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Gerechte Behandlung wird den Armeniern unter allen Umständen aufs entschiedenste verweigert. Wenn einer je wagt, als Ankläger gegen einen Kurden oder Türken aufzutreten, so wird er sofort als Angeklagter oder Verbrecher behandelt, gewöhnlich als beides und kommt unbedingt ins Gefängnis. In solchem Fall ist das Gefängnis gedacht als eine Zwischenstation zwischen verhältnismäßigem Wohlstand und völligem Elend, sofern die Insassen zu dem Lose bestimmt sind: ihres ganzen Besitzes beraubt und dann fortgejagt zu werden. Aber was das Gefängnis wirklich ist, davon kann man sich kaum einen Begriff machen. Wenn man sich die alte englische Sternkammer, die spanische Inquisition, eine chinesische Opiumhöhle, eine Ecke in einem Cholerahospital und einen Winkel in der tiefsten Tiefe von Dantes Hölle in eins zusammengeschmolzen denkt, dann kommt ungefähr das heraus, was ein schlechtes, türkisches Gefängnis ist. Schmutz, Gestank, Seuchen, Häßlichkeit, Schmerzen in allen Formen und Graden, wie man sie sich in Europa gar nicht vor-stellen kann, sind die in das Auge springenden äußerlichen Merkmale. Die psychologischen Merkmale sind: äußerste, trostloseste Verzweiflung – teuflische Bosheit – höllische Freude an menschlichen Leiden – völlige Hingabe an ekelhafteste Laster – kompletter moralischer Wahnsinn – und das ganze personificiert in Scheusalen, deren Menschengestalt eine lebendige Gotteslästerung ist. In diesen greulichen Kerkern mischt sich beständig der Angstschrei gepeinigter Menschen mit dem wiehernden Hohngelächter eines teuflischen Entzückens. Gassenhauer werden gesungen als Begleitung zu herzzerreißendem Jammergeschrei. Und während dessen hauchen Leiber, die schon längst die Seele verloren hatten, den letzten Atem aus, und niemand beweint sie, als die feuchten Kerkermauern, auf welchen der Dunst unglaublicher Qualen und scheußlicher Seuchen sich in dicken Tropfen niederschlägt und an den Wänden niederrieselt. Phantasien der Hölle, die lebendig geworden sind, das sind die türkischen Gefängnisse.

Im letzten März schickte ich einen meiner Freunde ab, um die politischen Gefangenen in Bitlis zu besuchen und sie zu bitten, mir einen kurzen Bericht über ihre Lage zu geben. Vier derselben antworteten in einem gemeinsamen Briefe, der sicherlich eines der beweglichsten Schriftstücke ist, das ich je gelesen habe. Nur die am wenigsten sensationellen Stellen können der schamhaften Verschleierung durch die

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 181. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/183&oldid=- (Version vom 31.7.2018)