– „Es gilt nicht.“ Wenn aber manchmal der Spieleifer nachläßt, wenn das verabredete „Gilt nicht“ für einen Moment aus dem Bewußtsein schwindet und man die umgebenden Scenen in ihrer Wirklichkeit erfaßt und dies abgrundtiefe Unglück, das Massenverbrechen als geltend begreift, da wollte man nur noch eins, um sich aus dem unerträglichen Weh dieser Einsicht zu retten: – tot sein.“
„Eigentlich, es ist wahr,“ bemerkte Tante Marie nachdenklich, „Sätze wie: Du sollst nicht töten – sollst nicht stehlen – liebe deinen Nächsten wie dich selbst – verzeihe deinen Feinden –“
„Gilt nicht,“ wiederholte Tilling. „Und diejenigen, deren Beruf es wäre, diese Sätze zu lehren, sind die ersten, welche unsere Waffen segnen und des Himmels Segen auf unsere Schlachtarbeit herabflehen.“
„Und mit Recht,“ sagte mein Vater. „Schon der Gott der Bibel war der Gott der Schlachten, der Herr der Heerschaaren … Er ist es, der uns befiehlt, das Schwert zu führen, er ist es –“
„Als dessen Willen die Menschen immer dasjenige dekretieren,“ unterbrach Tilling, „was sie gethan sehen wollen – und dem sie zumuten, ewige Gesetze der Liebe erlassen zu haben, welche er, – wenn die Kinder das große Haßspiel aufführen –, durch göttliches „Gilt nicht“ aufhebt. Genau so roh, genau so inkonsequent, genau so kindisch wie der Mensch, ist der jeweilig von ihm dargestellte Gott. Und jetzt, Gräfin,“ fügte er hinzu, indem er aufstand, „verzeihen Sie mir, daß
Bertha von Suttner: Die Waffen nieder!. Dresden/Leipzig: E. Pierson’s Verlag, 1899, Band 1, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bertha_von_Suttner_%E2%80%93_Die_Waffen_nieder!_(Band_1).djvu/152&oldid=- (Version vom 31.7.2018)