könnte er zu meinem Besten sein?!“

„Wir wissen das nicht. Gott ist weiser, als wir sind.“

Sie blickte eine Weile vor sich nieder.

„Nicht wahr, ich bin nicht fromm?“ sagte sie dann und sah mich schüchtern an. „Wenn mein Vater ein wenig besser ist, so möchte ich Euch wohl auch beichten.“

Mir wurde schwül in der Seele und in den Sinnen.

„Möchtet Ihr Euch jetzt nicht zur Ruhe legen?“ fragte ich, und ich erschrak über den harten Ton meiner Stimme.

Maria erschrak auch; sie faltete die Hände und flüsterte:

„O, seid nicht ungehalten auf mich, Pater Josias! Ich habe noch zu keinem Geistlichen ein so – ein so wunderbares Vertrauen gehabt wie zu Euch. Zürnt mir nicht, weil ich so viel zu Euch spreche; es würde mich sicher unglücklich machen! Ich habe ja nicht gewußt, daß man mit den Kapuzinern nicht sprechen darf.“

„Man darf mit uns sprechen,“ entgegnete ich leise, meine zitternden Hände in den Aermeln meiner Kutte verbergend.

„Ich gehe jetzt. Wenn mein Vater nach mir fragt, so klopfet mir, Pater Josias!“

Darauf ging sie in die Kammer und schloß geräuschlos die Thür.

„Mönch, Du bist selig und unselig,“ rief es in mir. „Diese Maria ist noch mächtiger, als die andere. Wenn sie fort geht, was wirst Du dann thun? Wirst Du die Hände zum Gebete falten oder wirst Du Dir die Brust mit Fäusten zerschlagen? O Pater Gregor, wenn Du wüßtest, was mir geschah! Soll ich zu ihm gehen und ihn bitten: Schicket einen Anderen hinunter, es ist eine Maria dort, an der ich vergehen muß? Oder soll ich bleiben, bleiben und die süße Marter austrinken bis zum letzten Tropfen?“

[89] Um die neunte Morgenstunde kam Pater Thomas, um mir im Krankendienste beizustehen, da der anwesende Arzt gesagt, er könne sich nicht länger als bis zum Mittag in der Schenke aufhalten. Es wurde nach einem Arzt in der nächsten Ortschaft geschickt, und unter seiner Leitung blieben Pater Thomas und ich als Krankenpfleger.

Ich hatte dem Pater in den ersten fünf Tagen die Pflege von Maria’s Vater überlassen, um der Verführung zu entgehen; allein ich begegnete ihr zuweilen auf der Treppe und jedesmal sagte sie mit niedergeschlagenen Augen:

„Gott grüß’ Euch, Pater Josias!”

Am sechsten Tage fühlte sich ihr Vater etwas wohler und verlangte nach mir.

„Warum seid Ihr nicht bei mir geblieben, Pater Josias?“ fragte er.

Ich erröthete.

„Da ich stärker bin als Pater Thomas, so habe ich die drei Verwundeten übernommen und ihm den leichteren Dienst bei Euch überlassen.“

Während ich sprach, war Maria hereingetreten und hatte sich an’s Fenster gestellt; da ihr Vater sie rief, kam sie näher.

„Maria,“ sagte er, „dieser Pater hat mir viel Gutes erzeigt, mehr als ich Dir sagen kann. Bewahre sein Andenken in Deinem Herzen und segne ihn!“

Da schlug Maria die schwarzen Augen auf voll Angst und Betrübniß und sagte sehr leise:

„Pater Josias, ich werde immer an Euch denken in meinem Herzen und ich segne Euch.“

Und als ob sie meine Antwort nicht nur vernehmen, sondern auch sehen wollte, sah sie mich immer noch an, da sie schon nicht mehr sprach. Ich weiß nicht, was ich ihr darauf sagte, aber ich weiß, daß die Mönchsmaske mir vom Gesichte fiel, und daß Maria in meinen Zügen den Schmerz und vielleicht auch die Liebe des Mannes las.

