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Prediger der Wüste

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Titel: Prediger der Wüste
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aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 537–539
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Prediger der Wüste.

Der Engländer, der mit seinem kühnen Unternehmungsgeiste, mit seinen industriellen Speculationen und kaufmännischen Berechnungen den ganzen Erdkreis umfaßt, der so rastlos arbeitet und ein Interesse so erfolgreich nach den fernsten Welttheilen hin verfolgt, fühlt das Bedürfniß, sich von Zeit zu Zeit auf einen möglichst engen Kreis zu beschränken, sich in wohlthuender Gedankenlosigkeit zu erholen und die Süßigkeit des Nichtsthuns und Nichtsdenkens in seinen Kirchen zu genießen. Da hört er jeden Sonntag die lange, lange Liturgie, deren Worte ihm so vertraut geworden sind, daß sie allen Sinn für ihn verloren haben, und dann eine Predigt, die vom Geistlichen abgelesen wird und deren leidenschaftslose Gemeinplätze nicht im Stande sind, ihn in dem dolce far niente seiner Sonntagsruhe zu stören. Mehr bedarf er nicht. So entspricht der englische Sonntag, der namentlich den von der Industrieausstellung herbeigezogenen französischen Journalisten so unerträglich erscheint, einem thatsächlichen Bedürfnisse und ist wirklich eine nationale Institution. Wenn man lange in England gelebt und gearbeitet hat, so gewöhnt man sich an diese wohlthuende Sonntagsruhe, in der das ganze bürgerliche Leben stille steht und der allgemeine Geistes- und Körperschlummer durch kein Geräusch gestört und durch keine Aufregung unterbrochen wird, so sehr, daß man sie ungern vermissen würde. Der englische Sonntag ist nur in so weit langweilig, als die Langeweile zum englischen Comfort gehört. Ein Fremder kann an diesem Tage namentlich in London sehr interessante Lebensstudien machen.

Heute ist Sonntag und zwar ein Sonntag, wie er sein soll. Eine wohlthuende Mattigkeit senkt sich vom unbewölkten Himmel auf alle glücklichen, arbeitsfreien Wesen herab, kein Lüftchen regt sich in den Gesträuchen meines Gartens vor dem Hause, die Natur hält vor Vergnügen den Athem an, und nichts stört Dich im Genusse der süßen Langeweile, die auf heißen Sonnenstrahlen herniederfährt und dem auf seinen Lehnstuhl geworfenen Engländer ein Gebetbuch oder ein Zeitungsblatt in die Hand drückt. Nur das Gebimmel der Kirchenglocken belebt die Straßen mit stillen Feiertagsmenschen. Wer nicht zur Kirche geht, wie der Arbeiter, der Luft schöpfen muß, oder der Fremde, der seine Beine an das häufige Aufstehen und Niederknieen nicht gewöhnen kann, der schlendert in die Parks, in denen es auch Sonntag ist und wohin wir uns von dem Leser heute begleiten lassen wollen.

Wir sind auf dem Wege nach dem Hyde-Park, wo das Londoner Sonntagsleben seinen charakteristischsten Ausdruck zu finden pflegt. Während der Wochentage ist dieser öde, baumlose Park in den Händen der Aristokratie und ihres Gefolges von fashionablen Bummlern, Taschendieben und Flunkeys, wie man die Livréebedienten mit ihren stattlichen Puderzöpfen und hellfarbigen Plüschhosen zu nennen pflegt. Das Bischen Natur, das mit den aristokratischen Liebhabereien verträglich gefunden wird, ist durch allerhand Schnörkeleien zu etwas Besonderem gemacht worden. Die Bäume sind zu vereinzelt, um Schatten, und die Grasflächen zu vertreten und verstäubt, um Farbe gewähren zu können. Der Hyde-Park ist eben nichts als eine ungeheuere Rennbahn für die reitende und fahrende Aristokratie, ein Corso, dessen einziger Schmuck in eleganten Equipagen und Toiletten, in luxuriösen Pferden und Geschirren besteht. Uns ist dieser Park widerlich. Jeder Mensch, dem Du begegnest, sieht aus, als wolle er Dir die Uhr aus der Tasche stehlen oder habe Dich im Verdachte eines ähnlichen Anschlags auf seine eigenen Taschen. Natur, Grün und Waldeinsamkeit sind uns lieber als geschminkte Herzoginnen, gepuderte Flunkeys und silberne Pferdegeschirre; daher ziehen wir den benachbarten Kensington Garten dem Hyde-Park bedeutend vor.

