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bewegt, in einer nach dem Schema des Gegensatzes von Männlich-Weiblich gefassten Abstraktion. Die zahllosen Mittelwege gelten nicht, weil die beiden neurotischen Pole, das Minderwertigkeitsgefühl auf der einen, das überspannte Persönlichkeitsgefühl auf der anderen Seite — unter der verstärkten Sicherungstendenz nur die gegensätzlichsten Werte zur Apperzeption gelangen zu lassen.[1]

Der Gedankengang dieses Traumes lässt uns die neurotischen Bereitschaften der Patientin erraten. In der Tat ist ihr männlicher Protest, ihre Neigung zur Herabsetzung anderer, ihr Ehrgeiz, ihre Empfindlichkeit, Trotz, Unnachgiebigkeit, Eigensinn auffällig genug. Die psychische Bedeutung ihres Kopfschmerzes lugt aus diesem Traum hervor. Die bisherige Analyse ergab nämlich, dass das Symptom immer im Falle des Gefühls einer Herabsetzung, einer Verkürztheit, einer „Verweiblichung“ eintrat, — mit den Worten des Traumes gesprochen: wenn man ihr „auf den Kopf stieg“. In den Phasen des Kopfschmerzes, also durch die Konstruktion dieser „Schmerzbereitschaft“ mit folgender Schmerzhalluzination war sie der Herrschaft aller, insbesondere der Mutter, entrückt, konnte ihr Persönlichkeitsgefühl ähnlich, nur stärker steigern, wie durch Trotz, Faulheit und Eigensinn, kurz: war den andern „auf den Kopf gestiegen“.

Bei Kindern ist dieser Hang nach oben unverkennbar und deckt sich vielfach mit dem Wunsche gross zu sein. Sie wollen in die Höhe gehoben werden, klettern mit Vorliebe auf Sessel, Tische und Kasten und verbinden mit diesem Streben meist die Idee, sich als unfolgsam, mutig, männlich zu zeigen. Wie nahe daran die Tendenz der Entwertung anderer grenzt, geht aus ihrer Freude hervor, wenn sie „an Grösse“ nunmehr den Erwachsenen übertroffen haben. Die Steigerung des Aggressionstriebes zeigt sich bei frühzeitig neurotischen Kindern oft deutlich in dieser Schaustellung. So kommt es gelegentlich vor, dass kindliche Patienten im Ordinationszimmer des Arztes unablässig auf Stühle, Bänke und Tische steigen und so ihre Geringschätzung an den Tag legen.

Die Gefahr des Fallens, der Unfälle bei diesem Streben nach Oben, sowie die landläufige Erziehung zur Feigheit zwingen die meisten dieser Kinder zu einem Formenwandel ihrer Leitlinie oder zu neurotischen Umwegen, wobei sich die Furcht vor der Höhe, die Höhenangst wie ein Memento, meist in symbolischer Weise vor Unternehmungen und Wagnisse aller Art stellt und so eine fertige Bereitschaft begründet, die den Schein einer neurotischen Aggressionshemmung hervorruft. — Zuweilen geht die Sucht nach der Höhe zum grössten Teile in Tendenzen zur Herabsetzung anderer über. Die Neigung bei Dementia praecox, alle Möbel umzulegen, ist so regelmässig in Verbindung mit Herabsetzungen der Umgebung, dass die Vermutung gerechtfertigt ist, dies sei einer der fiktiven, abstrakten Umwege, auf denen der Psychotiker sein Persönlichkeitsgefühl erhöht. — In übertragener Form äussert sich diese Tieferstellung Anderer in der Schmähsucht, insbesondere aber in


  1. Dass auch die tastenden, in Unsicherheit begonnenen Anfänge der Philosophie dieses gegensätzliche Denken hypostasiert haben, wurde bereits hervorgehoben. Karl Joël spricht von diesem Problem in der „Geschichte der Zahlprinzipien in der griechischen Philosophie“ (Zeitschr. f. Philosophie u. philos. Kritik. Bd. 97) und hebt dort hervor: „Der eigentliche Urgrund der Antithetik ist die instinktive, eigensinnige Denkstarre, die nur Absoluta kennen will.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/158&oldid=- (Version vom 31.7.2018)