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X. Kapitel.
Familiensinn des Nervösen. — Trotz und Gehorsam. — Schweigsamkeit und Geschwätzigkeit. — Die Umkehrungstendenz.

In diesem Abschnitt will ich noch auf eine Reihe von Charakterzügen der Nervösen hinweisen, wie man sie öfters im Vordergrund der analytischen Betrachtung findet, ohne dass durch sie mehr wie das äussere Bild der Neurose beeinflusst wird. Sie helfen bloss die neurotische Individualität aufbauen, geben aber gerade dadurch der speziellen Neurose eine bestimmte Richtung oder fordern ein bestimmtes Schicksal im Zusammenstoss mit der Umgebung heraus. So kann es geschehen, dass der Familiensinn des Neurotikers in besonders aufdringlicher Weise hervortritt, dass die Familienforschung einen Teil des neurotischen Sinnens erfüllt, die tiefer liegenden Züge eines neurotischen, oft haltlosen Ahnenstolzes verdeckt, und dass so in gleicher Weise wie etwa durch Forschung nach Krankheitsheredität der sozialen Leistung von Liebes- und Ehebeziehungen entgegengearbeitet wird. Dies gelingt leicht durch Arrangement von Verliebtheit in einzelne oder alle Familienmitglieder; demnach kommt diese Verliebtheit unter dem Zwange der leitenden Fiktion und ihres inneren Widerspruchs, aus dem sich die Furcht vor der Entscheidung, vor dem geschlechtlichen Partner ergibt, zustande. Die Bereitschaft gilt dann der Herrschaft innerhalb der Familie, zu welchem Zwecke die Familienbande als heilig erklärt werden. — Der Zerfall mit der Familie liegt beim Nervösen angrenzend an die Steigerung des Familiensinns, sobald die Sicherungstendenz noch weiter vorschreitet und der Beweise bedarf, dass man sich nicht einmal auf Blutsverwandte verlassen darf. Menschenhass als abstrakte Richtungslinie des Charakters und Flucht in die Einsamkeit sind nicht seltene Erscheinungen, und treten in den Psychosen deutlicher hervor. —

Die Unterordnung der Charakterzüge unter die leitende Fiktion lässt sich besonders gut an den gegensätzlichen Zügen von Trotz und Gehorsam[1] einsehen, die einzeln oder in verschiedenem Masse gemengt zum Kolorit der nervösen Psyche viel beitragen. Die Einsicht in den dermassen errungenen Aufbau dieser Charakterzüge, die aus neutralen, realen Eindrücken der vorneurotischen Zeit abstrahiert, neurotisch gruppiert und zu Richtungslinien verarbeitet werden, kann uns über die Entstehung, den Sinn und Zweck des Charakters belehren. Die Idee vom angeborenen Charakter fällt restlos in sich zusammen, da das reale Substrat zur psychischen Charakterbildung, und was immer von ihm angeboren ist, unter dem Zug der leitenden Idee sich so lange umformt, bis ihr Genüge getan ist. Trotz sowie Gehorsam sind dann nichts als psychische Attituden, die uns den Sprung aus der unsicheren Vergangenheit in die schützende Zukunft verraten, wie andere Charakterzüge auch. —


  1. Adler, Trotz und Gehorsam. l. c.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/199&oldid=- (Version vom 31.7.2018)