Der Prairiebrand (1862)
Als ich im Jahre 1852, nach langer einsamer Irrfahrt durch die schneebedeckten Steppen, den Missouri bei den Dörfern der Otoe- und Omaha-Indianer in halbverhungertem Zustande erreichte und mich einigen dort stationirten weißen Pelztauschern anschloß, vernahm ich viel über einen deutschen Künstler, der sich daselbst längere Zeit aufgehalten hatte und dann, in Verfolgung seiner weiteren nicht ungefährlichen Studien, den Missouri hinaufgegangen war. Die Eingeborenen erinnerten sich seiner mit einer gewissen Scheu, weil er es verstand, die „Seelen der Menschen auf das Papier zu zaubern“, und mehr noch weil einzelne der portraitirten Persönlichkeiten später von der Cholera hinweggerafft wurden. Jener Künstler war Fred. Kurz.[1] Ich kreuzte seinen Pfad und er den meinigen, ohne daß wir je zusammengetroffen wären.
Wenn Deutsche sich in fernen, fremden Landen begegnen (und Deutschland hat ja fast in jedem Winkel der Erde einige Vertreter aufzuweisen), so fühlen sie gewöhnlich Theilnahme für einander; selbst auch dann, wenn sie nur durch die Kunde mit einander bekannt wurden, erwacht ein gegenseitiges Interesse. Erfüllt von solcher Theilnahme liefere ich gern die Beschreibungen zu den Skizzen des talentvollen Fred. Kurz, doppelt gern, weil sie durch Wahrheit im Ausdruck, ja in jeder einzelnen Linie verrathen, wie der Künstler durch die in der freien, noch unentweihten Natur empfangenen Eindrücke zum Enthusiasmus hingerissen wurde, ohne sich bei der bildlichen Darstellung, wie so häufig geschieht, zu phantastischen Ausschmückungen und Ueberschreitungen verleiten zu lassen. So bei dem vorliegenden Prairiebrand. Nur wer selbst die grausige Gefahr des „eilenden Feuers“ kennen lernte, die von Entsetzen ergriffenen Geschöpfe, gleichviel ob Menschen oder Thiere, beobachtete, wie sie mit allen Zeichen tödtlicher Erschöpfung ihre Flucht zu bewerkstelligen suchten, und wie aus jedem ihrer Blicke, aus jeder ihrer Bewegungen ein stummes und doch so beredtes Flehen um Erbarmen sprach, nur der vermag, wie hier geschehen, im Bilde seine Erfahrungen so verständlich wiederzugeben.
Doch nicht immer, man darf sogar behaupten, in den wenigsten Fällen, tritt das entfesselte Element in so drohender Weise auf; denn nicht überall entsprießen dem Boden üppig und [540] hoch wuchernde Grasarten, die dem Feuer massenhafte Nahrung bieten, und nicht immer wirft sich der Sturm hinter die lodernden Flammen, um sie wüthend und Alles verderbend durch die endlosen Ebenen zu peitschen.
Wo der wandernde Bison noch heute seinen tiefausgetretenen Pfaden folgt, wo die flinken Mustangs heerdenweise umher schwärmen, die schöngezeichneten Antilopen ihr munteres Spiel treiben und Millionen harmloser Prairiehündchen aus ihren Erdhöhlen hervor jeden neuen Tag mit ausgelassenem Gekläffe begrüßen, da bedeckt auf Tausende und aber Tausende von Quadratmeilen, mit Ausnahme der oft sehr umfangreichen Flußniederungen, kurzes, fettes Gras den tennenähnlichen Boden. So lange der Brand sich innerhalb der Grenzen dieser niedrigen Vegetation hält, verfolgt er nur langsam und ungefährlich die ihm von den Luftströmungen vorgeschriebene Richtung. Der Mensch schreitet dort mit Leichtigkeit über die schmale feurige Kette hinweg, während es den Thieren ohne übermäßige Anstrengung gelingt, sich durch die Flucht der vermeintlichen Gefahr zu entziehen oder nackte Regenschluchten zu gewinnen, von wo aus sie dann mißtrauisch die über sie hineilenden Rauchwolken beobachten. Wie in dem alten Sagen entlehnten Paradiese, so bewegen sich an solchen Stellen Geschöpfe, die von der Natur darauf angewiesen wurden, sich gegenseitig zu bedrohen oder zu meiden und zu fürchten, friedlich durcheinander. Der Hirsch und die Antilope sind uneingedenk der verderblichen Zähne des nahen Wolfs, ihres Erbfeindes; der Panther übersieht den zottigen Bison, den er durch einen einzigen Sprung zu erreichen vermöchte; und Raubgier wie Scheu, beide Gefühle treten zurück vor der gemeinsamen Furcht vor einem martervolleu Untergange. Sie drängen sich aneinander vorbei, sie schauen zu den schwarzen Rauchwolken empor, aber nach der Ebene hinauf wagen sie sich sobald nicht wieder; es sei denn, daß der Brand am Rande der vegetationslosen Schlucht ersterbe, anstatt über dieselbe hinwegzusetzen, oder daß schlaue Jäger, von denen sie mittelst des absichtlich angelegten Feuers bis dorthin gehetzt wurden, nach Herzenslust mordend, ihre tödtlichen Geschosse unter sie versenden.
