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Walter Benjamin: Das Leben der Studenten. In: Der Neue Merkur 2, S. 727–737

sondern mit den metaphysischen Fragen des Platon und des Spinoza, der Romantiker und Nietzsches. Dies nämlich, nicht aber Führungen durch Fürsorgeinstitute, würde tiefste Verbindung des Berufes mit dem Leben, allerdings einem tieferen Leben bedeuten. Würde die Erstarrung des Studiums zu einem Haufen von Wissen verhüten. Es hätte diese Studentenschaft die Universität, die den methodischen Bestand des Wissens samt den vorsichtigen kühnen und doch exakten Versuchen neuer Methoden mitteilt, zu umgeben, gleichwie das undeutliche Wogen des Volkes den Palast eines Fürsten, als die Stätte der beständigen geistigen Revolution, wo zuerst die neuen Fragestellungen weitausgreifender, unklarer, unexakter, aber manchmal vielleicht auch tiefer ahnend als die wissenschaftlichen Fragen sich vorbereiten. Die Studentenschaft wäre in ihrer schöpferischen Funktion als der große Transformator zu betrachten, der die neuen Ideen, die früher in der Kunst, früher im sozialen Leben zu erwachen pflegen als in der Wissenschaft, überzuleiten hätte in wissenschaftliche Fragen durch philosophische Einstellung.

Die heimliche Herrschaft der Berufsidee ist nicht die innerlichste jener Verfälschungen, deren Furchtbarkeit es ist, daß sie alle das Zentrum schöpferischen Lebens treffen. Eine banale Lebenseinstellung handelt Surrogate gegen den Geist ein. Es gelingt ihr, immer dichter die Gefährlichkeit des geistigen Lebens zu verschleiern und den Rest der Sehenden als Phantasten zu verlachen. Die erotische Konvention verbildet tiefere Schichten des unbewußten Lebens in den Studenten. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der die Berufsideologie das intellektuelle Gewissen fesselt, lastet die Vorstellung der Heirat, die Idee der Familie als eine dunkle Konvention auf dem Eros. Er scheint verschwunden aus einer Epoche, die zwischen dem Dasein des Familiensohnes und Familienvaters sich leer und unbestimmt erstreckt. Wo die Einheit im Dasein des Schaffenden und des Zeugenden liegt und ob diese Einheit in der Form der Familie geschaffen ist, diese Frage durfte nicht gestellt werden, solange es die heimliche Erwartung der Heirat galt, eine illegitime Zwischenzeit, in der man höchstens Widerstandsfähigkeit gegen Versuchungen trefflich bewähren könne. Der Eros der Schaffenden – wenn überhaupt eine Gemeinschaft ihn zu erblicken und um ihn zu ringen vermöchte, so wäre es die studentische. Aber noch dort, wo alle äußeren Bedingungen der Bürgerlichkeit fehlten, wo bürgerliche Zustände, das heißt Familien, zu gründen aussichtslos war, wo in vielen Städten Europas eine tausendköpfige Menge von Frauen ihre ökonomische Existenz nur auf die Studierenden gründet – die Prostituierten –, noch da hat er sich nach

Empfohlene Zitierweise:
Walter Benjamin: Das Leben der Studenten. In: Der Neue Merkur 2, S. 727–737. Müller, München und Berlin 1915, Seite 734. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Benjamin_Das_Leben_der_Studenten.djvu/8&oldid=- (Version vom 31.7.2018)