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der neurotischen Eifersucht und im Eifersuchtswahn. — Eine weitere, interessante Art der Herabsetzung fand ich bei Nervösen in ihrer Fürsorge, in ihrem ängstlichen Gehaben und in ihren Befürchtungen um das Schicksal anderer Personen. Sie benehmen sich, als wären andere unfähig, ohne ihre Hilfe für sich zu sorgen. Sie geben immer Ratschläge, wollen alles selbst zu Ende bringen, finden immer neue Gefahren und ruhen nicht, bis sich der andere kopfscheu und entmutigt ihren Händen anvertraut. Nervöse Eltern richten dadurch viel Schaden an, auch in der Liebe und in der Ehe kommen auf diese Weise viele Reibungen zustande. Einer meiner Patienten, der zweimal in seiner Kindheit überfahren wurde, verband sein beschädigtes Persönlichkeitsgefühl mit dieser Erinnerung und führte jedesmal, wenn er Begleitung hatte, den Anderen am Arme ängstlich über die Strasse, als ob er ihm die Fähigkeit, ohne Hilfe hinüberzukommen, nicht zutraute. Viele haben Sorge, wenn ihre Angehörigen die Wagenbahn benützen, schwimmen oder Kahn fahren, geben ununterbrochen den Kindermädchen Weisungen, setzen auch ihre Entwertungstendenz mit übertriebener Kritik und mit Zurechtweisungen fort. In der Schule, im Amt wird man bei nervösen Lehrern und Vorgesetzten diese nörgelnden Herabsetzungen immer finden. Bei Ausübung der Psychotherapie ist es ein Haupterfordernis, ähnliche Bereitschaften auszuschalten, auch wenn der Patient sie provoziert. Es läuft diese Forderung auf den Verzicht drückender Autorität hinaus. Wer die Überempfindlichkeit des Nervösen kennen gelernt hat, wird wissen, wie leicht er sich herabgesetzt fühlt. Einer meiner Patienten, der an Hysteroepilepsie litt, und immer sich geberdete, als wolle er sich völlig unterordnen, fiel einmal vor meiner Türe in Bewusstlosigkeit. In solchen „Zufällen“ ist deutlich die Tendenz der Entwertung zu erkennen. Noch im Dämmerzustand sprach er mich als „Lehrer“ an und stammelte, er werde einen Brief bringen. Nach dem Anfall bestätigte er mir, er sei diesmal ungern gekommen. Die Analyse ergab, dass er mich, — was aus der Situation heraus jederzeit möglich war, — zum Lehrer gemacht hatte, um die nötige Kampfdistanz zu gewinnen, handeln zu können, als ob er wie in der Schule zum Kommen verpflichtet wäre und eine briefliche Entschuldigung bringen müsste. Nachdem er sich gefühlsmässig in diese Situation der Minderwertigkeit versetzt hatte, konnte er die daraus abgeleiteten, kompensierenden Bereitschaften spielen lassen, um mich herabzusetzen. —

Ein zwanzigjähriges Mädchen leidet an der Zwangsvorstellung, in keiner Trambahn fahren zu können, denn es tauche immer, wenn sie aufsteigt, der Gedanke auf, zur selben Zeit könnte ein Mann absteigen und unter die Räder geraten. Die Auflösung ergab, dass diese Zwangsneurose den männlichen Protest der Patientin im Bilde des „Obenseins“ darstellt, welchem entsprechend der Mann nach „Unten“ kommen, herabgesetzt werden müsste, den Schaden tragen sollte, den er der Frau zufügt.[1] Dazu baut die verstärkte Sicherungstendenz noch den Vorbau der Angst, die der Furcht vor dem Manne weiter genügen soll: auch dann, wenn ihre Überlegenheit gesichert wäre, könnte sie sich zur Ehe noch nicht entschliessen, denn ihr zukünftiger Mann würde es


  1. Laura Marholm führt folgendes Gedicht an:
    „Die Frau, das ist ein Rosenstock,
    „Kommt her, frisst auf der Ziegenbock.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/159&oldid=- (Version vom 31.7.2018)