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Diese Unterstreichungen, dazu die deutliche Tendenz, den Willen zur Männlichkeit hervorzuheben, schaffen den Schein eines Klaffens in der Psyche des Nervösen, der den Autoren in der Annahme eines double vie, einer Dissoziation, ebenso in dem Stimmungswechsel der Nervösen, aber auch in der Abfolge von Depression und Manie, von Verfolgungs- und Grössenideen in der Psychose geläufig ist. Stets habe ich als inneres Band dieser gegensätzlichen Zustände die Tendenz gefunden, das Persönlichkeitsgefühl zu erhöhen, wobei die „inferiore“ Situation an eine Herabsetzung anknüpft, aber als Operationsbasis abgegrenzt und arrangiert wird. Dann setzt der männliche Protest ein, der oft bis zur Gottähnlichkeit oder zu einer Art intimer Verbindung mit Gott fortgeleitet wird. Für diese „Bewusstseinsspaltung“ ist ausserdem noch die scharfe schematische und stark abstrahierende Apperzeptionsweise des nervös Disponierten massgebend, der innere sowie äussere Geschehnisse nach einem streng gegensätzlichen Schema, etwa wie nach dem Soll-Haben in der Buchhaltung, gruppiert und keine Übergänge gelten lässt. Dieser Fehler des neurotischen Denkens, identisch mit zu weit getriebener Abstraktion, ist gleichfalls durch die neurotische Sicherungstendenz verschuldet; diese braucht zum Zwecke des Wählens, Ahnens und Handelns scharf umschriebene Richtlinien, Idole, Götzen, an die der Nervöse glaubt. Dadurch entfremdet er sich der konkreten Wirklichkeit. Denn in dieser sich zurechtzufinden erfordert eine Elastizität, nicht Starrheit der Psyche, eine Benützung der Abstraktion, nicht eine Anbetung, Zwecksetzung und Vergöttlichung derselben.

Demgemäss werden wir im Seelenleben des Neurotikers, ganz wie in der primitiven Dichtung, im Mythus, in der Legende, in der Kosmogonie, Theogonie und in den Anfängen der Philosophie die Neigung in ausgesprochenstem Masse finden, sich, seine Erlebnisse, die Personen seiner Umgebung zu stilisieren. Dabei müssen nun freilich nicht zusammengehörige Erscheinungen durch abstrahierende Fiktion scharf auseinandergerückt werden. Der Zwang zu dieser Massnahme geht aus der Sehnsucht nach Orientierung hervor und stammt aus der Sicherungstendenz. Er ist oft so beträchtlich, dass er die Zerlegung der Einheit, der Kategorie, der Einheit des Ichs in zwei oder mehrere gegensätzliche Teile verlangt.

Von der früher beschriebenen Selbsteinschätzung des Kindes, das durch seine Organminderwertigkeit und die daraus stammenden Übel zu besonderen Sicherungen veranlasst wird, bis zur vollen Entwickelung der neurotischen Technik des Denkens und ihrer Hilfslinie, des neurotischen Charakters, treten eine Anzahl psychischer Phänomene hervor, die im Sinne Karl Groos'[1] als Einübung, in unserem Sinne als Vorbereitung für den fiktiven Endzweck aufzufassen sind. Sie zeigen sich recht frühzeitig, andeutungsweise im Säuglingsalter und unterliegen ständig den Einwirkungen bewusster und unbewusster Erziehung. Die ganze Art der Entwickelung eines Kindes zeigt, dass es sich nach einer Idee richtet, welche sich freilich meist primitiv darstellt, sich regelmässig auch in Gestalt einer Person konkretisiert. Unter diesem Zwange, dessen psychischer Mechanismus zum grösseren Teile unbewusst, nur zum kleinen Teile bewusst wirkt, kommt es zu


  1. Siehe Karl Groos, Die Spiele der Menschen, Die Spiele der Tiere.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/35&oldid=- (Version vom 31.7.2018)