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unleugbar teils ein gewisser Dualismus, in welchem die göttliche und menschliche Natur Christi einander gegenüberstanden, teils ein nicht völlig überwundener doketischer Schein. Man betrachtete die Person Christi einseitig nur von oben und lief hiedurch Gefar, eine warhaft menschliche Lebensentwicklung Christi einzubüßen. Auf andere Weise schien unter Festhaltung der warhaften Gottheit Christi die Einseitigkeit nicht überwunden werden zu können, als durch die Annahme einer wirklichen Selbstbeschränkung des ewigen Logos in und mit der Tat der Menschwerdung. Schrift und innerster Lebenstrieb des kirchlichen Dogmas schienen Thomasius den von ihm getanen Schritt unbedingt zu fordern; andere waren mehr andeutend ihm auf diesem Wege schon vorangegangen oder taten es zugleich mit ihm. Mit großem Scharfsinn und eingehendster Gründlichkeit entwickelte er seine Lehre; er tat es in dem Bewusstsein, hier vor dem tiefsten und schwierigsten aller Probleme zu stehen, mit heiligem Ernste und mit der ihm eigenen Bescheidenheit. Er sagt: „was die Eigentümlichkeit meiner Auffassung der Menschwerdung betrifft, so betrachte ich sie als einen Versuch und will sie auch so angesehen wissen, allerdings nicht dem Grundgedanken nach, denn dessen Schriftmäßigkeit steht mir fest, aber die Aus- und Durchfürung der Sache macht keinen andern Anspruch, als ein Versuch zu sein“. Der Grundgedanke, dass der Logos mittels Entäußerung in Jesu Mensch geworden sei, one darum aufzuhören, zu sein, was er wesentlich ist, ist unseres Erachtens vollkommen richtig, Thomasius’ Versuch, denselben darzustellen, allerdings nicht völlig gelungen. Der Haupteinwand, von einem der gelehrtesten und gewichtvollsten Theologen von Seiten der Unveränderlichkeit Gottes erhoben, trifft insofern nicht zu, als bei dieser Anschauung im Grunde eine Menschwerdung Gottes und ein geschichtliches Verhältnis Gottes zur Menschheit überhaupt zur Unmöglichkeit würde. Merkwürdigerweise hat gerade in demselben Jare, in welchem Thomasius zum ersten Male mit seiner Lehre hervortrat, ein Mann, der wie wenige in dem altkirchlichen Dogma von der Menschwerdung Gottes wurzelte, Heinrich Thiersch, umgekehrt die platonischen Voraussetzungen in der Lehre von Gott und den göttlichen Attributen, wonach τὸ

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Adolf von Stählin: Löhe, Thomasius, Harleß. J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung, Leipzig 1887, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Adolf_von_St%C3%A4hlin_-_L%C3%B6he,_Thomasius,_Harle%C3%9F.pdf/61&oldid=- (Version vom 31.7.2018)