„Ich danke Euch, Pater Josias,“ sagte sie und ging in die Kammer zurück.

Von diesem Tage an theilte ich mit Pater Thomas die Pflege ihres Vaters, dessen Zustand sich rasch besserte. Wenn Maria in der Stube war, so nahm ich, am Bette sitzend, mein Brevier und las darinnen; ich las Buchstaben, aber keinen Sinn. Der Himmel, von dem das Brevier sprach, verschwamm, zerfloß, verschwand vor dem Himmel, der in Maria’s Angesicht und in Maria’s Stimme lag.

Maria wußte nun, wohin meine Anbetung ging, wenn ich die Augen auf’s Brevier senkte, und ich fühlte von ihrem Herzen zu dem meinen einen Strom gehen, in welchen ich immer tiefer versank.

Ihr Vater werde sein Leben lang leidend bleiben, hatte der Arzt gesagt; bei diesen Worten hatte sich der Kranke mit wilder Geberde aufgerichtet und ausgerufen:

„Lebenslang leiden?! Habe ich nicht genug gelitten seit sechszehn Tagen? Dann besänftigte er sich und fügte leise hinzu: „Ich muß mich zufrieden geben. Der Mann ist jetzt in mir gebrochen, wie in einem Mönche.“

Maria’s Vater hatte kein sympathisches Gesicht; seine Lider bedeckten zur Hälfte das graue Auge, welches die Personen, mit denen er sprach, niemals frei anblickte. Er hatte einen kalten, beinahe grausamen Zug um die Lippen, und auf seiner Stirn lag mehr List als Muth.

Nach der dritten Woche erklärte der Arzt, Maria’s Vater könnte weiterreisen. Ich zitterte, da ich es vernahm.

„Pater Josias, sagte am nächsten Tage Maria, „morgen muß ich Abschied von Euch nehmen.“

Ich unterdrückte einen Schrei und biß mir die Lippen.

„Pater Josias,” sagte sie, “wißt Ihr auch, daß ich im Herzen blute?“

Da schloß ich die Augen und stöhnte: „Maria, vergesset mich!“

„Nie!“

Ich hörte ihr Gewand rauschen, und als ich die Augen aufschlug, war ich allein. – – –

Ihr Vater rief mich etwas später und sagte: „Setzet Euch einen Augenblick zu mir, ich habe eine Bitte an Euch.“ Er zog aus seinem Busen einen dicken versiegelten Brief und legte ihn vor sich auf den Tisch. „Wie heißt der Pater, der in jener entsetzlichen Nacht wie ein Gespenst vor mir stand?“

„Pater Gregor heißt er.“

Er nickte und schrieb auf den Brief: Seiner Hochwürden, dem Pater Gregor.

„Habet die Güte, nehmet diesen Brief, traget ihn in’s Kloster und bringt mir die Antwort, welche Ihr darauf erhalten werdet.“

Widerstreitende Empfindungen bewegten mir die Seele, als ich das Kloster oben an der schwarzen Felswand vor mir sah. Langsam erklomm ich die Steigung, wie ein Kranker, und als ich die Glocke zog, ging es wie ein Riß durch mich.

Pater Gregor war in seiner Zelle und las.

„Ah, Pater Josias!“ rief er und blickte mich lange und wohlwollend an. „Ihr habt eine schöne Pflicht dort unten erfüllt und traget jetzt gewiß ein schönes Bewußtsein in Euch.“

Da ich schwieg, sagte er: „Sind die Verunglückten alle geheilt?“

„Nein, die Beiden, welche Arme und Beine brachen, liegen noch; der am Kopfe verwundet war, ist schon vor mehreren Tagen abgereist, und der Herr, der innerlich verletzt wurde, wird morgen abreisen.“

„Geht und ruhet jetzt! Ich dispensire Euch heute vom Abendgebet. Wünscht Pater Thomas einen Bruder zur Hülfe?“

„Er wird mich zur Hülfe haben; ich gehe wieder hinunter, heute Abend noch; ich kam blos, weil ich Euch einen Brief zu bringen hatte.“

„Einen Brief? Von wem?“

„Von dem Herrn, welchem ich statt Euer die Beichte abnahm. Er erwartet eine Antwort.“

Pater Gregor nahm den Brief aus meiner Hand und legte ihn auf den Tisch; dann stand er auf, zündete eine Kerze an, verbrannte den Brief und warf die Asche zum Fenster hinaus.