Aber am Sonntag ist die ganze Physiognomie dieses Parks verändert. Das Volk hat Besitz von ihm ergriffen und betrachtet ihn als sein unbestrittenes Eigenthum. Nach allen Seiten über die ungeheuere Fläche hin wogen geputzte Arbeitermassen, die sich bei näherer Betrachtung in einzelne Familiengruppen auflösen. Frauen und Kinder müssen heute Luft schöpfen, nachdem sie die ganze Woche über in den dunstigen Gassen und Höfen von Mary-le-bone oder in der erstickenden Atmosphäre enger Werkstätten zugebracht haben. Wer hier Völker-Studien machen will, der findet reichlichen Stoff dazu. Da haben wir den vorkaiserlichen Franzosen, der schon durch seine Tracht ankündigt, daß er nicht mehr in die moderne Welt gehört. Noch immer trägt er seinen biegsamen Barrikadenhut, seinen schlichten vormärzlichen Knebelbart, das flatternde Halstuch und die ungezwungenen Beinkleider, als habe die Weltgeschichte seit zwölf Jahren still gestanden und warte auf seine Beihülfe, um sich wieder in Bewegung zu setzen. Eine intelligente, verwitterte Arbeiterphysiognomie, die theilnahmlos auf das fremde und unbegriffene Leben blickt. Seine Haare werden grau, und die vom Elend durchfurchten Züge des einsamen Mannes beleben sich nur auf Augenblicke, wenn er einem vorkaiserlichen Genossen im Haufen begegnet und wehmüthig die Hand drückt. Diese interessanten Gestalten, die noch vor wenigen Jahren einen wesentlichen Bestandtheil des Londoner Straßenlebens bildeten, sind in neuerer Zeit ziemlich selten geworden; Tod, Auswanderung und Amnestie haben unter den flüchtigen Kämpfern der 1848er Revolution bedeutend aufgeräumt; aber des Sonntags im Hyde-Park kann man sicher sein, solche lebendige Proteste gegen den 2. December zu finden. Viel zahlreicher sind natürlich die kaiserlichen Franzosen vertreten. Man erkennt sie leicht an ihrem heldenmütig spitz gedrehten Barte, dem frivolen kleinen Hütchen, der ängstlichen Toilette und der frechen Casernenphysiognomie, womit sie den Hohn der Londoner Straßenjugend und die trotz aller Verbrüderungsexperimente unversöhnliche Antipathie des englischen Arbeiters herausfordern.

Das bei weitem zahlreichste fremde Element unter dem Sonntagspublicum des Hyde-Parks bilden jedoch die deutschen Arbeiter, von den elegant gekleideten Uhrmachern und Juwelieren an, die eine imposant crinolirte Flamme aus der Putzmacherlinie am Arme spazieren führen, bis zu den ärmlich bezahlten Zuckersiedern von Whitechapel, die mit ihren breiten norddeutschen Gesichtern und vaterländischen Sonntagsröcken allsonntäglich aus den rauchigen und schmutzigen Gassen des Ostends an’s Tageslicht kommen und die babylonische Sprachverwirrung des Hyde-Parks mit ihrem gemüthlichen Plattdeutsch vermehren. Daneben classische Banditengesichter aus Italien, die heute feiern müssen, da ihr Drehorgelgeschäft mit den englischen Sonntagsgesetzen unverträglich ist; struppige Dänen, die jeden glattgekämmten Menschen für einen Schleswig-Holsteiner zu halten scheinen und sich inmitten der vielen Tausende von Sonntagsbesuchern mißtrauisch allein halten; viereckige, scharfmarkirte Schweizer, kriegerische Polen und Ungarn, natürlich Generäle oder Obristen, Griechen, Hindus, Türken, Neger – – alle Nationen senden Sonntags ihre Vertreter nach dem Hyde-Park. Matrosen in ihren blauen Hemden, Leibgardisten in ihren rothen Uniformen scheinen die Tausendsappermenter der Sonntagsvergnügungen zu sein, und zahlreiche Polizeidiener finden sich unter dem Haufen zerstreut, beschäftigen sich jedoch mehr mit den Herzen ihrer heute in seidenen Kleidern ausgerückten Köchinnen, als mit der Bewachung des Publicums. Am Sonntag wird im Hyde-Park nicht gestohlen, und wenn nicht gerade eine brennende Frage auf der Tagesordnung steht und Gelegenheit zu stürmische Volksversammlungen unter freiem Himmel giebt, so geht Alles in der größten Ordnung zu.

