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Karl Pauli: Das Tuch. In: Das Buch für Alle, 44. Jahrgang, Heft 13, S. 290–292, 294

daß die sich auch wieder zu grämen anfange. Und so war denn weder von dem Geld, das sich Seibt geborgt, noch von dem Taschentuch in der einsamen Hütte mehr die Rede.

*

Der Winter verging, der Frühling zog ins Land.

Der Wechsel brachte für die Bewohner der Seibtschen Hütte keine Veränderung, eintönig flossen die Tage dahin. Das Einvernehmen zwischen den Eheleuten war zwar wieder hergestellt, allein ein wirkliches, echtes war es nicht mehr – nicht durch die Schuld der Frau, denn sie hatte längst vergeben, derartiges war in ihrer Umgebung doch so etwas Gewöhnliches, daß sie sich selbst komisch vorgekommen wäre, den Schlag ihrem Manne nachzutragen.

Aber Seibt selbst war anders, er war aufbrausend und bösartig geworden.

Eines Tages kam Abwechslung in ihr eintöniges Leben. Es war so gegen Mittag, da zog das halbe Dorf bei der Hütte vorüber dem Walde zu – alle aufgeregt und hastend, laut sprechend und streitend.

Als Seibt vor die Hütte trat, um zu erfahren, was es gäbe, rief ihm einer zu: „Im Walde liegt einer erschlagen. Gestern haben sie ihn gefunden, jetzt[1] sind die Gendarmen mit dem Staatsanwalt da!“

„Erschlagen? Wer ist’s denn?“

„Das weiß niemand. Der Tote liegt wohl schon sehr lange, denn die Füchse sollen ihn ganz zerfressen haben.“

„So – so!“ sagte Seibt zerstreut. „Wer hat ihn denn erschlagen?“

„Das weiß noch kein Mensch. Aber sie werden’s schon ’rauskriegen! Ein Mörder verrät sich ja immer selbst!“

„Na,“ meinte Seibt, „so manchen Mord hat man auch nicht ’rausgekriegt!"

„Gehst du nicht mit?“ fragte der Nachbar.

„Nein,“ entgegnete Seibt, „ich kann so was nicht sehen.“

Er trat ins Haus zurück und ging in die Kammer.

Als seine Frau nach Hause kam, fragte er sie, ob sie nichts von dem Morde gehört hätte.

Sie brachte in der Tat genauere Nachricht, man wußte jetzt, wer der Erschlagene war. Es war der Händler Markus. Bei einem anderen hätte auch die Tat nicht so lange verborgen bleiben können, aber Markus war nicht verheiratet, und zog oft monatelang im Lande umher. Es war also nicht aufgefallen, daß er nirgends gesehen worden war.

„Der Markus!“ meinte Seibt. „Das hab’ ich mir immer gedacht, daß sie den einmal um die Ecke bringen. Der ging immer allein, wie oft hab’ ich nicht gesagt, daß ihm gewiß noch einmal was passieren werde.“

„Er muß bei uns vorbeigekommen sein!“ sagte die Frau. „Merkwürdig, daß er nicht ’reingekommen ist! Er ging sonst doch nie vorbei, ohne vorzusprechen. Du hast ihn ja auch schon ein paarmal durch den Wald geführt.“

„Ja – ja,“ sagte Seibt, „jetzt ist er halt tot. Wir können ihn nicht wieder aufwecken.“

Dann ging er hinaus, setzte sich auf den Brunnenrand und blieb sitzen, bis die Frau ihn ans Schlafengehen mahnte.

„Was sitzt du denn da und starrst in die Nacht!“ sagte sie. „Du hast ihn doch nicht erschlagen!“

„Wen denn? Was denn? Sei doch so gut, und red’ du kein so albernes Zeug, du dumme Gans! Ich werd’ so wie so noch Lauferei und Schererei genug haben, weil er gerade an dem Abend hier vorbeigehen mußte!“

Er erhob sich seufzend und ging hinein. Lange hörte ihn die Frau sich ruhelos auf seinem Bette wälzen.

