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Wenn auch in allen Massacres Dutzende von Frauen und Kindern umkamen, wenn auch in Ksanta und Lessonk hundert Frauen zerstückelt wurden, wenn auch unter den Opfern zu Bitlis sich die fünf- bis zwölfjährigen Knaben der Pfarrschule von Surp Serkias befanden, so muß man doch den Türken die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß von den Spitzen der Behörden solche Greuel nicht immer gewollt wurden. Und wenn aus einer ganzen Reihe von Dörfern und Städten berichtet wird, daß man selbst die Kinder im Mutterleib nicht schonte, ihnen gewaltsam zu einem frühzeitigen Dasein verhalf, sie zerstückte und in die Brunnen warf oder in Kreuzform zerschnitten im Schoße ihrer Mütter wieder begrub, so ist dies freilich nur der entmenschten Grausamkeit einzelner Ungeheuer zuzuschreiben. Auch daß unter den 450 Leichen, die man auf den Friedhof zu Sivas begrub, alle Frauenleiber aufgeschlitzt waren, geht weit über die Instruktionen hinaus, die dem Pöbel zuteil wurden. Im übrigen aber wurden von den Behörden der Mordlust der Massen keinerlei Schranken gesetzt, und wo die zu bewältigende Aufgabe die Kräfte des Pöbels überstieg, half das schnell requirierte Militär gar bald zum erwünschten Erfolg. Thörichte Scharen von flüchtenden Männern, Frauen und Kindern glaubten oft genug, daß Kirchen ein Schutz seien, und daß man ihr Leben im Heiligtume schonen würde. Doch da nun einmal Hunderte von Kirchen und Klöstern in Schutt und Asche gelegt werden mußten, wenn man mit dem verhaßten Christentum aufräumen wollte, wie konnte man auf die Bagatelle Rücksicht nehmen, daß sich Männer, Frauen und Kinder zu Hunderten in dieselben geflüchtet hatten. Was hinderte auch, die Thüren der Kirche zu Ressuan zu erbrechen und alle Flüchtlinge drin zu ermorden. Warum flohen 300 Armenier in das Kloster Maghapajetzwotz, wenn nicht, um mit der Brüderschaft umgebracht zu werden? Und wenn in Indises (Distrikt Luh-Schehri), in Haburs und Bussu (Distrikt Charput) die Kirchen den Christen über den Köpfen eingesteckt wurden, wer will den Pöbel tadeln, wenn das Militär dabei mit gutem Beispiel voranging? In Schabin Kara-Hissar nahm man auf die heilige Stätte mehr Rücksicht und mordete die 2000 in die Kirche geflüchteten Männer, Frauen und Kinder wenigstens draußen vor der Thür. Die Schandsäule aber, die sich zum ewigen Gedächtnis der Islam in dem Massacre von Urfa errichtet hat, mag der Leser in Teil II mit eigenen Augen bestaunen.

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Leipzig 1897, Seite 26. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/28&oldid=- (Version vom 31.7.2018)