Wenn das Feuer von den Eingebornen an geeigneten Stellen zum Treiben des Wildes gebraucht wird, so zünden sie doch viel häufiger die Prairie an, um strichweise auf ihren Revieren jungen und saftreichen Graswuchs für ihre Pferde zu erzielen. Es geschieht dies vorzugsweise im Hochsommer und Herbst, wenn die in Saat geschossenen Halme geschmacklos und holzartig geworden sind, oder unter den glühenden, fast senkrechten Strahlen der Sonne verdorrten. Wo vor wenigen Tagen erst der wilde Brand unaufhaltsam hintobte, da gewahrt man dann lichtgrüne Keime dichtgedrängt die befruchtende Aschendecke durchbrechen, und nach einigen Wochen schon hat sich die schwarze staubige Ebene wieder in nahrhafte Weide verwandelt. Oft verdankt aber auch der Prairiebrand sein Entstehen feindlichen Gefühlen, die ein Stamm gegen den andern hegt; oft dem Zufall oder dem Muthwillen. Jedenfalls bleibt es immer gefährlich, unüberlegt und sorglos, den zündenden Funken der Prairie um sich greifen zu lassen; denn wo die erste Rauchsäule emporwirbelt, das weiß man genau; doch wo der verderbliche Brand endigt und welche Opfer er zuweilen fordert, das liegt außerhalb der Grenze menschlicher Berechnung.
Wiederum betrachte ich die gelungene Zeichnung, und mit einem Gemisch von Wehmuth und Freude fühle ich mich zurückversetzt in die Zeiten meines unstäten Wanderlebens. Kleine Begebenheiten, die einst an Ort und Stelle kaum beachtenswerth schienen, erhalten bestimmtere Umrisse und Formen, und indem sie sich bunt aneinander reihen, gewinnen sie einen erläuternden, belehrenden Charakter.
Es war eine schreckliche Nacht! Dichte Schneemassen trieb der Sturm vor sich her; heulend brach er sich zwischen den Council-Bluffs, und sausend fuhr er über den Missouri, der schon seit Monaten in den starren Fesseln des strengen Winters lag. Das kleine Blockhaus aber, welches zum Tauschverkehr mit den Eingeborenen errichtet worden, das schüttelte er, als wenn er es habe von der Stelle rücken wollen. Im breiten, geräumigen Kamin glimmten dicke übereinander geschichtete Holzblöcke und erhellten schwach die rohen Wände des viereckigen Gemachs, und nur zeitweise, wenn der Sturm wüthend und im tiefsten Baß in den hölzernen Schlot hineinschlug, Asche und Funken wild in der Stube umherschleuderte und die, Flammen wieder anfachte, theilte sich allen Gegenständen eine glühend rothe Beleuchtung mit. Büchsen, Bogen, gefüllte Köcher und sonstige indianische Waffen standen in den Ecken oder hingen an den Zapfen, die zwischen die Balken in die mit Lehm zugestopften und verschmierten Fugen getrieben worden waren; auf dem staubigen Fußboden dagegen reckten und dehnten sich zwischen farbigen wollenen Decken, Büffelhäuten, Bärenpelzen, Biber- und Otterfellen wohl an achtzehn Omaha-Indianer. Sie lagen dicht neben einander und füllten das Gemach so aus, daß man nur mit größter Vorsicht zwischen ihren Leibern hinzuschreiten vermochte. Ich selbst lag vor dem Kamin, die Füße der wärmenden Gluth zugekehrt; an meiner rechten Seite befand sich Henry Fontanelle, ein Halbindianer, während Ongpa-tanga, oder der „große Hirsch“, der Omaha-Häuptling, sich zu meiner linken ausgestreckt hatte und an diesen sich ein zwanzigjähriger Bursche von demselben Stamme reihte. Letzterer war mir schon am Tage, seines krankhaften Aussehens wegen, aufgefallen, doch war ich bei dem lebhaften Tauschhandel zu sehr in Anspruch genommen worden, als daß ich Erkundigungen über den Grund dafür hätte einziehen können.
