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Ein türkisches Gefängnis.
Bericht eines Gefangenen.

„Ich schreibe aus dem Gefängnis von G. diese Zeilen. Wir waren unser gegen 500 Personen aus M. Y. O. und andern Orten als politische Gefangene. Ein Teil von uns wurde freigesprochen, da selbst das türkische Gericht mit all seiner Gewandtheit nicht imstande war, sie irgend welcher erdichteter Vergehen zu überführen.

Um Unterlagen für die Anklagen zu gewinnen, wurden zunächst die entsetzlichsten Mittel angewendet, die dazu dienen sollten, Aussagen zu erpressen: Folter, Prügel, Entehrung, Entblößung, Hunger und Durst traten an die Stelle des gewöhnlichen Untersuchungsverfahrens. Der kalte Winter mußte dazu mitwirken, diese Zwangsmittel noch unerträglicher zu machen. Einige Lappen als Betten, Brocken von Brot, das die Mäuse zernagt, als Speise und stinkendes Wasser aus schmutzigen Gefäßen als Trank, alles war darauf angelegt, die Bedürfnisse, den Hunger und Durst der Gefangenen mit möglichster Spärlichkeit zu befriedigen. Alte verrostete, mit Kugeln und Bomben belastete Ketten, eiserne Handschellen und Stockhölzer kamen zum Vorschein. Sie wurden einigen um den Hals gelegt, andern um die Füße, den meisten um die Hände, um sie zu Aussagen zu nötigen, die die Regierung und die Gefängnisbeamten zu hören wünschten. Man hielt es für geeigneter, für derartige Untersuchungen die langen, furchtbaren Winternächte zu wählen. Manchmal hörte man um drei Uhr, manchmal um Mitternacht, manchmal gegen Morgen aus allen Ecken des Gefängnisses weinendes und stöhnendes Schluchzen oder auch herzzerreißendes Geschrei: „Ich weiß nicht!“ „Ich habe es nicht gesehen!“ „Ich sterbe!“ oder dergl., worunter sich das schauerliche Gebrüll und Fluchen der türkischen Gefangenen mischte. Das Heulen und Wehklagen unter den Schlägen der Bastonnade, die Nacht für Nacht in den türkischen Gefängnissen an jedermann verabreicht wird, das Geschrei anderer, die nackt auf Schneehaufen gelegt, anderer, die mit glühenden Eisenstäben gebrannt werden: „Es ist genug, ihr Unmenschen!“ „Ich erfriere!“ „Ich brate!“ „Tötet mich und rettet mich von den Qualen!“ wird übertönt von dem Gesang und Lärm, den die Gefängnisbeamten veranstalten. Auf solche Weise folterte man

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Armenien und Europa. Eine Anklageschrift. Verlag der Akademischen Buchhandlung W. Faber & Co., Berlin-Westend 1897, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Armenien_und_Europa._Eine_Anklageschrift.pdf/95&oldid=- (Version vom 31.7.2018)