Politik als Wissenschaft. − Ihre Zweige
Literatur:
[Bearbeiten]- G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre 3. Aufl. 1914 S. 13 u. 65 Internet Archive;
- Rehm, Allg. Staatslehre 1899 S. 8 Internet Archive;
- Berolzheimer, Politik 1906 Internet Archive;
- Stier-Somlo, Politik2 1912;
- R. Schmidt, Art. Politik i. Wörterb. d. deutsch. Staats- u. Verw. R. 2 Bd. 3 (1914);
- Hertling, Art. Politik im Staatslexikon der Görresgesellschaft 3. Aufl. Band 4 (1911) Internet Archive;
- Bluntschli, Politik 1876 New York-USA*;
- Holtzendorff, Prinzipien der Politik 2. Aufl. 1879 Internet Archive
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I. Begriff der Politik als Wissenschaft.
[Bearbeiten]Politik kommt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich „die staatliche“ (ἡ πολιτική). Also ist etwas zu ergänzen. Schon die Griechen ergänzten Kunst (τέχνη) oder Wissenschaft (ἐπιστήμη). Die Zweiheit des Begriffes ist somit alt. Hier ist die zweite Bedeutung zu besprechen, nicht das Können, sondern das Wissen in staatlichen Dingen.
A) Als Wissenschaft bedeutet Politik ein Dreifaches:
1. alles Wissen vom Staate, die Wissenschaft vom Staate;
2. mehrere Teile dieses Wissens, zusammen oder einzeln, nämlich
a) die Staatsmachtlehre oder historische Politik. Sie ist die Lehre von den tatsächlichen Machtverhältnissen im Gegensatz zu den rechtlichen, von den tatsächlichen im Gegensatz zu den rechtlichen Mächten des Staatslebens. Die Staatsrechtlehre stellt dar, wie der Staat nach bestehender Rechtsvorschrift eingerichtet und verwaltet sein soll. Die Staatsmachtlehre beschreibt, wie Einrichtung und Verwaltung des Staates tatsächlich gestaltet sind. Recht und Tatsache, Recht und Macht sind sehr verschiedene Dinge. Rechtliche Machtfaktoren bilden Herrscher, Ministerium, Parlament, Wählerschaft. Tatsächlicher Einfluss kann dem einen oder anderen dieser Organe fehlen. Generaladjutantur, Kabinetskanzlei, Hof, Geheimräte, Parteien, Vereine, Presse sind keine rechtlichen Machtfaktoren, können aber sehr erhebliche tatsächliche sein. Rechtlich hat die oberste Macht in der Monarchie der Herrscher; tatsächlich kann ein Minister der Staatsleiter sein. Rechtlich die höchste Reichsmacht besitzt der Bundesrat, tatsächlich der König von Preussen. Juristisch ist der Präsident des preussischen Staatsministeriums nur erster unter Gleichen; tatsächlich hat er zumeist nicht nur Vorsitz, sondern Vormacht.
b) die Staatskunstlehre oder theoretische Politik weiteren Sinnes. Sie ist die Lehre vom erfolgreichen und zweckgemässen Handeln in staatlichen Dingen, politische Theorie im Gegensatze zur politischen Praxis. Sie zerfällt in
α) die Staatsklugheitslehre oder praktische Politik, welche das Erlangen und Bewahren von Macht in staatlichen Dingen lehrt. Gleichbedeutend ist Lehre von der Staatstaktik (Regierungs-, Parlaments-, Partei-Taktik). Sie lehrt Augenmass haben für Tatsachen, Dinge, Personen. Sie ist die Politik des Realen, des Erreichbaren. Lehrsätze, die hierher gehören, sind: Mögliches nicht durch Unmögliches gefährden; Mässigung, Zurückhaltung, Disziplin, Einheitlichkeit nach aussen geben Erfolg.
β) die Staatszweckmässigkeitslehre (Staatskunstlehre oder theoretische Politik engeren Sinnes), Wissenschaft von den Staatszwecken und der zweckmässigen Einrichtung und Verwaltung des Staates. Diese Lehre unterrichtet über das nach Ort und Zeit Bestmöglichste in Staatsdingen. Sie lehrt: nicht, wie erreicht man einen Staatszweck am leichtesten, sondern am besten. Vorbeugen lässt sich Konflikten zwischen Reichs- und preussischen Interessen auch durch Verständigung; am besten geschieht es, wenn Reichs- und preussische Regierung personell vereinigt, Reichsminister zugleich preussische Minister und preussische Bevollmächtigte zum Bundesrate sind und zwischen Reichs- und preussischem Parlament Doppelmandate bestehen.