Der scharfe Schnee, getrieben von heftigem Luftzuge, knisterte gegen die kleinen Fensterscheiben; der Saft in den verkohlenden Blöcken siedete und zischte, und sprengte zuweilen, wenn in Dampf verwandelt, mit lautem Geräusch Splitter los, doch diese einschläfernde Musik wurde übertönt durch die monotonen Melodien, mit welchen sich einzelne Krieger in den Schlaf sangen. Der Gesang harmonirte mit der ganzen Umgebung, klang aber unheimlich, indem die auf dem Rücken liegenden Männer mit der Hand den Takt auf der eigenen nackten Brust schlugen, in Folge dessen die Töne in regelmäßigen Pausen abgebrochen wurden und sich dumpf und pfeifend den Lungen entwanden.
Meine beiden nächsten Nachbarn schliefen schon, und Einer nach dem Andern verstummten die Krieger. Eine kurze Zeit hindurch vernahm man neben dem Toben des Sturmes nur noch die tiefen Athemzüge der Ruhenden. Der junge Omaha, der neben seinem Häuptling lag, war der Letzte, der die Augen schloß; kaum hatte aber der Schlaf sein Bewußtsein gefesselt, so begann er in so kläglicher Weise zu jammern und zu stöhnen, daß ich nicht anders glauben konnte, als eine schmerzhafte Krankheit übe ihre Martern an ihm aus, oder ein heftiger Krampf schnüre ihm die Brust zusammen. Ich richtete mich auf und blickte zu ihm hinüber. Er lag, wie seine Gefährten, auf dem Rücken, aber seine Brust hob und senkte sich mit sichtlicher Anstrengung, und immer schmerzlicher waren die Laute, die aus seinem halbgeöffneten Munde hervordrangen. Ich rief ihn an; er rührte sich nicht, worauf ich mich fester in meine Büffelhaut wickelte, um die klagenden Töne, so viel wie möglich, von mir auszuschließen. Doch vergeblich, sie ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Da erhob sich Fontanelle von seinem Lager. Die abgekühlte Temperatur mußte ihm empfindlich auf die Glieder gefallen sein, denn er trat an die mit Asche bedeckte Gluth, schürte in derselben, thürmte die glimmenden Blöcke behutsam übereinander, daß sie, mehr Wärme ausströmend, hell aufflackerten, und traf dann Anstalt, sich wieder hinzulegen. Ich bat ihn, den jungen Omaha vorher anzustoßen und denselben dadurch dem Einfluß böser Träume oder dem vermeintlichen Alpdrücken zu entreißen.
„Laßt ihn nur stöhnen,“ entgegnete Fontanelle, indem er sich an meine Seite warf, „es ist seine Medicin, es wäre unrecht, ihn zu wecken.“
„Seine Medicin?“ fragte ich verwundet.
„Gewiß,“ erwiderte der Halbblütige mit feierlichem Ausdruck; „das Prairiefeuer spricht aus ihm.“
Meine ferneren Fragen beantwortete Fontanelle dadurch, daß er mir die Geschichte des jungen Omaha erzählte.
„Ungefähr vier Jahre mag es her sein, als Nis-ka dort drüben seine Verwandten auf einem Jagdzuge nach den Quellen des Papillon begleitete,“ hob er an, nachdem er mir sein Gesicht zugekehrt hatte. „Die Sioux dehnen ihre Jagdzüge ebenfalls bis in jene Gegend aus; es ist daher für die Omahas gerathen, beständig auf ihrer Hut zu sein. Die Gesellschaft, in welcher sich Nis-ka befand, hatte eine erfolgreiche Jagd abgehalten; die Büffelhäute waren, um den Packthieren die Last zu erleichtern, roh ausgegerbt und getrocknet worden; und während der ganzen Zeit ihres Aufenthaltes hatten die weit umherstreifenden Jäger keine einzige verdächtige Spur entdeckt. Sie wähnten die Sioux fern, vergaßen die stets unerläßliche Wachsamkeit und Vorsicht und begaben sich am Abend vor ihrem Aufbruch, wie sie schon immer gethan, so
