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nicht gesehen, behielten, und wer kann von ihnen eine so tiefe psychologische Einsicht verlangen, daß sie die Befehle von Vorgesetzten, die sie zuvor zum Plündern angestellt, ernst nehmen sollten, wenn sie von ebendenselben mit der Auffindung der Diebe beauftragt wurden. Der Erfolg war denn auch darnach, wie jenes Dorf bei Erzerum beweist, dem 12 000 Schafe gestohlen wurden und Dank des Einschreitens der Regierung ganze zwei Schafe – ein Bock und ein Mutterschaf – zurückgegeben wurden, sicher mit der Intention, daß dieselben im Lauf der Jahre nach angemessener Vermehrung den Schaden wieder einbringen sollten. Auch ließ es sich zuweilen die Behörde angelegen sein, den Kurden einen Teil der Beute wieder abzujagen, was dann verdoppelte Feindschaft der Kurden gegen die Christen, obwohl dieselben nichts zurückerhielten, zur Folge hatte.

Es konnte nicht anders sein, als daß eine so gründliche Vernichtung des Wohlstandes von acht großen Provinzen zur Folge hatte, daß bei dem völligen Darniederliegen von Handel und Wandel eine erschreckende Ebbe in den Kassen der Regierung eintrat, und niemand kann es den Behörden verargen, daß sie den Verteilern von Unterstützungsgeldern die Steuerbeamten auf dem Fuße folgen ließ, ein Umstand, der dazu mitwirkte, daß man endlich auch europäischen Hilfskomitees die Austeilung von Geld und Gaben gestattete. Konnte doch wenigstens durch die Steuererhebung ein Teil derselben wieder in die Kassen der Regierung übergeführt werden. Auch die Steuerbeamten hatten in den Massacres gelernt, wie man zu Gelde kommt. Einen armen Kerl von Armenier, der nicht einen Para zu geben hatte, marterten sie, indem sie eine Kette herbeischleppten und sie so um seinen schmalen Rücken legten, daß sich die Schlinge zuzog, wenn man daran zerrte. Sie warfen die Kette über einen hohen Balken und zogen den Mann daran in die Höhe, indem sie ihm zugleich die Steuerquittung präsentierten. Er bedauerte daß er kein Geld habe, noch etwas ausbringen könne. Sie zogen aber so lange, bis ihm das Blut aus Mund und Nase strömte und ließen ihn dann, weil doch nichts von ihm zu haben war, noch eine Weile hängen.

Der Ehrgeiz der Behörden, die Linderung des Notstands der Armenier selbst in der Hand zu behalten, war ebenso groß, als einst der Wetteifer der Großmächte für die Beglückung das armenischen Volkes. Als sich daher in den Monaten nach den Massacres

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Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/91&oldid=- (Version vom 31.7.2018)