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damit man nicht vergesse, dass er zeitlebens durch Zärtlichkeit und durch — Testament gesichert werden müsse.

Seine grosse Schreckhaftigkeit bei plötzlichen lauten Geräuschen, also seine Hyperakousie war ganz besonders berufen, eine Vermittlung abzugeben, damit er seinen Zweck erreichen könne. Sein vorgesetztes Finale, angestrebte Überkompensation seines Gefühls der Zurückgesetzheit, bestand ja darin, alle Liebe der Eltern, insbesondere der schwerer zu erreichenden der Mutter auf sich zu lenken. So griff er gegebene Erlebnisse auf, ein Erschrecken bei Schüssen, wie er sie bei militärischen Leichenbegängnissen hörte, beim Pfauchen und beim schrillen Pfiff der Lokomotive, bei plötzlichen Angriffen des Bruders und der Spielgenossen, um auf das Herz der Mutter zu wirken. Das ihm vorschwebende Finale zog eine Fixierung der Hyperakousie nach sich, die ihn bis heute beherrscht. Diese tendenziöse Hypersensibilität ist so recht geeignet, wie ähnliche bei der Hysterie, uns begreiflich zu machen, dass die Unsicherheit den Patienten zwingt, seine Fühler so weit als möglich vorzustrecken, wie er dies auch mit den überspannten Charakterzügen tut. Andererseits drückte die Schreckhaftigkeit auf sein männliches Empfinden und gab ihm das Gefühl weiblicher Regungen. Er versuchte deshalb in allen anderen Beziehungen Mut und unerschrockenes Benehmen an den Tag zu legen, was ihm auch gelang.

Die Aufdeckung seines Wunsches nach der Liebe seiner Mutter blieb ohne besonderen Erfolg. Seine Anfälle erfolgten in ungefähr den gleichen Intervallen, nur verlegte sie Patient ins Bett, dies aber nur deshalb, um sich auch gegen die Eingriffe der Behandlung zu sichern, die nunmehr nicht so leicht wie anfangs der Kur die auslösenden Ursachen der Ohnmachtsanwandlungen feststellen konnte. Denn vorher waren sie stets im Zusammenhang mit Erlebnissen erfolgt, die das Persönlichkeitsgefühl des Patienten herabsetzten; jetzt war ich gezwungen, diese Erlebnisse aus Einfällen und Träumen des Patienten zu rekonstruieren. Der Patient freilich machte aus der Not eine Tugend und hob diese Veränderung als Besserung durch die Behandlung hervor, in der Erwartung, meine Sympathie so für sich zu gewinnen, ein Gewinn, der ihm wie bei allen Personen seiner Umgebung als Machtgefühl zur Empfindung kam. Die Sucht, dieses Machtgefühl zu erlangen, hat auch aus ihm einen sehr umgänglichen, liebenswürdigen Charakter im Verkehr mit Fremden gemacht.

Nun könnte einer sagen, der Ödipuskomplex sei bei meiner andersartigen Auffassung nicht rein zum Vorschein gekommen, nicht so rein, wie ihn etwa Freud selbst zur Darstellung gebracht hätte. Ich müsste dem energisch widersprechen. Gerade dieser Fall war wie wenige geeignet, das Streben nach der Mutter in sexueller Verkleidung rücksichtslos zur Anschauung zu bringen, und der Patient zögerte nie, seine oft unverhüllten Ödipusträume als Beweise eines sexuellen Begehrens hinzustellen. Solcher Träume gab es viele. So träumte er:

„Ich gehe mit einer Dame vom Rendez-vous weg auf die Gasse“. Die Dame stellte seine Mutter vor, wie aus Einzelheiten hervorging. Die Gasse wies auf Prostitution hin. Das „Rendez-vous“ aber war ein Bestandteil einer Tageserinnerung und bezog sich auf ein Mädchen, die ihm ein Wiedersehen verweigerte, durch ihre Ablehnung also der

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/100&oldid=- (Version vom 31.7.2018)