Schein und Wesen
Schein und Wesen.
(Morgenländisch.)
Der Lehrer sprach zum Schüler: Sieh’,
Mein Sohn, den Schatten dort vom Zelt,
Er gleicht dem Dasein dieser Welt,
Ist ganz so wesenlos wie sie.
Jetzt auf zum Licht der Sonne hebe
Und unter uns dem Wüstensand
Selbst mit den Fingern Schatten gebe:
Er scheint dir greifbar und bezirklich,
Denn alles Wirkliche besteht,
Derweil der Schatten schnell vergeht,
Zieh’ ich die ausgestreckte Hand
Zurück ins hüllende Gewand.
ist Alles, Täuschung unsrer Sinne,
Vorstellung des Gehirnes blos,
Und nichts zu bleibendem Gewinne.
Selbst jener Glutenborn am Himmel
Das ganze atmende Gewimmel
Des Weltalls lebt blos im Gehirne,
Im Schau’n des inneren Gesichts;
Wird dies vernichtet, so bleibt Nichts.
Mit seinem grübelnden Begleiter,
Der, durch die Lehren ganz verwirrt,
Vom rechten Weg sich bald verirrt
Im endlos dürren Wüstenraum,
Im Sonnenbrande Kühlung bot.
Da fernher tauchte bräunlichrot
Ein Felsblock auf, der schmal und scharf
Gerade so viel Schatten warf,
Dem Lehrer konnt’ er nichts mehr nützen,
Er kam zu spät, doch fleht’ er kläglich:
Mach Platz, die Glut ist unerträglich!
Ich kann nicht weiter vor Ermatten,
Darauf der Schüler: Du verkehrst
Die eigene Lehre: –- eben erst
Sprachst du, der Schatten sei nur scheinbar,
Nur eine Vorstellung, ein Nichts,
Dein Wunsch ist nicht damit vereinbar;
Dir sitzt der Schatten im Gehirne,
Mir kühlt er meine glüh’nde Stirne,
Ich find’ ihn wesentlich und wirklich,
Für mich ist er ein wahrer Schatz.
Doch räum’ ich dir sogleich den Platz,
Wenn du gestehst, dass du geirrt
Und deine Lehre nur verwirrt.
Der Lehrer – nein, das thu’ ich nicht!
Was meine höh’re Einsicht fand,
Weicht nicht dem platten Volksverstand.
Der Schüler sprach: Ich warne dich,
Der Lehrer starb am Sonnenstich,
Der munt’re Schüler lebt noch heute