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gewisser männlicher Orthoptern nicht eher als bis mit der letzten Häutung vollständig entwickelt werden und dass die Farben gewisser männlicher Libellen nicht eher vollständig entwickelt werden, als kurze Zeit nach ihrem Ausschlüpfen aus dem Puppenzustande und wenn sie zur Begattung reif sind.

Eine Wirksamkeit geschlechtlicher Zuchtwahl ist nur unter der Voraussetzung denkbar, dass die anziehenderen Individuen von dem andern Geschlechte vorgezogen werden, und da es bei den Insecten, wenn die Geschlechter von einander abweichen, das Männchen ist, welches mit seltenen Ausnahmen am meisten geziert ist und welches am meisten von dem Typus, zu welchem die Art gehört, abweicht, und da es das Männchen ist, welches begierig das Weibchen aufsucht, so müssen wir annehmen, dass gewöhnlich oder gelegentlich das Weibchen die schöneren Männchen vorzieht, und dass diese hierdurch ihre Schönheit erlangt haben. Dass in den meisten oder sämmtlichen Ordnungen die Weibchen das Vermögen haben, irgend ein besonderes Männchen zu verschmähen, ist nach den vielen eigenthümlichen Vorrichtungen wahrscheinlich, welche die Männchen besitzen, um die Weibchen zu ergreifen, wie grosse Kinnladen, Haftkissen, Dornen, verlängerte Beine u. s. w.; denn diese Einrichtungen zeigen, dass der Act seine Schwierigkeiten hat, so dass die Betheiligung des Weibchens nothwendig scheinen möchte. Nach dem, was wir von dem Wahrnehmungsvermögen und den Affecten verschiedener Insecten wissen, liegt von vornherein keine Unwahrscheinlichkeit vor, dass geschlechtliche Zuchtwahl in ziemlicher Ausdehnung in Thätigkeit getreten ist; wir haben aber bis jetzt noch keine directen Belege über diesen Punkt und einige Thatsachen widersprechen der Annahme. Nichtsdestoweniger können wir doch, wenn wir sehen, dass viele Männchen ein und dasselbe Weibchen verfolgen, kaum glauben, dass die Paarung einem blinden Zufalle überlassen wäre, — dass das Weibchen keine Wahl ausübte und von den prächtigen Färbungen oder anderen Zierathen, mit denen das Männchen allein decorirt ist, nicht beeinflusst werden sollte.

Wenn wir annehmen, dass die Weibchen der Homoptern und Orthoptern die von ihren männlichen Genossen hervorgebrachten musikalischen Laute würdigen und dass die verschiedenen Instrumente zu diesem Zwecke durch geschlechtliche Zuchtwahl vervollkommnet worden sind, so liegt in der weiteren Annahme wenig Unwahrscheinliches,


Empfohlene Zitierweise:
Charles Darwin: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl, I. Band. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart 1875, Seite 430. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DarwinAbstammungMensch1.djvu/444&oldid=- (Version vom 31.7.2018)