[541][542] sorglos zur Ruhe, als wenn sie von den Wigwams ihres Dorfes oder von den dicken Wänden dieses Gemachs umgeben gewesen wären. Die ersten Stunden der Nacht verstrichen in ungestörter Stille; plötzlich aber wurden sie durch heftiges Poltern geweckt, mit welchem die in der Nähe der Zelte gepflöckten Pferde an den Leinen zerrten. Als sie die Augen aufschlugen, erkannten sie sogleich an dem hellen Schimmer, der durch die Zeltwände fiel, welcher Art die Gefahr sei, die ihnen drohte; kaum aber traten sie in’s Freie, so wurden sie auch inne, daß an ein Entrinnen nur mit Hinterlassung aller Habseligkeiten zu denken sei. Der ganze westliche Horizont war in Flammen gehüllt, und zwar hatte sich der Feuerstreifen ihrem Lager schon bis auf hundert Ellen genähert. Unglücklicher Weise waren sie von hohem, saftreichem Grase umgeben, welches das schnelle Erzeugen eines Gegenfeuers unmöglich machte, während auf der andern Seite ein starker Nordwestwind heftig in die Flammen blies, die grünen Halme weit vorweg durch die mitgeführte Hitze dörrte und zum leichten Raub für den Brand herrichtete. Zeit war nicht mehr zu verlieren; die Weiber schwangen sich auf die nächsten Pferde, die Kinder wurden ihnen von den Männern zugereicht, und im nächsten Augenblick waren diese beritten und sprengten den Ihrigen nach. Nur Nis-ka blieb zurück; die Sorge um seine jüngern Geschwister hatte ihn zu lange beschäftigt, denn als er zu seinem Pferde hineilen wollte, stürmte ein halbes Dutzend flüchtiger Büffel vorüber, und ihnen nach folgte sein Pferd, sein einziges und letztes Mittel zur Rettung. Es hätte eiserner Ketten bedurft, um das entsetzte Thier zu halten; die Lederleine war zu schwach gewesen.
Das unvermeidliche Verderben vor Augen ergriff Nis-ka in der Todesangst eine Büffelhaut, hüllte sich in dieselbe ein und stürzte den Flammen entgegen. Er gelangte lebendig durch den Feuerstreifen hindurch; aber das Gras war zu hoch, des brennbaren Stoffes zu viel, als daß er unverletzt hätte bleiben können. Auf dem ganzen Körper mit Brandwunden bedeckt, erreichte er eine sichere Stelle, wo er sich, den Tod erwartend, niederwarf.
Seinen Gefährten war es unterdessen nach scharfem Rennen geglückt, in dem breiten sandigen Bette eines fast ausgetrockneten Flüßchens ein Unterkommen zu finden; doch nur mit vereinigten Kräften und unter den größten Anstrengungen vermochten sie ihre Pferde zu halten, die wild kämpfend sich den fliehenden Hirschen, Büffeln, Antilopen und Wölfen anzuschließen trachteten. Aus der verhältnißmäßig geringen Zahl dieser Thiere ließ sich übrigens leicht errathen, daß der Brand noch keinen großen Weg zurückgelegt hatte und von einigen Sioux, die sich zu schwach fühlten, die Gesellschaft der Omaha’s offen anzugreifen, mit schlauer Berechnung geschürt und gelenkt worden war.
Bei Anbruch des Tages begaben sie sich zurück nach der alten Lagerstelle. Sie fanden ihre Habe von den Flammen verzehrt oder von der Hitze zusammengeschrumpft, den armen Nis-ka dagegen weit abwärts in der Nähe einer Quelle, mit dem Tode ringend. Die Omaha’s sind weise, sie kennen manche brandstillende Mittel; auch Nis-ka wurde durch die Bemühungen seiner Verwandten wieder hergestellt und nach dem heimathlichen Wigwam geschafft. Seine Wunden sind gut geheilt und vernarbt; wenn er aber die Augen zum Schlafe schließt, dann befindet er sich mitten im Feuer – es spricht der wilde Prairiebrand aus ihm – es ist seine Medicin, durch welche er vor dem eilenden Feuer warnt – es wäre unrecht – ihn zu wecken –“
„Wecken“ – wiederholte Henry Fontanelle noch einmal kaum verständlich, und dann war er fest eingeschlafen.
Der Sturm rüttelte heftiger an dem alten Blockhause, heulend fuhr er in den hölzernen Schornstein und grimmig schnob er in die Gluth des Kamins; der scharfe Schnee knisterte gegen die kleinen Fensterscheiben, und glimmende Holzstückchen explodirten unter der heißen Asche. Die Indianer träumten; aus der Brust des jungen Omaha’s aber sprach fort und fort der wilde Prairiebrand. Erst gegen Morgen hatte ich mich hinlänglich an die traurigen Töne gewöhnt, um ebenfalls noch einige Stunden schlafen zu können.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Rudolf Friedrich Kurz (1818–1871), Schweizer Maler