*

Seibt hatte recht, er hatte Lauferei und Schererei, denn er wurde ein paarmal vor Gericht gefordert, wo er durchaus sagen sollte, ob Markus an dem Abend an seinem Hause vorbeigegangen war oder nicht, wann er ihn zuletzt gesehen habe und so weiter.

Seibt erklärte, daß Markus öfter bei ihm gewesen sei, wann zuletzt, das wisse er nicht. Mehr sagte er nicht aus, wie scharf auch die Herren vom Gericht in ihn drangen.

So mußten sie ihn endlich in Ruhe lassen, und die Angelegenheit schien vergessen zu sein.

Der erste, der wieder etwas davon hörte, war der kleine Gustav.

Es war eines schönen Sommermorgens, Gustav saß in der Schule und lauerte darauf, daß die Glocke bald schlagen werde, denn er freute sich schon auf das Mittagessen, da klopfte es auf einmal an die Tür des Schulzimmers, der Lehrer wurde hinausgerufen und kam gleich darauf mit einem großen Herrn im schwarzen Anzug wieder zurück.

Der Herr grüßte freundlich, stellte sich vor die erste Bank und sagte: „Hört mal, Kinder, da hab’ ich unterwegs ein wunderschönes, noch ganz neues Taschentuch gefunden. Das hat gewiß einer von euch verloren, und ich möcht’s dem Verlierer gern wiedergeben, denn man darf, das wißt ihr ja, gefundene Sachen nicht behalten. Nun, kennt einer von euch das Tuch?“

Er hatte bei diesen Worten ein blaues Taschentuch hervorgezogen und breitete es jetzt, es an den oberen Ecken haltend, vor den Kindern aus. Das Taschentuch zeigte in der Mitte einen großen Tintenfleck.

Einen Augenblick starrten die Kinder neugierig auf das Tuch, dann klang eine helle Stimme: „Das ist meinem Vater sein Tuch! Ich kenn’s an dem Klecks, und er hat’s auch schon lange gesucht. Der wird eine Freude haben, daß es wieder da ist!“

Der große Herr im schwarzen Rock sah über die Brille hinweg zu dem kleinen Schreier hinüber. „So – so? Wie heißt du denn, Kleiner?“

„Gustav.“

„Weiter!“

„Gustav Seibt.“

Der große Herr wendete sich zu dem Lehrer und sagte halblaut: „Ist das derselbe Seibt, der schon ein paarmal verhört wurde?“

Der Lehrer neigte langsam das Haupt, ein unendlich mitleidiger Blick traf den kleinen Gustav, der noch immer erwartungsvoll dastand.

„Na, da komm, Gustav,“ sagte der große Herr, „da wollen wir deinem Vater das Tuch bringen! – Sorgen Sie, daß die anderen Kinder so lange hier bleiben,“ fuhr er in beinahe strengem Tone zu dem Lehrer fort, dann faßte er Gustav, der aus seiner Bank herausgekommen war, an der Hand und verließ mit ihm das Schulzimmer.

Unterwegs wunderte sich Gustav nicht wenig über die Schweigsamkeit des freundlichen Herrn; er mochte ihm erzählen, was er wollte, der Mann sagte nichts, und als er ihn einmal ansah, da sah sein Gesicht gar nicht mehr so freundlich aus, sondern so ernst und strenge, daß er sich zu fürchten anfing.

Als sie das Haus erreicht hatten, sahen sie Seibt auf dem Brunnenrand sitzen.

Der kleine Gustav riß sich los, eilte auf seinen Vater, der das Kommen der beiden nicht bemerkt hatte, zu und rief in lauter Kinderart: „Vaterle, freu’ dich, der Mann da hat das Tuch mit dem Tintenklecks gefunden, und ich hab’s in der Schule gleich erkannt!“

Seibt hatte sich erhoben, als er den Fremden sah; Leichenblässe zog über sein Gesicht, die Kniee wankten unter ihm, er war nicht imstande, ein Wort hervorzubringen.

