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schon die Umgebung schreckt. Für die Eigenpsyche des Patienten genügt es zuweilen, wie mir eine Patientin sagte, wenn eine Phantasie gebildet wird, nach welcher der Nervöse durch die Handlungen eines Anderen Schmerzen erleidet. Dies erzeugt die Empfindung der Unterdrückung oder Misshandlung, weckt die Sicherungstendenz und leitet den männlichen Protest ein.

Über die Bedeutung der Schuldgefühle, des Gewissens und der Selbstvorwürfe als einer Konstruktion sichernder Fiktionen wurde bereits gesprochen. Nicht selten findet man in der Psychologie der Masturbation beigemengte Züge von Busse oder einer Schädigungsabsicht, diese gleich einer trotzigen Revolte gegen die Eltern gerichtet, jene als billigen Vorwand oder scheinheiligen Akt.

Durch Busse einen Anderen zu schädigen ist einer der feinsten Kunstgriffe des Nervösen, wenn er sich z. B. in Selbstverwünschungen ergeht. Suizidideen lassen oft den gleichen Mechanismus erkennen, was ganz deutlich bei gemeinsamen Selbstmorden hervortritt.

Als einer meiner Patienten wegen Impotenz von einem Arzte Kühlsonden bekam, hatte er den Wunsch: „der Arzt soll mir den Geschlechtsteil zerreissen, verletzen“.

Als er vor 2 Jahren grosse geschäftliche Verluste hatte, wollte er einen Selbstmord begehen, obwohl er noch immer ein reicher Mann blieb.

Die Triebfeder dieser Verwünschungen (s. Shylok) ist der neurotische Geiz. Die Analyse ergibt eine vollkommene Erklärung.

Um sich vor Ausgaben für Mädchen zu sichern, verwünscht er sich auch, wenn er ärztliche Kosten zu tragen hat. Dies sicherlich von einem halbbewussten Gefühl begleitet, dass seine Wünsche nicht unbedingt in Erfüllung zu gehen brauchen. Insbesondere verflucht er seinen Leichtsinn, — denn dies ist der Sinn seiner Selbstvorwürfe und Verwünschungen, — wenn er grössere Zahlungen geleistet hat oder leisten soll. Dann wird ihm jede kleine Ausgabe zur Qual.

Er fürchtete den Zauber der Sexualität. Sogar die Schwester könnte er ins Unglück stürzen. Oder die Tochter seiner Schwester, die beide bei ihm wohnten. Gleichzeitig musste er wohl die Bedeutung seiner Selbstverwünschung recht gering veranschlagen, vielleicht sogar das Gegenteil erwarten; dies geht aus der Unsumme seiner Sicherungsmassnahmen hervor, unter denen die Selbstverwünschungen nur eine kleine Rolle spielten. Weit mehr sicherte er sich durch das Arrangement der Impotenz.

Selbstverkleinerung und Selbstquälerei konstruiert der Patient, ähnlich wie Hypochondrie, — um sich das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit vor Augen zu halten, sich für zu schwach, zu klein, unwürdig zu empfinden. Sie treten als Abhaltung auf, und stehen derart fast an Stelle des Zweifels. Nervöse Mädchen, die sich vor dem Manne fürchten, eine weibliche Rolle nicht spielen wollen, grübeln fortwährend über ihre Behaarung, über Muttermäler nach und befürchten, ihre Kinder könnten einmal ebenso missgestaltet sein. Oft waren sie unschöne Kinder oder haben gegenüber einem bevorzugten Bruder als Mädchen häufig Zurücksetzungen erfahren. Bei einer Patientin mit Zwangsneurose entpuppte sich ihr Zwangsdenken an das Grösserwerden der Hautporen als eine symbolisch zu verstehende Sicherung gegen die weibliche Rolle.

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/190&oldid=- (Version vom 31.7.2018)