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IX. Kapitel.
Selbstvorwürfe, Selbstquälerei, Bussfertigkeit und Askese. — Flagellation. — Neurosen bei Kindern. — Selbstmord und Selbstmordideen.

Unter den Formen des neurotischen Gebarens zwecks Sicherung der männlichen Fiktion treten in auffälliger Stärke die Regungen der Selbstverwünschung, der Selbstvorwürfe, der Selbstquälerei und des Selbstmordes hervor. Unser Befremden darüber wird freilich abgeschwächt, sobald wir sehen, dass das ganze Arrangement der Neurose diesem Zuge der Selbstquälerei folgt, dass die Neurose ein selbstquälerischer Kunstgriff ist, der bezweckt, das Persönlichkeitsgefühl zu heben. Und in der Tat stammen die ersten Regungen des gegen die eigene Person gerichteten Aggressionstriebes[1] beim Kinde aus einer Situation, in der das Kind durch Krankheit, Tod, Schande und allerlei konstruierte Mängel den Eltern Schmerz bereiten oder sich besser in Erinnerung bringen will. Dieser Zug charakterisiert schon das disponierte Kind, welches aus den Erinnerungen seiner Organminderwertigkeitserscheinungen und aus deren Bedeutung für die Hebung seines Persönlichkeitsgefühls, für die Steigerung der elterlichen Zärtlichkeit und des Interesses Bereitschaften gebildet hat. Die entwickelte Neurose baut letztere aus und leitet ihre Aktivierung durch die Verstärkung der Fiktion ein, sobald es die wachsende Unsicherheit gebietet. Es ist bekannt, wie starke Aggravationen dabei mitspielen, der halluzinatorische Charakter, die antizipatorische Kraft des Nervösen hilft mit, und die Situation des Anfalls und der Gesundheitsstörung mit ihrem Übergewicht über die Umgebung ist gegeben. So paradox es auf den ersten Blick erscheint, der Nervöse ist erst ruhig, wenn er seinen Anfall hinter sich hat. Janet hat schon auf diese Tatsache hingewiesen. Ich kann als Grund nur hinzufügen, weil er dann die Sicherung seiner Überlegenheit, wenn auch nur auf kurze Zeit, gewonnen hat.

Der Charakterzug, alle Anderen übertreffen zu wollen, mischt sich auch in das Gefühl, dem der Nervöse regelmässig Ausdruck verleiht: als ob er an Schmerzen alle überträfe. Diese Überzeugung aber braucht er, weil sie ihm die Operationsbasis abgeben muss, um sich den anderen gegenüber zu fühlen, um einer Entscheidung auszuweichen oder um anzugreifen. So kommt es auch, dass Anfälle, Schmerzen oder eine Krankheit herbeigewünscht werden, wenn es die Situation fordert; zuweilen geht auch der Wunsch statt des Anfalles, wenn er als Erinnerung


  1. Adler, Der Aggresionstrieb. l. c.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/189&oldid=- (Version vom 31.7.2018)