„Aber,“ fragte ich erschrocken, „was soll ich ihm nun sagen?“

„Sage ihm, was Du gesehen hast!“ erwiderte er ruhig und groß und entließ mich mit einer königlichen Handbewegung.

„Pater Gregor,“ sagte ich leise, als ich den Klostergang entlang schritt, „ich möchte wohl ein Kapuziner sein wie Du. Aber nicht Jeder ist zum Adler geboren.“ –

Als ich in die Schenke zurückkam und vor Maria’s Vater trat, blickte er mich mit Aufregung an und fragte hastig:

„Nun, Pater, wo ist die Antwort?“

„Ich habe keine.“

„Keinen Brief?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Dann habt Ihr eine mündliche Antwort?“

„Auch nicht!“

„Gabet Ihr dem Pater meinen Brief nicht?“

„Doch, aber er verbrannte ihn, ohne ihn geöffnet zu haben.“

Da fuhr er sich mit den zitternden Händen in die Haare und rief: „So hast Du keine Großmuth mehr? O Mönch, Mönch! So nimmst Du mir die Scorpionen nicht aus der Brust? So lässest Du mir die Gewissensbisse und den Haß? Denn je größer Du bist, desto größer sind meine Qualen. Und je mehr Du mich verachtest, desto mehr muß ich Dich hassen! Wie eine Krankheit trage ich den Haß in mir, den ohnmächtigen. Und so lange ich lebe, wird ein Mönch vor meiner Seele stehen, ein Kapuziner, mein Opfer und mein Richter.“

Ich stand erschüttert. „Pater Gregor,“ dachte ich, „Du bist gerächt.“

Maria trat herein und legte ihre Arme um ihres Vaters Hals: „Was quält Dich so?“ fragte sie.

„Maria,“ sagte er dumpf, „Du hast jetzt einen kranken Vater, der Pflege, aber auch Nachsicht braucht. Ich bin reizbar geworden – sei Du um so sanfter, um so geduldiger! Und – sprich nie mit mir von jener Nacht, in der wir verunglückten!“

Maria küßte ihres Vaters Stirn; ich entfernte mich, die Brust voll Weh und die Augen voll Wasser. Arme Maria! Süße Maria! Heilige Maria!

Am nächsten Vormittage hielt ein Wagen vor der Schenke. Pater Thomas und ich hoben Maria’s Vater hinein, und dann nahm Maria Pater Thomas’ Hand, küßte sie und sagte: „Gott segne Euch, Pater!“ Mir bebten die Kniee, als sie zu mir trat und sagte: „Gott segne Euch, Pater Josias!“ Und als sie meine Hände ergriff und ihre Lippen darauf drückte mit der Gewalt des Schmerzes, da konnte ich den Schrei in mir nicht unterdrücken, aber ich wandelte ihn um in ein lautes Gebet. Und [90] während ich es sprach ohne Gedanken und Bewußtsein, preßte ich ihr die Hände, und je weher ich ihnen that, desto süßer brannten ihre Lippen auf meiner Hand.

„Amen!“ rief Pater Thomas in mein Gebet, und da hörte ich auf zu sprechen. Maria löste ihre Lippen von meinen zitternden Händen, und blickte mich noch einmal an; dann zog sie ihren Schleier vor das blasse Gesicht und stieg in den Wagen. Es wurde mir schwarz vor den Augen – ich hörte den Wagen fortrollen – und dann wankte ich sinnlos in’s Haus zurück. – Ich habe Maria nicht wieder gesehen. – –

