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könnte, und es erweist sich, dass die Patientin so handelte und träumte, als ob sie um ihr Leitziel wüsste.[1]

Diese prinzipielle Bereitschaft, ihre Entwertungstendenz, ihre Lüsternheit nach Siegen über die Männer und ihre neurotische Sicherungstendenz, die mit den Schrecken des Todes und des Wahnsinns im Hintergrund droht, hatten auch als verstärkte Sicherung die Entwickelung der Neurose veranlasst. Die Patientin wird durch sie lebensunfähig. — Die neurotische Apperzeption, die ein Junktim zwischen Liebe und Wahnsinn und Tod hervorzaubert, hat etwas vom Goldklang der Poesie. Wie fest es in den Gedanken der Patienten sitzt, geht aus ihrer anfänglichen Erzählung hervor: der junge Mann war wie „verrückt“ über sie hergefallen.

Oft findet man in der Vorgeschichte von männlichen Nervösen, dass sie unter dem Einfluss einer starken Frau, Mutter, Erzieherin, Schwester gestanden sind, die also trotz ihrer weiblichen Rolle oder neben dieser eine männliche spielten, „oben“ waren, und denen die Umgebung die Anerkennung, bisweilen die Missbilligung nicht versagte, in dem Hinweis, sie wären eigentlich Männer. Auch dieser Umstand trägt manchmal zur Verstärkung der Unsicherheit des disponierten Knaben bei, der durch das Verstehen der Sexualunterschiede zur Überzeugung seiner Männlichkeit zu kommen sucht. Ein Spezialfall der Sicherung durch Wissen, die sexuelle Neugierde, drängt ihn dazu, seine geschlechtliche Überlegenheit immer wieder durch den Augenschein zu bestätigen, ein Bedürfnis, das um so näher an die männliche Leitlinie gerückt ist, als es gleichzeitig aus der Vorbereitung für die Zukunft geschöpft ist, sicheres Wissen und ausgiebige Kenntnis des weiblichen Genitales zu erwerben. Die neurotische Unsicherheit haftet als Vorwand und Begründung der Furcht vor der Frau oft bis über die Ehe hinaus dem Nervösen an, so dass man oft äussern hört, der weibliche Sexualapparat, der Zustand der Virginität, die Legitimität der Kinder, die Vaterschaft seien wie die ganze Frau rätselhaft. Zuweilen gesellt sich zur Befriedigung über den Anblick der weiblichen Genitalien bei disponierten Kindern das unheimliche Gefühl einer Gefahr, als ob dem Knaben unklare Gedanken aufstiegen, dass sein ferneres Leben, sein Sieg und seine Niederlage davon abhingen, wie er mit der Sexualfrage fertig würde. Dabei bringt es die Natur der Dinge oft mit sich, dass für das Kind die Besichtigung nur in einer Stellung möglich wird, — wenn die Frau sich oberhalb des Knaben befindet. Auch dieser kleine Umstand findet sich, wie ich wiederholt gezeigt habe, als bildliche Darstellung der weiblichen Überlegenheit in den Phantasien der vor dem Weib erschreckten Nervösen. Ganghofer und Stendhal berichten in ihrer Kindheitsgeschichte von diesem schreckenden Erlebnis, das dauernde Spuren zurückgelassen haben soll. Der Schrecken war vielmehr schon Sicherung des verletzten männlichen Prestiges, und die erregende Szene blieb ein bildlich zu verstehendes Memento für die Vorsicht gegenüber der Macht der Frau.

Oft greift an diesem Punkte, wo die Überlegenheit der Frau sich drohend darstellt, die Entwertungstendenz ein und führt zum Vergleich männlicher und weiblicher Vorzüge und Mängel.


  1. Richard Wagners geniale Intuition im Gesang der Erda: „Mein Schlaf ist Träumen, mein Träumen Sinnen, mein Sinnen Walten des Wissens“.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 177. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/185&oldid=- (Version vom 31.7.2018)