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demnach diese auffallende Erschreckbarkeit ein Zeichen angeborener Gehörsüberempfindlichkeit, eine Organminderwertigkeitserscheinung, der familiäre Ohrenleiden, aber auch Steigerungen von Gehörsverfeinerungen, musikalischer Sinn oft entsprechen. Dass unser Patient im 6. Lebensjahre eine langwierige Mittelohrenentzündung durchgemacht hat, in deren Verlauf sich eine Parazentese des Trommelfells als nötig erwies, steht mit den Anschauungen der Organminderwertigkeitslehre in gutem Einklang. Desgleichen auch die Entwickelung eines trefflichen, musikalischen Gehörs und einer auffallend feinen Gehörsempfindung, die ihn zum Lauschen geradezu qualifizierte. Diese Organverfeinerung, mit Aufmerksamkeit überladen, bringt es in jedem Falle mit sich, dass lauschende, der Hörsphäre angehörige neugierige Tendenzen dem Kinde aufgezwungen werden, zumal wenn es auch aus anderen Ursachen in grössere Unsicherheit gerät. Die Bedingungen dieser Unsicherheit, aus der er durch seine Neugierde zu entkommen suchte, lagen in einer schwächeren Entwickelung seines Intellekts gegenüber einem älteren Bruder, der ihn, wie dies zum Schaden der Erziehung so häufig geschieht, zum Spielball seiner Neckereien nahm, ihn auch häufig zum Narren hielt. Patient erinnert sich auch, eine Zeitlang an jener Form des Kryptorchismus gelitten zu haben, bei der ein Testikel zeitweise durch den offenen Leistenkanal in die Bauchhöhle schlüpft. Dieser Umstand, die bessere Genitalentwickelung des älteren Bruders und dessen frühere Behaarung, legten ihm frühzeitig den Gedanken nahe, er könne gar ein Mädchen sein. Er trug bis zum Ende des 4. Lebensjahres Mädchenkleider und hat wohl aus dieser Zeit die Furcht erworben, nicht so wie der Bruder oder der Vater zu sein, kein ganzer Mann zu werden. Die starke Entwickelung seiner Mammae hat seine Unsicherheit wesentlich verstärkt. Dass er lange Zeit in Ungewissheit über die Geschlechtsunterschiede verbrachte, geht aus einem Erlebnis hervor, das ihm im Gedächtnis haften blieb, weil er bei dessen Erzählung von allen Anwesenden ausgelacht worden war. Er hatte im Volksgarten ein Mädchen beim Urinieren beobachtet und erzählte zu Hause, er habe einen Knaben gesehen, der von rückwärts Harn liess.[1]

Diese frühe Zeit war massgebend für seine Einstellung zur Familie und des weiteren zur Welt. Er sah sich verkürzt, und sein Minderwertigkeitsgefühl fand keine Ausgleichung in der Familie. Seine Begehrlichkeit, sein Drang, es dem Bruder, dem Vater, irgend jemandem gleich zu tun, den er als stark, fähig, kraftvoll ansah, wuchs mächtig an, und leitete ihn auf Bahnen, wo er in häufige Konflikte mit seinen Eltern kam. Er wurde ein schlimmes, ungeberdiges Kind, und jetzt war eine zärtlichere Haltung der Eltern noch schwieriger zu erzielen. Seine Gelüste stiegen masslos, misstrauisch und mit wachsendem Jähzorn suchte er sich vor jeder Herabsetzung zu sichern, und dies auch naturgemäss zu einer Zeit, wo er durch die Entwickelung seiner Genitalien, durch eine auffallend starke Körperbehaarung und durch seine angesammelte Erfahrung über seine Geschlechtsrolle


  1. Die ursprüngliche Unsicherheit der Geschlechtsrolle spielt, wie ich seit Jahren betone, (s. „Über neurotische Disposition 1909“ und die folgenden Arbeiten) eine Hauptrolle in der Entwickelung der neurotischen Psyche, für die sie später als Symbol und verschärfende Operationsbasis im Kampfe um die Herrschaft Verwendung findet. In allerletzter Zeit habe ich für diesen wichtigen Befund ein teilweises Entgegenkommen mehrerer Autoren gefunden.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred Adler: Über den nervösen Charakter. J.F. Bergmann, Wiesbaden 1912, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerNervoes1912.djvu/98&oldid=- (Version vom 31.7.2018)