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Anordnung wie bei jedem Neurotiker. Das nähere oder entferntere Beispiel gibt häufig die Richtung. Der mächtigste psychische Haft stammt aus den Todesgedanken der Kindheit, die in spielerischer, noch mehr in vorbildlicher und vorbereitender Art, indem sie unter der Wirkung der Persönlichkeitsidee die psychische Physiognomik formen, eine stete Bereitschaft für den Selbstmord herstellen. Man findet in der Vorgeschichte der Selbstmordkandidaten die gleichen Neigungen, durch Krankheit Einfluss zu gewinnen, sich durch Ausspinnen von Todesgedanken und Träumereien über die hervorbrechende Trauer der Angehörigen in einer Situation der Herabsetzung, bei Gefühlen verschmähter Liebe Befriedigung zu verschaffen. Und die Idee wird zur Tat in einer gleichen Situation der Verminderung des Persönlichkeitsgefühls, sobald diese Einbusse zu stärkerer Entwertung des Lebens führt und imstande ist, den dialektischen Umschlag der männlichen Selbstmordidee in eine neuerliche Entwertung übersehen zu lassen. Somit müssen wir jenen Autoren recht geben, die im Selbstmord einen der Wahnbildung verwandten Vorgang erblicken. Meine und Bartel’s Hinweise auf Organminderwertigkeiten, besonders auch auf Minderwertigkeiten des Sexualapparates stehen in gutem Einklang.

In der Neurose ist die Wahrscheinlichkeit einer Korrektur stärker, wenn auch nicht immer ein Hindernis des Selbstmordes. Es scheint, dass die meist jahrelange Vertiefung des Neurotikers in das Selbstmordproblem selbst ein Zeichen und zugleich Mitursache der Korrektur ist. Und in der Tat sind Gedanken und Träume des Nervösen voll von Todesgedanken. Hier der entsprechende Traum eines Neurotikers, der wegen Stotterns und psychischer Impotenz in Behandlung stand, in der Nacht, nachdem er vergebens auf einen Brief seiner Braut gewartet hatte:

„Mir war, als ob ich gestorben wäre. Meine Angehörigen standen um den Sarg herum und geberdeten sich ganz verzweifelt.“

Patient erinnert sich, in der Kindheit öfters Gedanken gehabt zu haben, dass er sterben möchte, weil die Eltern den jüngeren Bruder vorzogen. Seit jeher verfolgte ihn der Gedanke, dass er wegen einer Hydrokele und wegen Kleinheit seines Genitales minderwertig sei, keine Kinder haben werde. Später suchte er sich durch Herabsetzung der Frauen und grosses Misstrauen gegen sie vor Unglück in der Ehe zu schützen. In Wirklichkeit fühlte er sich zu schwach und hatte Furcht vor der Frau. Sowie er diese Prüfung in der Ehe fürchtete, wich er kraft seiner motorisch gewordenen Einstellung allen Entscheidungen aus. Seine Impotenz trat ein, als er von seiner Braut das Jawort bekam, als Vorwand, als ein Kunstgriff, eine Ehe hinauszuschieben. Im Traume spiegelt sich der Gedanke, dass die Braut einen Andern lieber haben könnte. Daran knüpft sich der Versuch einer Lösung, wie er ihre ganze Liebe auf sich lenken könnte, bei welchem, so wie beim Arrangement seiner Impotenz, die Heiratsmöglichkeit ausgeschaltet ist. —

Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/198&oldid=- (Version vom 31.7.2018)