Da es sich nicht mit der Hochachtbarkeit eines christlichen Gentleman verträgt, die Sonntagsruhe seiner Pferde und Kutscher zu stören, so sieht man wenig Equipagen, und die wenigen, welche sich auf dem Corso blicken lassen, gehören Quäkern, Juden, deutschen Gesandten und ähnlichen heidnisch gesinnten Leuten.

„Rotten-Row“ ist im unbestrittenen Besitze von einigen Miethkleppern, auf denen sich verwegene Ladengehülfen, die gestern ihren Wochenlohn erhalten haben, herumtummeln. Geschlecht ist gar nicht vorhanden, weder ganze, noch halbe, noch Viertelswelt. Unter den Spaziergängern lassen sich jedoch auch vereinzelte hervorragende Personen und selbst Personagen erkennen, die unbemerkt und unbekümmert ihren Gedanken oder ihrer Verdauung nachgehen. Jene hohe, etwas nach vorn gebeugte Gestalt mit dem langen, nach hinten flatternden Haar, der griesgrämigen orientalischen Physiognomie und dem sorglosen schwarzen Anzuge ist Mr. Disraeli, der Mann mit dem ungeheueren Ehrgeize und den scharfen jüdischen Epigrammen, der Chef einer großen Partei, die ihn haßt und fürchtet und doch nicht entbehren kann, der glänzende Vertreter eines Conservatismus, der mit seinen radicalen Neigungen in unversöhnlichem Widersprüche steht. Er scheint allmählich unter dem [538] niederdrückenden Gewichte dieses Widerspruches zu erliegen und ist in wenigen Jahren sehr alt geworden, aber immer noch der größte Redner des Unterhauses, sobald er seiner mühsam unterdrückten Leidenschaft freien Lauf lassen kann und im aufregenden Sturme der Debatte vergißt, daß er mit Leib und Seele an eine altersschwache, zukunftslose und zerfallende Partei geschmiedet ist. Um zu wissen, was in dem Inneren dieses Mannes vorgehen muß, brauchen wir nur sein Haus, das hier hinter den Bäumen hervorblickt, zu betrachten. Ein großes, kahles, abstoßendes Eckhaus, ein Bild der Ungastlichkeit, das fast immer hinter verschlossenen Gardinen und Fensterläden liegt. Es fröstelt einen, wenn man dieses nackte, gegen die Außenwelt abgeschlossene, finstere Gebäude nur anblickt. Der Mann, der in diesem Hause wohnt, muß sehr einsam in der Welt dastehen. Der Weg, den der Verfasser von „Vivian Gray“ zu gehen hatte, um zu diesem Hause zu gelangen, führt über manche gescheiterte Hoffnung. Um dieses Ziel zu erreichen, mußte er eine wohlhabende Wittwe heirathen, seinen Jugendneigungen entsagen und sich zum Werkzeuge einer Partei hergeben, die ihn als ein nothwendiges Uebel betrachtet und in vollständige gesellschaftliche Vereinsamung getrieben hat. Er bleibt stehen und blickt mit starrem Auge zu Boden. Woran mag er denken?

