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Gedankenassoziation einer Verweiblichung wachruft, weisen mit Sicherheit auf die Tatsache hin, dass jeder Traum ein Fortschreiten von der weiblichen zur männlichen Linie aufweisen müsse. Dass nicht jeder Traum geeignet ist, den Anfänger von der Richtigkeit meiner Auffassung zu überzeugen, habe ich selbst hervorgehoben. Es liegt dies daran, dass in einer Skizze, — und als solche haben wir den Traum anzusehen, — der Sinn und die Bedeutung von Gedankenspuren und Andeutungen oft nachzuholen, zu ergänzen sind, was dem Geübten nie schwer fallen kann. Auch darüber belehre ich den Patienten, dass er sich zum Traume wie zu einer Gemäldeskizze zu verhalten habe, deren einzelne Punkte er je nach dem Eindruck, den er von ihnen erhält, auszuführen habe.

Nach diesen Erörterungen führt die intelligente Patientin selbständig aus:

„Steinhof heisst verrückt. Dieser Punkt bedeutet also: ich stehe knapp vor dem Verrücktwerden. Aber ich husche ja davon! Da fällt mir ein, dass Sie mir immer sagen, ich laufe vor meiner Mädchenrolle davon. Demnach wäre „Verrücktwerden“ und „Mädchenrolle“ ein und dasselbe?“

Ich leite Sie nun an, hier zwangsweise einen Sinn hineinzubringen, und benütze die mir bekannte Rivalität der Patienten dazu, ihren Eifer anzustacheln, wenn sich Schwierigkeiten herausstellen, indem ich etwa hinwerfe: „Man könnte sich wohl etwas darunter vorstellen!“

Patientin: „Vielleicht, dass es verrückt wäre eine Mädchenrolle zu spielen?“

Ich: „Das wäre demnach eine Antwort auf eine Frage. Wie müsste aber die Frage gelautet haben?“

Patientin: „Sie sagten mir gestern, ich dürfe mich nicht vor meiner Mädchenrolle fürchten.“

Ich: „Also eine gegen mich gerichtete Antwort, damit, entsprechend unsereren Gesprächen, ein Kampf gegen den Mann. Und die schwarze Gestalt?“

Patientin: „Vielleicht der Tod?“

Ich: „Versuchen Sie nun auch den Tod in den Zusammenhang einzufügen.“

Der Patientin gelang dies nur schwer, obwohl es ganz deutlich ist, dass sie, um nur genug stark aufzutragen, ihre Flucht aus der Weiblichkeit mit der Furcht vor dem Tode motiviert. Der Zusammenhang von Sexualität und Tod kommt in der Philosophie und Dichtung häufig zur Sprache. Die Analysen Nervöser weisen oft diesen Zusammenhang im Sinne eines affektverstärkenden „Junktims“ auf.

Als Sinn des Traumes ergibt sich die nun gegen den Arzt gerichtete, aus den Phantasien der Patientin zu verstehende Bereitschaft: Es wäre verrückt, sich einem Manne unterzuordnen, — gleichbedeutend mit tot. Sie hat sich nach ihrer Wertung aber bereits untergeordnet, dadurch, dass sie seit der Behandlung schläft. Dieser Traum revoltiert also gegen den Schlaf, und ihre herabsetzende Bemerkung, sie möchte jetzt Tag und Nacht schlafen, ist von der gleichen Tendenz getragen. Damit entpuppte sich die neurotische Bereitschaftsstellung dieser Patientin gegenüber der Möglichkeit, dass ein Mann auf sie Einfluss gewinnen

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Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 176. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/184&oldid=- (Version vom 31.7.2018)