3. nur einen Teil, die Staatszweckmässigkeitslehre.
B) Der buchstäblichen Bedeutung des Wortes Politik entspricht lediglich der weiteste Begriff. Wie erklären sich daher die engeren Bedeutungen? Die eine erklärt sich aus dem Zwecke, die andere aus der Geschichte der politischen Wissenschaft. Die Beschränkung der Bedeutung auf Macht-, Klugheits- und Zweckmässigkeitslehre führt darauf zurück, dass Politik noch eine andere Grundbedeutung besitzt. Politik bedeutet noch Staatskunst, also ein Handeln in Staatssachen. Handeln in Staatssachen verlangt Kenntnis der Tatsachen, Einsicht in die Staatszwecke und Kraft, [9] sich durchzusetzen. Die genannten Wissenszweige dienen daher gerade dem in Staatssachen Handelnden. Er aber heisst Politiker (Staatsmann). Sie sind die Wissenschaften für den Staatsmann. Wenn Politik nur im Sinne von Zweckmässigkeitslehre gebraucht wird, so findet dies seine Erklärung darin, dass die Politik von jeher in erster Linie Zweckmässigkeitslehre war.
Die Griechen erblickten in der Politik einen Teil der Ethik.[1] Sittlich ist, ein tüchtiger Staatsbürger zu sein. Der sittliche Staatsbürger ist der tüchtige. Politik war deshalb vor allem die Lehre von dem besten Staatsbürger. So bleibt es auch im Mittelalter und der Renaissancezeit. Ars politica ist wesentlich Tüchtigkeitslehre, nur der veränderten Staatsform entsprechend nicht mehr Lehre vom tüchtigen Staatsbürger, sondern vom tüchtigen Fürsten. Die Werke von Thomas Aquinas (+ 1274) De regimine principum und Machiavelli Il principe sind Fürstenspiegel. Zwischen Machiavelli einer- und Aristoteles und dem Aquinaten andrerseits besteht nur der Unterschied, dass Machiavelli seine Zweckmässigkeitslehre von Ethik und Theologie gelöst hat.[2] Im übrigen aber behandeln alle drei die Probleme in gleicher Weise. Die Einteilung der Staatsformen z. B. erfolgt sowohl bei Aristoteles und Thomas Aquinas wie bei Machivelli nach Zweckmässigkeitsmomenten. Wesentlich sind ihnen nicht Zahlen-, sondern Eigenschaftsunterschiede. Die griechische Staatslehre sieht auf die sittlichen Unterschiede. Für zweckmässig erklärt sie, dass die Regierenden die Herrschaft im Gemein- und nicht in selbstsüchtigem Interesse ausüben. Sie unterscheidet darnach rechte Verfassungen und Abweichungen hiervon; Politien und Despotien, drei gute Verfassungen und drei schlechte.[3] Machiavelli teilt ein in Prinzipate und Republiken. Er will damit sagen: unfreie und freie Staaten. Das ist durchaus aristotelisch. Aristoteles lehrt: Freiheit ist, wo nicht Selbstsucht herrscht; Selbstsucht herrscht nicht, wo die Trefflichsten herrschen; solche gibt es nicht; also ist nur Volksherrschaft möglich und diese ist selbstlos lediglich, wenn Gesetze herrschen. Das monarchisch gerichtete Mittelalter sagt: lex facit „regem“ d. h. den guten Herrscher; ein guter Fürst ist der Herrscher, der sich an Gesetze hält.[4] Und ebenso lehrt Machiavelli: besitzt der Staat eine gute Rechtsordnung, so bedarf es nicht so guter Regenten.[5] Durch Jahrhunderte also Zweckmässigkeitslehre der Hauptteil der Politik. Da liegt es nahe, dass der Name des Ganzen zum besonderen Namen des Hauptteiles wird.
C) Die wissenschaftliche Klarheit verlangt, dass, wenn möglich, Politik als Wissenschaft nur Eines bedeutet. Dem trägt die Theorie etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Rechnung. Mehr und mehr wird unter Politik nur die Zweckmässigkeitslehre verstanden (Bluntschli, Holtzendorff). Alles, was man sonst Politik nannte, muss dann anders bezeichnet werden. Ein Name hat sich dafür eingebürgert: allgemeine Staatslehre. Den Gegensatz bilden die besonderen Staatslehren, die empirische (historische) und philosophische, die politische und die juristische. Fest steht der Sprachgebrauch nicht. Roscher und Treitschke sagen nicht allgemeine Staatslehre, sondern Politik. Gierke identifiziert gerade entgegengesetzt „Staatslehre“ und Politik. Die Staatslehre, bemerkt er, fasst alle Vorgänge des Staatslebens unter dem Gesichtspunkte einer Zwecktätigkeit auf.[6] Vorkommt auch, dass für allgemeine Staatslehre Staatslehre gesagt und ihr Politik und Staatsrecht gegenüber gestellt wird.
