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und Heldensage, in grauer Vorzeit reich und üppig geblüht haben und eng miteinander verknüpft gewesen sein müssen. Was heute als ziemlich sicher feststeht, will ich im folgenden kurz auseinandersetzen. Die lettische Mythologie ist mit der litauischen und altpreußischen ebenso nahe verwandt, wie diese drei lithoslavischen Völker selbst. Auch bei den Russoslaven stößt man auf mannigfache Ähnlichkeiten. Als am höchsten und allgemeinsten verehrter Elementargeist erscheint der große Gott Pehrkon (lit. und altpreuß. Perkunos, russ. Perun), der Herr der Winde, Wolken, des Donners und Blitzes, der König des Himmels, der Hüter, Beherrscher oder gar Vater aller Götter. Im Gegensatze zu ihm, der wohl furchtbar aber nicht abschreckend, wohl ein strafender Richter aber kein berufsmäßiger Zerstörer war, stand Pikkuls (Pikkulos), der Gott der Finsternis, der Krankheit, des Todes, während die Lebens- und Sinnenfreude durch Potrimps (Potrimpos) oder Trimpus, den Herrn der Flüsse und Quellen, den Förderer der Fruchtbarkeit und alles irdischen Segens, auch etwas an Dionysos-Bacchos erinnernd, repräsentiert ward. Dieser Trias ebenbürtig, ja von ähnlicher Allbeliebtheit wie der Donnerer Pehrkon selbst, erscheint die Laima, die Göttin des Glückes, des häuslichen Herdes und Segens, der Wöchnerinnen und Neugeborenen. Beider Namen haben tiefe Wurzeln im Bewußtsein des lettischen Volkes geschlagen und sind in die gewöhnliche Umgangssprache übergegangen: laime heißt Glück, Schicksal, pehrkons noch heute Gewitter, Donner. Während der christlich-katholischen Herrschaft hat die alte Glücksgöttin bis zu einem gewissen Grade der Mutter des Erlösers, der Jungfrau Maria, weichen müssen; in vielen Volksliedern finden wir den Namen Marja (Maria) an Stelle

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Victor von Andrejanoff: Lettische Volkslieder und Mythen. Otto Hendel, Halle a.d.S. 1896, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:AndrejanoffLettischeVolkslieder.pdf/11&oldid=- (Version vom 22.8.2016)