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können. Denn aus der verschiedenartigen Lokalisation der Minderwertigkeit im Organ und seinen zugehörigen Teilen ergibt sich naturnotwendig eine verschiedenartige Lebensfähigkeit und Krankheitsveranlagung. Man muß zudem auch festhalten, daß es eine große Anzahl von Formen der Minderwertigkeit gibt, die weder die Gesundheit noch die Lebensdauer sichtlich beeinträchtigen, wie insbesondere leichte funktionelle oder peripher situierte Minderwertigkeiten.

In unserer Studie vertreten wir also die Auffassung, daß wir nicht die Heredität der Erkrankung, sondern die Heredität des minderwertigen Organes anerkennen, eine Auffassung, die sich nicht in der gesamten Pathologie, wohl aber bei einzelnen pathologischen Erscheinungen bereits Bahn gebrochen hat. Wir wollen versuchen, an einer Reihe von Erkrankungen, die zumeist als hereditär gelten, unsere Auffassung zu vertreten und weitere Stützpunkte als die bisher geltend gemachten anzuführen.

Ziemlich einwandfrei geschieht die Anführung der Heredität bei der genuinen Epilepsie. Die von Meinert u. a. erhobenen Formanomalien im Gehirn decken sich mit unseren morphologischen Minderwertigkeiten. Die epileptischen Äquivalente, den vorkommenden Verblödungsprozeß werden wir als funktionelle Minderwertigkeit des Gehirnes in Anspruch nehmen müssen. Das von Freud und Rie zur Diskussion gestellte ätiologische Moment der Poliencephalitis stellt sich als Erkrankungsform eines minderwertigen Organes, des Gehirnes, vor. Andere Hervorhebungen hängen unseres Erachtens mit gleichzeitiger Minderwertigkeit anderer Organe zusammen. So die häufige anamnestische Feststellung des Bettnässens, einer funktionellen Minderwertigkeit des Harnapparates, die günstigenfalls durch Kompensation des Zentralnervensystems ausgeglichen werden muß. So auch die Anomalien des Kreislauforganes, die von mehreren Seiten mit der Frage der Epilepsie verknüpft wurden. Asymmetrien der Schädelbasis, Augenanomalien, Degenerationszeichen am Kopfe weisen uns immer wieder auf die Minderwertigkeit des Gehirnes hin und sind als periphere Äußerungen dieser Minderwertigkeit aufzufassen. Veränderungen der Schleimhaut- und Hautreflexe, wie sie neuerdings Redlich andeutet, fallen der gleichzeitigen Minderwertigkeit anderer Organe anheim. Moralische Verschlechterung, Verbrechertum, Trunksucht können dieser Gehirnminderwertigkeit entstammen, nicht der Epilepsie. Hervorragende Geistesveranlagung, Genialität, die Lombroso in den Vordergrund gerückt hat, sind als Überkompensation in einem minderwertigen Gehirn anzusehen. Dieses minderwertige Gehirn ist es, das sich vererbt. Um zur Epilepsie

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Alfred Adler: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien 1907, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AdlerStudie.djvu/30&oldid=- (Version vom 31.7.2018)