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zu vereinigen. Den Vali Nazim Pascha beschuldigte er der Lauheit und Unfähigkeit, der durch sein gleichgiltiges, unthätiges Verhalten die armenischen „Fidaji“ (Hetzer, Aufwiegler) – mit diesem Namen bezeichnen die türkischen Behörden fast jeden Armenier – angeblich „in ihrer Wühlarbeit“ ermutige, anstatt auf sie zu fahnden. Zu diesem Zwecke ließ er selbst zunächst verschiedene Haussuchungen vornehmen; hierauf ordnete er allgemeine Durchsuchungen in den armenischen Vierteln an, unter Aufgebot einer 3–400 Mann starken Truppenabteilung. Allein alle diese Haussuchungen blieben ergebnislos.

Durch befreundete Türken hatten die Armenier erfahren, daß ein Angriff auf sie für den 12. Juni geplant sei, weshalb auch die Letzteren an diesem Tage ihre Läden und Werkstätten geschlossen hielten und sich in ihre Häuser zurückzogen, in banger Erwartung der kommenden Dinge. Es sei hier bemerkt, daß schon seit geraumer Zeit, namentlich seit der etwa 14 Tage vorher erfolgten Abreise des russischen Konsuls Herrn Wladimir, der sich auf Urlaub in Rußland befand, fast täglich Ueberfälle und Mordanschläge gegen Armenier vorkamen; täglich wurden 5–6 Armenier umgebracht; die Lokalbehörden kümmerten sich um diese Vorfälle nicht im geringsten. Unter Anderen wurde auch Herr Zolak, Lehrer an der hiesigen armenischen höheren Bürgerschule, auf der Straße Noraschen bei Nacht überfallen, niedergestochen und hierauf mit der Axt in Stücke gehauen.

In der Nacht vom 13. auf den 14. Juni hörte man aus dem armenischen Stadtviertel Klor-Dar mehrere Flintenschüsse. Es war nämlich, wie man am folgenden Tage sicher erfuhr, eine türkische Nachtpatrouille auf eine Bande kurdischer Salzschmuggler gestoßen; es entspann sich ein Gefecht, in dem bloß das Pferd eines Kurden getödtet wurde; die Schmugglerbande entkam. Die armenische Bevölkerung, in ängstlicher Ungewißheit über die Ursache des Lärmes, erwartete von Augenblick zu Augenblick den Beginn des Blutbades. Am folgenden Morgen wurde auf Befehl der Lokalbehörde das vorerwähnte totgeschossene Pferd auf dem Marktplatz öffentlich zur Schau ausgestellt und zugleich bekannt gemacht, die Bande, auf die die türkische Nachtpatrouille gestoßen wäre, sei eine armenische Räuberbande gewesen. Dadurch suchten die Behörden die ohnedies schon hocherhitzten Gemüter der türkischen Bevölkerung gegen die Armenier noch mehr aufzuregen. Dies gab den unmittelbaren Anstoß zur Entfesselung der türkischen

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/149&oldid=- (Version vom 31.7.2018)