Scheffels „Episteln“
[514] Scheffels „Episteln“. Scheffels Humor und Scheffels Wanderlust – wem sind sie nicht aus seinen Gestalten und Liedern herzerfrischend entgegengetreten wie klarer leuchtender Maientag, wer hätte dabei nicht den Wunsch empfunden, daß solcher Gaben seines Geistes noch mehr zu genießen sein möchten! Ein jüngst erschienenes Buch (Stuttgart, Bonz und Comp.) kommt diesem Wunsche entgegen und bringt eine Reihe köstlicher „Episteln“, die den Aufenthalt des Dichters in Säkkingen, Reiseerlebnisse in der Schweiz, in Italien, in Meran mit goldener Laune schildern. Viel Worte über die Eigenart dieser Briefe thun’s nicht, man muß sie selbst lesen in ihrem biederen Chronistenton, hinter dem alle neckischen Geister ihr loses Spiel treiben, man muß namentlich in die Bilder sich versenken, die der „Säkkinger Rechtspraktikant“ von seiner Umgebung, seinem Thun und Treiben entwirft. Recht verwunderlich muß es manchmal in dem alten Städtchen am Rheine ausgeschaut haben für die nicht eben juristisch gestrengen Augen des poetischen Rechtsbeflissenen, wie verwunderlich – davon mag folgende Probe aus der ersten Säkkinger Epistel vom 6. Januar 1850 einen Begriff geben:
„Seitab vom Marktplatz von Säkkingen, von der Kirche weg nach dem Rheine hin, steht eine Reihe hochgiebliger alter Gebäude mit spitzbogigen Thüren, vergitterten Fenstern etc. In diesen haust der Staat, das heißt: das Amtsrevisorat, die Bezirksforstei und das Bezirksamt. Das stattlichste der Gebäude, ein dreistöckiges Haus, ist das Amthaus. Durch eine alte Bogenthüre tritt man ein in die Vorhalle, die, mit Gewölbestellungen versehen und auf zwei Säulenpfosten ruhend, den Weg nach den verschiedenen Amtsstuben eröffnet. Wir gehen aber noch nicht so schnell weiter, sondern verweilen eine Zeitlang bei den sinnigen Inschriften der Halle. Bei den Türken ist’s eine schöne Sitte, die Wände der Moscheen und öffentlichen Gebäude mit Sprüchen aus dem Koran zu versehen. Der deutsche bureaukratische Staat kennt nur einfach geweißelte Wände. Aber der biedere Sinn des Volkes hat hier ergänzend gewirkt und mit zarten Sprüchen aus dem Hauensteiner Koran die kahlen Mauerwände geschmückt. Ich setze einige bei, wie ich sie aus der bunten Sammlung noch im Gedächtniß habe. Also z. B.: ‚Wenn doch nur ein heiliges Kreuzdonnerwetter das ganze Amthaus verschlüge!‘ – oder ‚Allmächtiger Vater, schenk’ doch den Amtsherren einen besseren Verstand, daß sie bürgerliche Rechtspflege besser führen!‘ – oder ‚Lange warten müssen macht zornig!‘ – oder ‚Heute ist Johannes N. von Herrischried hier gewesen und hat dem Amtmann tüchtig die Wahrheit gesagt!‘ – oder ‚Eine Republik wär’ halt doch das allerbeste!‘ – oder ‚Wenn sich alles von selbst erledigte, dann wäre gut Oberamtmann sein!‘ u. a. m.
Nachdem wir den Duft aus diesen Blüthen des Volksgeistes eingesogen, treten wir links zur zweiten Thür ein. (Die Damen werden gut thun, beim Eintritt ihren Flacon vorzuhalten.) Hier ist meine Höhle. Aber ich hause nicht allein in ihr. Das Bezirksamt Säkkingen hat sich jene Hauptregel der Historienmalerei, nämlich die möglichst ‚ökonomische Vertheilung der Figuren im Raume‘, gründlich zu eigen gemacht. In dieser Stube gehört nur ein Schreibtisch, ein Aktenfach und ein geringer Flächenraum mir. In einem anderen Drittel der Stube haust der eigentliche Herr und Gebieter derselben, der Amtsdiener, und im Rest derselben halten sich in Winterszeit die vorgeladenen Parteien auf, die Gerichtsboten gehen ab und zu, die Gendarmen pflegen der Privatunterhaltung mit Seiner Hochwürden dem Amtsdiener – kurz es geht hier und da äußerst gemüthlich zu. Ich bin eigentlich mehr geduldet, als daß ich etwas zu befehlen habe; im Volksbewußtsein ist der Amtsdiener der Hauptinsasse. Wenn einer hereinkommt, so heißt es zuerst mit einem Bückling: ‚’fel mich Ihnen, Herr Hauser, wie geht’s?‘ etc. Dann noch so beiläufig zu mir und dem Aktuar: ‚Guten Morgen, ihr Herren!‘ Das ist übrigens von jeher die soziale Position des Säkkinger Rechtspraktikanten gewesen – warum sollte ich’s anders verlangen … Ich bin jetzt so vollständig in meine Umgebung eingebürgert, daß ich meine, es könne gar nicht anders sein. Dazu hat nicht wenig der Grundsatz des Aktuars beigetragen, den ich mir alsbald angeeignet habe. Der pflegt nämlich zu seiner Beruhigung bei jeder Tageszeit und bei jeder Gelegenheit, mag er nun ein und dieselbe Verfügung dreiunddreißig Mal abzuschreiben haben, oder mag ihm ein biederer Gastfreund eine Flasche Rheinwein anbieten, den Spruch anzuführen: ‚Sei mir heute nichts zuwider!‘ und mit dieser Parole habe ich denn auch beschlossen, mich frisch und unbeirrt durch alles Liebsame und Unliebsame durchzuschlagen.“