D) Gar nicht heranziehen zur klaren Abgrenzung der Gebiete der politischen Wissenschaft lässt sich der Ausdruck Staatswissenschaft (science politique, political science). Staatswissenschaft hat noch mehr Bedeutungen als Politik und Staatslehre. Es ist darunter zu verstehen
1. das Wissen vom Staate, die Wissenschaft, deren Gegenstand der Staat und nur der Staat ist. Ihre Teile sind Staatsrechtslehre, Politik, allgemeine Staatslehre (Verfassungslehre) und Verwaltungslehre.
[10] 2. das Wissen von der Wirtschaft, Wirtschaftswissenschaft. Zur Staatswissenschaft in diesem Sinne kann das Staatsrecht als Ganzes so wenig gehören wie die ganze Politik und die allgemeine Staatslehre als solche. Ihre Teile sind Staats-, Einzel- und Volkshaushalts-Lehre, somit Finanzwirtschaft, Privat- und Volks-Wirtschaftslehre. Wie die Wirtschaftswissenschaft zum Namen Staatswissenschaft kommt, ist eigentümlich. Es erklärt sich rein äusserlich. Zur wissenschaftlichen Ausbildung ihrer in den Staatswirtschaftszweigen zu verwendenden Beamten gründeten die Staaten im 19. Jahrhundert zum Teil besondere staatswirtschaftliche Fakultäten. Als infolge der fortschreitenden Differenzierung der Wissenschaften für bestimmte Zweige der Staatswirtschaft Spezial-Hochschulen (forst- und landwirtschaftliche Akademien) entstanden, schieden diese in erster Linie den Namen Wirtschaft führenden Fächer aus den genannten Fakultäten aus. Man änderte daher ihre Bezeichnung und nannte sie, weil ihre Aufgabe im Gegensatze zu den Rechtsfakultäten war, für den Staats- und nicht für den Rechtsdienst vorzubereiten, staatswissenschaftliche Fakultäten. In ihnen waren aber nur Finanz, Nationalökonomie und Statistik verblieben. Daher die Beschränkung der Bedeutung auf die Wirtschaftswissenschaften.[7]
3. das Wissen, das vorwiegend der Erkenntnis des Staates und nicht des Rechtes dient: allgemeine Staatslehre, Politik, Staatsrecht, Nationalökonomie und Finanz, also eine Vereinigung der zwei anderen Bedeutungen und demgemäss in juristische und wirtschaftliche Staatswissenschaften zerfallend.
E) Das Ergebnis alles bisherigen ist: Politik, Staatslehre und Staatswissenschaft besagen der Wortbedeutung nach dasselbe, ihre technischen Bedeutungen dagegen gehen mehr oder weniger stark auseinander.
II. Begriff politisch.
[Bearbeiten]Noch mehr Bedeutungen als Politik hat politisch. Politisch bedeutet:
1. staatlich. Das ist der ursprüngliche und wörtliche Sinn. Polis heisst Burg, dann Stadt mit umgebendem Landgebiet (χώρα)[8]. Weil der griechische Staat Stadtstaat war, wurde Polis auch der Name für Staat. Politische Gemeinde ist die staatliche Gemeinde im Gegensatz zur kirchlichen. Im Sinne von staatlich steht das Wort in den Verbindungen politisches Testament, politische Geschichte, politische Taktik, Presse, Versammlung, politisches Delikt, politische Bildung. Politischer Faktor hat zum Gegensatz z. B. den wirtschaftlichen, politische Partei die wirtschaftliche oder konfessionelle.
2. die Machtseite des Staates betreffend. Mit diesem zweiten Sinne beginnen die engeren Bedeutungen des Wortes. Sie erklären sich aus Verschiedenem, teils daraus, dass Macht die hervorstehendste Eigenschaft des Staates bildet, teils daraus, dass für das Staatsleben das wichtigste ist zu wissen, wie man es am zweckmässigsten gestaltet. Wenn man den Begriff politische Beamte im Gegensatz zu Finanz- und Justizbeamten stellt, versteht man darunter Beamte für die Machtseite des Staates.