So ziemlich in der Mitte des Parks auf einer leichten Anhöhe steht eine größere Anzahl von Bäumen beisammen. Man nennt diesen Platz die „Wüste“, und diejenigen Individuen, welche hier ihre Sonntagsvorstellungen geben, heißen „Prediger der Wüste“. Straßenprediger findet man zwar überall in London, aber sie werden wenig beachtet und müssen eine sehr gute Lunge besitzen, wenn sie durch das Singen der einleitenden Hymne einen Haufen um sich versammeln wollen, der noch dazu sich gewöhnlich wieder verläuft, sobald vom Gesang zur Predigt übergegangen wird; sie sind meistens die bezahlten Sendlinge frommer Vereine und nicht auf den unmittelbaren Erfolg ihrer Leistungen angewiesen. In den Parks dagegen herrscht das Princip der freien Concurrenz. Wenn es einem Prediger nicht gelingt, seine Zuhörer zu fesseln, so muß er sie zu seinem Rivalen unter dem nächsten Baum wandern sehen; er darf also vor Allem nicht langweilig sein und kann sich nur auf seine eigenen Kräfte verlassen. Im Hyde-Park predigten heute etwa 15 Prediger zu gleicher Zeit und zum Theil in offener Opposition zu einander. Der Prediger, der gewöhnlich einen handfesten und lungenkräftigen Assistenten zur Seite stehen hat, stellt sich auf eine Bank oder schwingt sich auch auf die untersten Aeste eines Baumes, liest zwei Strophen einer Hymne vor und beginnt mit seinem Gehülfen zu singen, immer die Worte des Gesanges in den Pausen vorlesend. Gelingt es ihm, ein hinreichend zahlreiches Publicum auf diese Weise herbei zu singen, so geht er nach Schluß des Gesanges zum Gebet und dann zur Predigt über. Das Publicum hat allen Vortheil von dem Princip der freien Concurrenz, nach welchem hier seine religiösen Bedürfnisse befriedigt werden. Der Geistliche in seiner Kirche weiß, daß er seine Heerde für eine Stunde sicher hat, denn es würde ganz gegen alle Respectabilität sein, die Kirche vor dem Ende der Predigt zu verlassen. Aber ein „Prediger der Wüste“ weiß, daß er seine Zuhörer interessiren muß, um sie beisammen oder ruhig zu halten. Nicht nur muß er im Stande sein, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, sondern auch schlagfertig etwaigen Einwürfen begegnen, die ihm aus dem Haufen gemacht werden. Wenige der wohlbestallten Londoner Geistlichen würden in der „Wüste“ zu predigen vermögen. Diese Prediger der Wüste sind roh und ungebildet, zum großen Theil wahrscheinlich Heuchler und Aufschneider, aber sie besitzen einen gewissen Grad von Beredsamkeit und verstehen es, durch pikante Witze oder eindringliche Verzückungen, durch starkwirkende Versinnlichung der Höllenstrafen oder durch schmackhafte Schilderung der himmlischen Seligkeit ihr Publicum zu erregen und zu fesseln. Man findet nur sehr selten wirkliche Geistliche unter ihnen, gewöhnlich sind es junge Leute, bei denen die Gnade eben zum Durchbruche gekommen ist und die Wiedergeburt vortrefflich anzuschlagen scheint, denn sie werden dick und fett dabei und bilden einen wohlthuenden Gegensatz zu ihren atheistischen Rivalen, deren halbverhungerte Physiognomien zur Genüge anzeigen, daß der Atheismus ein schlechtes Geschäft in England ist.

