Rudolf von Gottschalls Nationallitteratur
[407] Rudolf von Gottschalls Nationallitteratur. Wir machen die Freunde des deutschen Schriftthums der neuen und neuesten Zeit auf die jetzt in 20 Lieferungen erscheinende sechste vermehrte und verbesserte Auflage von Rudolf von Gottschalls Werk „Die deutsche Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts“ (Breslau, Eduard Trewendt) aufmerksam. Es ist wohl die beste Empfehlung dieses umfassenden, vierbändigen Werkes, daß es bereits seine sechste Auflage erlebt. Wie der Verfasser in der Vorrede sagt, wird er auch den jüngsten Schriftstellern, die seit 1880 aufgetreten sind mit dem Anspruch, eine neue Schule zu begründen, [408] eine eingehende Beachtung schenken und eine selbständige Darstellung widmen; auch hierin soll das Werk seinem Streben nach Vollständigkeit treu bleiben, wie auf der andern Seite seine Unparteilichkeit in der Würdigung der neuauftauchenden Talente bekunden. „Die neue Auflage,“ sagt der Verfasser, „beweist wohl zur Genüge, daß meine Darstellungsweise sich nach wie vor des Beifalls einer großen Zahl von Litteraturfreunden erfreut, abgesehen von ihren ästhetisch-kritischen Tendenzen, wie sie denn auch der praktischen Aufgabe, das große Lesepublikum gegenüber der Fülle der überreich gebotenen Litteraturschätze zu orientieren, genügen wird.“ Und an einer andern Stelle heißt es: „Trotz aller eingehenden und unparteiischen Würdigung unserer Dichter, Denker und Geschichtschreiber, trotz aller Hochachtung für die schöpferische Kunst in ihrer Eigenthümlichkeit, die als das A und O aller Litteraturwirkung auch in den Vordergrund dieses Werkes tritt, trägt dasselbe doch eine Fahne voraus, welche die Gleichstrebenden um sich versammeln, feindlichen Richtungen siegreichen Widerstand leisten soll. Es ist die Fahne der modernen Bildung, welche die echte Poesie der Gegenwart nicht preisgeben darf, wenn sie eine Poesie der Zukunft werden will. Alles, was nicht aus dem Geiste unserer Zeit herausgedichtet ist, bleibt schwächliche Nachdichtung und trägt von Haus aus den Stempel des Dilettantismus. Ebenso aber ist alles, was diesem Geiste huldigt, doch in platter Hingabe, ohne künstlerischen Adel und Schwung dem Gericht der Kritik und früher Vergänglichkeit verfallen. Das Ideal, das unserer Kritik vorschwebt, ist die moderne, vom Geiste des Jahrhunderts getragene und nach künstlerischen Zielen strebende Dichtkunst. Ehre den berufenen Talenten, die diesem Ideal nacheifern; doch Krieg dem nachahmenden Dilettantismus, in welcher Gestalt er erscheinen mag; er sündigt gegen den Geist der Zeit; Krieg dem flachen Realismus, er sündigt wider das Gesetz der Kunst.“
Und wie der Erfolg dieses Werkes beweist, ist die Zahl der Gleichstrebenden nicht gering und wird sich mit jeder neuen Auflage desselben vermehren.