Zwei Monate waren vergangen und mit ihnen der Sommer. Ich lebte, ohne zu leben: ich betete ohne Gedanken; ich arbeitete ohne Lust. Oft fiel jetzt zur Nachtzeit Schnee in der Region des Klosters, und wenn dann die Sonne heraufstieg, rannen die Wasser reichlich von der Felswand, und das gelockerte Gestein fiel kollernd herab; zuweilen schleuderte der Südwind es in’s Thal hinunter. Manchmal sanken die Nebel bis an den Fuß der Berge, und wenn sie sich gar über das Thal ausbreiteten und ich von meiner Zelle in die graue, leere Unendlichkeit hinausblickte, dann tauchte aus der Nebelwüste plötzlich eine Fata Morgana, die schwarze, zauberhafte, flammende Augen hatte und Maria hieß.

Als ich an einem Vormittage Pater Gregor eine schriftliche Arbeit brachte, sagte er: „Ihr sehet leidend aus, Pater Josias, seid Ihr krank?“

„Nein, ich bin schwermüthig.“

„Studiret Ihr wieder die Malerei?“

„Nein, die Liebe zum Bilde ist mir vergangen.“

„Ihr habt irgendwo eine lebendige Maria gesehen, Pater Josias?“

„Ja. Ich biß mir die Lippe wund, als sie sagte: ‚Morgen muß ich von Euch Abschied nehmen’ – und dann sagte sie noch: ‚Wißt Ihr auch, Pater Josias, daß ich im Herzen blute?’“

Pater Gregor fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Diese Worte waren Euch süß, Pater Josias?“ fragte er weich.

„Ja, und ich sage sie mir immer vor. Immer!“

Nach einer Weile stand er auf und ging, die Hand im Barte vergrabend, langsam die Zelle zweimal auf und nieder; endlich sagte er, seinen Blick, der aus einer mächtigen Tiefe zu kommen schien, in den meinen senkend: „Hast Du einen Entschluß gefaßt?“

„Nein, es ist mir Alles in der Schwermuth versunken.“

Wieder ging er auf und nieder und sagte dann. „Ich denke, es thut Euch gut, nächsten Sonntag eine Predigt drunten im Städtchen zu halten, die Predigt von der Zerstörung Jerusalems. Es wird Euch aufrütteln, wenn Ihr die blutigen Männer seht und den Rauch und die Flammen, und wenn die Mauern niederstürzen und der Schrei: Jehova! zwischen dem Dröhnen der Schilde ertönt, dann wird etwas in Euch wachsen – der Mönch oder der Abtrünnige. Dann werdet Ihr wissen, ob Ihr bleibet oder fliehet.“

„Und wenn ich fliehe, Pater Gregor – verdammt Ihr mich?“

„Ich Dich verdammen, mein Sohn? Nein, nein! – Aber vielleicht beklage ich Dich.“

„Pater Gregor, stärket mich durch einen Händedruck!“

Da nahm er meine Hand mit seiner Rechten und drückte sie dreimal. „Gehet jetzt, Pater Josias! sagte er mild, „und machet aus Eurer Predigt ein großes Schlachtengemälde mit einem biblischen Hintergrunde!“

Ich ging. „Ja,“ sagte ich mir, „Jerusalem soll in mir brennen, und was aus der Asche aufersteht – daraus will ich mir das Leben erbauen.“

Die Elemente unterstützten mich bei meiner Arbeit: zuerst der Wind, der die Schornsteine vom Dache riß und Tannen entwurzelte, dann die furchtbaren Regengüsse, welche ihm folgten und tosende Bäche über die Felswand herabgossen und kleine und große Felsstücke mit sich rissen. Es war eine Musik voll düsteren, wilden Zaubers.