Zunächst blieben wir unter einem Baume stehen, auf dem ein wohlbekannter Wüstenredner seine Tribüne aufgeschlagen hatte. Mit stürmischer Beredsamkeit protestirt er allsonntäglich von demselben Baume herab gegen alle politischen und socialen Gesetze, welche ihn umgeben, und findet dann schließlich den Grund des Uebels in dem Bestehen der Religion, die er mit großer Heftigkeit zu vernichten droht. Seiner heutigen Predigt oder Vorlesung legte er die neulich erfolgte Verurtheilung eines neunjährigen Kindes wegen Wilddieberei als Text zu Grunde und verlas den betreffenden Bericht aus einer Penny-Zeitung. Der Abwechselung halber begaben wir uns unter einen benachbarten Baum, um dem „jungen Evangelisten aus Rochdale“ für einige Minuten zuzuhören; kehrten jedoch bald wieder zurück, da wir befürchteten, daß die allzu große Süßigkeit seiner Worte uns Magensäure verursachen würde. Bei unserer Rückkehr fanden wir den Atheisten in heftiger Disputation mit einem Rivalen begriffen, der das Aussehen eines dissentirenden Geistlichen hatte. Die Streitfrage war: ob sich, die Autorität der Bibel angenommen, irgend eine Stelle zur Rechtfertigung der Todesstrafe finden lasse. Um beide Kämpfer schaarte sich eine Partei, die durch Zurufe, Pfeifen und Händeklatschen ihren eigenen Kämpen zu ermuntern und den Gegner zu entmuthigen suchte. Die Disputanten erhitzten sich und schienen eben im Begriff zu sein, sich in die Haare zu fahren, um die Bedeutung des Textes: „Wer eines Menschen Blut vergißt etc.“ durch physische Beweisgründe zum Abschlüsse zu bringen. Für den Freund gesetzlicher Ordnung und positiver Religion mußte es erfreulich sein zu bemerken, daß bei dem bevorstehenden Faustkampfe der Vertheidiger der bestehenden Gesetze die größten Vortheile haben würde, denn er war nicht nur viel größer und vierschrötiger als der Anarchist, sondern schwang auch eine dicke Bibel über seinem Haupte, während sein Gegner nur mit einem dünnen Zeitungsblatte bewaffnet war. Als die Dinge zu diesem entscheidenden Punkte gediehen waren, begannen zwei kolossale Gardisten, die der Auslegung des Textes mit ziemlich verblüfften Mienen zugehört hatten, plötzlich ein sehr einsichtiges Interesse an den Vorgängen zu bethätigen, und die Jungen, welche um den Zuhörerkreis herumsprangen und jubelten, waren natürlich in Ekstase. Beide Disputanten standen auf einer der kreisförmigen Bänke, die unter einigen Bäumen angebracht sind, und die Discussion war schon sehr persönlich geworden, als zu unserer großen Enttäuschung der Vertheidiger des Gesetzes plötzlich verschwand, wahrscheinlich niedergerissen von den Kämpen der Anarchie. Es ließ sich in dem Tumulte schwer erkennen, was eigentlich vorging, aber nach einem großen Aufwand von Geschrei und Durcheinanderrennen fanden sich die beiden Gegner plötzlich unter zwei verschiedenen Bäumen, etwa 200 Schritt von einander getrennt, und nahmen ihr Geschäft so ruhig wieder auf, als ob nichts vorgefallen wäre, jener das Vorspiel zu einer Hymne singend und dieser aus seiner Zeitung gegen die Tyrannei der Gesetze und die Verderblichkeit der Religion donnernd.

Diese Kämpfe finden nicht immer unter demselben Baume statt, sondern gewöhnlich befinden sich die Widersacher unter oder auf zwei gegenüberstehenden Bäumen. Auf einen Atheisten kommen jedoch mindestens ein halbes Dutzend Orthodoxe, und es ist vielleicht ein neuer, aber gewiß schlagender Beweis für den Werth der Orthodoxie, daß diejenigen, welche für dieselbe im Hyde-Park predigen, fetter sind, als diejenigen, welche dagegen predigen. Verschiedenen Neubekehrten, welche nun Andere auffordern, in ihre Fußstapfen zu treten, scheint die Gnade wunderbar zu bekommen.