3. die tatsächliche Macht des Staates betreffend. Gleichbedeutend ist die Autorität, das Ansehen des Staates betreffend. Den Gegensatz bildet rechtliche Macht (Hoheit). Der Seniorenkonvent des Reichstages ist ein tatsächlicher, kein rechtlicher Staatsfaktor.
4. die oberste Staatsmacht, die Staatsleitung, das Verfassungsleben betreffend. Politische Parteien im Gegensatz zu kommunalen oder wirtschaftspolitischen. Politische Beamte im Gegensatz zu administrativen, politische Minister und Staatssekretäre im Gegensatze zu Verwaltungsministern. Kein politischer Minister ist der Justizminister. Politische Rechte im Gegensatze zu bürgerlichen.
5. die oberste Macht des Staates im Staatenverkehr, also die Stellung als Macht nach aussen betreffend: politisches Gleichgewicht; politische Verträge (Allianzen) im Gegensatz zu Verwaltungsverträgen (Handels-, Auslieferungsverträge).
[11] 6. Wirkung (Macht, Einfluss) im Staatsleben erstrebend oder besitzend: politischer Verein, politische Partei; politischer Ehrgeiz, politische Agitation, Unerfahrenheit; politische Persönlichkeit; die öffentliche Meinung und grosse Parteien sind politische Faktoren; politische Persönlichkeit ist die in Staatssachen einflussreiche Persönlichkeit.
7. Wirkung im Staatsleben erreichend: staatsklug (politische Kraft),
8. den Staatszwecken angemessen: politischer Blick; politisch richtig heisst: den Staatszwecken entsprechend.
Wie bereits die Beispiele ergeben, kann das Wort politisch gleichzeitig mehreres bedeuten, so politische Partei entweder nur nach Einfluss im Staate strebend oder auch zugleich nach Einfluss im Staate für staatliche Dinge strebend. Das Zentrum strebt nach Einfluss im Staatsleben, aber vorwiegend für kirchliche Sachen. Es ist politisch im Sinne von Nr. 6, aber nicht von Nr. 1, somit politische und nichtpolitische Partei zugleich, eine politische, aber keine verfassungspolitische, sondern eine kirchenpolitische, eine konfessionelle Partei.[9]
III. Zweige der Politik.
[Bearbeiten]Wird Politik im älteren Sinne verstanden, also für Staatslehre genommen, so sind Zweige der Politik: Allgemeine Staatslehre (Verfassungslehre), Staatsrecht, Politik im engeren Sinne und Verwaltungslehre. Die Politik im jüngeren oder engeren Sinne zerfällt in Verfassungs- und Verwaltungspolitik, Lehre von der zweckmässigen Einrichtung und Verwaltung des Staates. Die Verwaltungspolitik gliedert sich den fünf Zweigen der Verwaltung entsprechend in auswärtige Politik, Militärpolitik, Finanzpolitik, Rechtspolitik und innere Politik oder Verwaltungspolitik engeren Sinnes (Administrativpolitik). Hauptteile dieser Politik sind die Organisations- und Staatsdienst-Politik, die Polizeipolitik (Polizeilehre) und die Kulturpolitik.[10]
- ↑ Rehm, Geschichte der Staatsrechtswissenschaft 1896, S. 70, 71, 126.
- ↑ Menzel, Machiavelli Studien in Grünhuts Zeitschrift für Privat- und öffentl. Recht 29, 565.
- ↑ Über Thomas Aquinas Rehm, Geschichte der Staatsrechtsw. S. 179.
- ↑ Rehm, Allgemeine Staatslehre 1899 S. 211.
- ↑ Alfr. Schmidt, Machiavelli und die allgemeine Staatslehre. 1907 S. 3, 40 ff.
- ↑ O. Gierke, Begriff und Aufgaben der Staatswissenschaft. Fortbildung in der Internationalen Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 4 (1910), 489.
- ↑ v. Mayr, Begriff und Gliederung der Staatswissenschaften 3. Aufl 1910.
- ↑ Jellinek. 292.
- ↑ Vergl. Rehm, Deutschlands politische Parteien. Ein Grundriss der Parteienlehre 1912. § 8.
- ↑ Bernatzik, Polizei und Kulturpflege in „Die Kultur der Gegenwart“ hsg. v. Hinneberg Teil II Abt. VIII Systematische Rechtswissenschaft 1906.