In der Nacht vom Freitag auf den Samstag hörte der Regen auf, aber als am Morgen die Sonne hervorkam, da beleuchtete sie eine entsetzliche Zerstörung. Erdreich und Bäume und Felsstücke lagen im Thale, und die Felswand war wie geschoren. Keine Tanne und kein Gesträuch grünte mehr an ihr; überall war der nackte Fels, und aus seinen Spalten und Klüften stürzten die Wasser, und von den Abhängen fielen die Steine. Es war mir, als vernehme ich neben dem Rauschen des Wassers und dem Kollern der Steine noch ein anderes Geräusch, einen dumpfen, reibenden Ton, der aus dem Innern des Felsens zu kommen schien. Ich fragte später Pater Thomas, der neben mir am Mittagstische saß, ob er es nicht auch höre. „Wohl, wohl,“ erwiderte er, „dieses Geräusch hört man jedes Mal nach einer Regenfluth.“ Als ich dann am Nachmittag in meiner Zelle saß, um meine Predigt auswendig zu lernen, erschrak ich plötzlich – ich hatte eine Erschütterung des Bodens gefühlt, und als ich jetzt das Fenster öffnete und lauschte, vernahm ich jenen dumpfen, reibenden Laut viel stärker, deutlicher, näher. Ich dachte, alle Mönche müßten es wahrgenommen haben, und trat auf den Gang und ging die Treppe hinab, aber ich begegnete und sah keinen der Patres. Da ging ich in den Garten, wo der Bruder Anton die geknickten Blumen aufrichtete und stützte.

„Hört Ihr nicht ein seltsames Geräusch, und habt Ihr nicht eine Erschütterung des Bodens gefühlt?“ fragte ich.

„Meint Ihr, Pater, die Wasser arbeiteten sich sanft und lautlos durch die Felsen, und die Felsstücke fielen herunter leicht wie Schneebälle? Ihr kennt eben das Gebirg und seine wilde Sprache noch nicht. Im nächsten Spätjahre werdet Ihr besser unterrichtet sein.“

Ich ging in meine Zelle zurück, und als ich zwei Stunden später zum allgemeinen Gebete in’s Oratorium herabkam, fühlte ich wieder eine Erschütterung des Bodens.

Unsere Betstühle waren in der Form eines Hufeisens aufgestellt, und Pater Gregor hatte seinen Platz in der Mitte. Er las das vierte Capitel Jeremias’ und in seiner tiefen Stimme brannte die Flamme eines Jeremias. Und als er die Worte gesprochen: „Ich sehe auf die Berge und siehe, sie beben, und alle Hügel wanken“, da dröhnte es über unseren Häuptern; die Thür wurde aufgerissen und der Bruder Pförtner stürzte herein.

„Fliehet, fliehet!“ schrie er, „der Rachenfels bewegt sich: er sinkt; er kommt. Die Seitenfelsen bersten – fliehet, rettet Euer Leben! Herr Gott, beschütze uns! Wehe! Hab’ Erbarmen!“

Die Mönche fuhren von den Sitzen empor und drängten sich zur Thür. Pater Gregor aber blieb in seinem Stuhle sitzen und sein Auge funkelte.

„Feiglinge!“ rief er, „habt Ihr noch nicht genug gelebt? So fliehet denn! Ich bleibe.“

„Pater Gregor!“ rief ich flehend, beschwörend, und wie im Wahnsinn folgte ich den Anderen durch den Gang, über den Hof und den jähen Pfad hinab. Hinter uns donnerte das Gebirg und Steine fielen und trafen unsere flüchtige Ferse. Und in der Todesflucht schrie ich nach Pater Gregor, und meine Adern wollten reißen vor Schmerz.

„Links!“ rief einer der Patres und riß mich fort. Wir eilten. Ich wußte nicht, wohin.

„Herr Gott, erbarme dich! Jesus, erbarme dich! Maria, bitt’ für mich!“ riefen die Mönche.

Da – da krachte es, als ob der Erdball zerberste, und hundert Berge über einander fielen. Die Erde bebte unter meinen Füßen: die erschütterte Luft erdrückte mich; ich sank zu Boden, und im Getöse der stürzenden Felsen und des Widerhalles erstarben mir die Sinne –

Als mir das Bewußtsein wiederkam, war die Stille des Todes um mich. Und als ich mich erhob und zur Felswand hinüberblickte, war das Kloster verschwunden. Ein großer Mensch lag unter seinen Trümmern begraben.