Dies ist um so auffallender, da die Polizei nicht gestattet, mit dem Hut herumzugehen, sondern den erwähnten Atheisten, der sich zuweilen von der Noth zu diesem Mittel verleiten zu lassen scheint, schon mehrmals wegen Bettelns verhaftet und vor den Bezirksmagistrat geführt hat. Freilich kann sie nicht verhindern, wenn der „junge Evangelist von Rochdale“ seine Adresse angiebt und erklärt, daß er bereit sei, mit denen, welche seinen geistlichen Rath suchen sollten, zu einer bestimmten Tageszeit zu beten. Dieser populärste Prediger der Wüste ist ein kurzer, rothhaariger Junge von etwa 18 Jahren, der gar nichts Besonderes an sich zu haben scheint, aber zwei Stunden lang beten, predigen und singen kann, ohne eine Pause zu machen oder das geringste Anzeichen von Ermüdung zu verrathen. Die Predigten sind ziemlich alle über einen Leisten, und der Prediger spielt unter jedem Baume die Rolle eines lebendigen Exempels der zum Durchbruch gekommenen Gnade. Seine Kenntniß von den Wirkungen der christlichen Wiedergeburt ist viel größer als von den Erfordernissen der englischen Grammatik, die gewöhnlich abscheulich maltraitirt wird. Die Poesie der Hymnen, die meistens nach der Melodie eines populären Gassenhauers gesungen werden, ist im höchsten Grade abgeschmackt. Ein Refrain:

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„Oh, the Lamb, the bleeding Lamb,
The Lamb upon Calvary etc“

erregte besonders den sarkastischen Widerspruch des Atheisten, der zwar offenbar schlechte Geschäfte in der „Wüste“ macht, aber mehr Humor und Kritik besitzt, als seine glücklicheren Rivalen. Er hat immer den aufmerksamsten Zuhörerkreis um sich. Das aber ist eben das Große der englischen Freiheit, daß die wühlerischesten Grundsätze im offenen Park gepredigt werden dürfen, und Staat, Religion und Gesellschaft sich nicht darum zu bekümmern brauchen. Den glänzendsten Beweis dafür liefert das englische Sectenwesen selbst.

Wie viel Secten es in England eigentlich giebt, ist schwer zu sagen; aber so viel wissen wir, daß kein Religionsstifter daran zu verzweifeln braucht, hier Gläubige zu finden, falls er im Artikel „Unsinn“ nur irgend welche nennenswerthe Concurrenz auszuhalten vermag. Der Mormonismus ergänzt sich vorzugsweise aus dem englischen „angeborenen Verstand“ (common sense); der religiösen Phantasie eines Geistlichen aus Wales verdankte Joe Smith die zum „Mormon“ umgestaltete Novelle. Dr. Cumming prophezeit den Untergang der Welt für 1867 in Büchern und von der Kanzel und ist einer der fashionablesten Prediger Londons, dessen gläubige Bewunderer sich namentlich in den höheren Ständen befinden. Ein Mr. Congreve hat vor Kurzem dem Comte’schen Cultus in Wandsworth einen Tempel eröffnet, und der ganze hierarchische Unsinn, zu dem sich der berühmte Philosoph in sonderbarer Abirrung von seinem Buchstabenglauben verleiten ließ, wird hier als ernsthafte Thatsache gepflegt. Der Platonist Mr. Taylor opferte in seinem Hinterstübchen zu Walworth dem Jupiter einen Widder, und wenn die Religion der Platonisten auch seitdem ausgestorben ist, so liegt dies wohl nur daran, daß Platonismus einen Aufwand von philosophischen Gedanken verlangt, der dem Vertriebe dieser Religion am hiesigen Markte nicht günstig sein konnte. Erweckungen, Tischrücken und Geisterklopferei, diese modernsten Offenbarungen unseres aufgeklärten Zeitgeistes, finden in keinem anderen Lande so viele Priester und Gläubige, als im freien Albion, dem Vaterlande Bacon’s und Locke’s, das noch Voltaire als das Paradies der skeptischen Aufklärung zu preisen vermochte. Dicht neben dem südlichen Districttempel der Mormonen „über dem Wasser“ that sich vor einiger Zeit eine neue Religion auf, deren Hauptglaubensartikel in der großen Trommel bestanden zu haben scheint und die deshalb so geräuschvoll wurde, daß die Polizei Auftrag erhielt, im Namen der Sabbathsordnung dagegen einzuschreiten; die Trommel lockte die Gläubigen herbei, und ein altes Weib machte sie selig, indem es ihnen unmittelbar von Gott empfangene Befehle mittheilte und sich – wie der denuncirende Constabler aussagte – in seiner Ekstase „zuweilen auf den Kopf stellte“. Ob diese interessante Religion noch existirt, wissen wir nicht; aber sollte sie auch dem Verbote der großen Trommel erlegen sein, so braucht der „common sense“ deshalb keineswegs an einer genügenden Zufuhr religiöser Nahrung zu verzweifeln.

Soeben ist hier ein Buch erschienen unter dem Titel: „Miranda. Ein Buch in drei Theilen: Seelen, Zahlen, Sterne. Mit Bestätigungen der alten und neuen Christuslehren, aus Wundern, die bisher in der Bibel unbemerkt geblieben sind, aus Thatsachen und Daten der Geschichte und aus Stellung und Bewegung der Himmelskörper. Gedruckt und verlegt von James Morgan, 48 Upper Marylebone-street, London.“ Der Verfasser dieses tiefen Werkes weist nach, daß sich die zweite Person der Dreieinigkeit bis auf den heutigen Tag in 49 Menschwerdungen offenbart habe. Die 49. fand statt am 20. April 1812 und hat ihre messianische Wirksamkeit mit der Herausgabe des vorliegenden Buchs begonnen. Die Aufgabe, welche diesem neusten und größten Messias geworden ist, besteht darin, alle bisher bestandenen Religionen zu einer einzigen zu vereinigen und auf den Cultus des Feuers zurückzuführen. Der Name dieser neuen und vollkommensten Religionsbekenner soll „O-Christians“ sein und mit dem Baue ihres Tempels, wofür das Buch sehr umständliche Anweisungen erhält, sofort begonnen werden, sobald die nöthigen Fonds gezeichnet sind. Sollte der fleischgewordene Messias des O-Christenthums nicht vor dem Beginn des Tempelbaues in’s Irrenhaus gesteckt werden, so können wir dieser neuen Religion eine blühende Zukunft versprechen, denn ihr Programm enthält eine Complication des Unsinns, die noch weit über das Mormonenthum hinausgeht und aus John Bull’s „angeborenen Verstand“ unwiderstehlich wirken muß.

Solche ungewöhnliche religiöse Leckerbissen sind jedoch vorzugsweise nach dem Geschmacke der ärmeren Classen, welche von den Gütern dieser Welt so wenig abbekommen haben, daß sie Gourmands nach den Gütern jener Welt geworden sind. Der respectable, d. h. reiche und angesehene Engländer ist gewöhnlich viel bescheidener in seinen religiösen Ansprüchen und begnügt sich mit seiner staatskirchlichen Orthodoxie. Je weniger ihn dieselbe zum selbstthätigen Denken auffordert, desto vollständiger entspricht sie seinen Bedürfnissen. Der deutsche Pietismus, der eine ungewöhnliche Gefühlserregung und zugleich ein gewisses theologisches Studium voraussetzt, hat hier kein Glück. Die anglicanische Dogmatik wird eigentlich auch von den Dissenters nicht angegriffen, die ganze Meinungsverschiedenheit bezieht sich auf die Form des Kirchenregiments. Seitdem die orthodoxe Reaction gegen den Gedanken des 18. Jahrhunderts, die in England am heftigsten und siegreichsten war, vollendete Thatsache geworden, fühlte sich der englische Clerus so zufriedengestellt in seinem von den herrschenden Classen getragenen Machtbesitze, daß er selbst die Theologie als überflüssig aufgab. Es befand sich kein Feind mehr im Felde, den er hätte bekämpfen müssen. Als daher die „Essayisten“ neuerdings die Resultate der deutschen Bibelkritik gegen ihn zu Felde führten, hatte er keine anderen Waffen gegen sie, als die Machtsprüche mittelalterlicher Gerichtshöfe, Inquisition und Ketzergesetze. Der deutsche Rationalismus entspricht in der That ebenso wenig als die philosophische Kritik dem Geiste des heutigen Englands.