Der Fremde war rasch herangetreten, und als er bemerkte, daß sich Seibt zur Flucht wandte, rief er: „Machen Sie keine Dummheiten, Seibt! Sie sind ein vernünftiger Mann, und es wird sich alles finden. Wenn Sie Reue zeigen und gestehen, kommen Sie vielleicht viel besser weg, als Sie denken. Geben Sie die Hände her!“

Wie vor den Kopf geschlagen gehorchte Seibt.

Die Frau, die bei Gustavs Freudengeschrei aus dem Hause geeilt war, kam gerade dazu, sie sank in die Kniee, schrie laut auf und riß den kleinen Gustav an sich, seinen Kopf an ihrer Brust bergend, damit er die Schmach seines Vaters nicht sehen sollte. Ihr verzweifelter Blick begegnete dem irrenden Auge ihres Mannes, und sie, die noch eine Minute vorher ahnungslos gewesen, wußte jetzt alles. Wieder schrie sie auf und hob die Arme zum Himmel.

Seibt, dem die Hände gefesselt waren, lief mehr als er ging vor dem Beamten her, um außer Hörweite seines Hauses zu kommen, den Kopf tief gesenkt, mit den Augen den Boden suchend.

*

Das Verfahren nahm nur sehr kurze Zeit in Anspruch. Seibt hatte alles gestanden, auch daß er, als sie vom Hause fortgegangen waren, zuerst nicht die Absicht gehabt hatte, Markus umzubringen. Dann aber habe er doch die Axt geholt. Was er sonst aussagte, daß er Markus erst gebeten hätte, ihm das Geld zu leihen, daß dieser ihn darauf angeschrieen habe, ob er ihn berauben wolle, und dann auch gedroht habe, daß er ihn anzeigen wolle, und ihn dann, als er ihn zu beruhigen versucht, tätlich angegriffen habe, wurde mit Zweifeln aufgenommen. Notwehr lag jedenfalls nicht vor, denn Seibt war ein starker Mann, und Markus klein und verwachsen. Daß Seibt behauptete, er habe sich seiner nur schwer erwehren können, schien unwahrscheinlich, auch daß er ihn nur erschlagen, weil er fürchtete, angezeigt zu werden. Jedenfalls hatte er dem Toten die Brieftasche genommen – das war überführend.

Das Tuch hatte zweihundert Schritte vom Tatorte entfernt hinter einem Baume gelegen. Seibt sagte aus, er habe es dem Toten, als er ihm die Brieftasche aus dem Rock zog, über das Gesicht geworfen und es dann vergessen, erst zu Hause sei er an das Fehlen des Tuches erinnert worden; als er aber in der nächsten Nacht wieder zu dem Toten geschlichen sei, um es zu holen, sei es verschwunden gewesen, wahrscheinlich hätten es die Füchse verschleppt, er habe es jedenfalls trotz verzweifelten Suchens nicht gefunden.

Der Tat selbst war Seibt geständig. Das Urteil war ein Todesurteil.

Ein Gnadengesuch einzureichen, lehnte Seibt ab. „Es hat noch kein Seibt im Zuchthaus gesessen,“ sagte er, „ich will nicht der erste sein.“

Als der Tag der Hinrichtung gekommen war, und Seibt sich allein mit dem Geistlichen in der Zelle befand, meinte er zögernd: „Herr Pastor, ich hätte halt noch eine recht große Bitte!“

Der Geistliche sah ihn erwartungsvoll an und gab ihm mit einem Blick das Zeichen zum Reden.

„Sehen Sie, Herr Pastor, wenn es möglich wäre, da möchte ich gern auf meinem letzten Gange die Augen mit dem Tuch verbunden bekommen, mit dem ich für meinen Jungen die Tinte aufgewischt hab’ – Sie wissen ja schon! Sehen Sie, das war meine letzte gute Tat, als ich für meinen armen Jungen die Tinte aufwischte. Ich wollte ihm helfen, daß er keine Prügel kriegte, ich wollte ihn beschützen vor dem Zorn meiner Frau. Ich bin ihm immer ein guter Vater gewesen, und daran soll mich das Tuch erinnern und mir die Hoffnung stärken, daß dort oben vielleicht auch ein guter Vater sitzt. – Herr Pastor, wenn’s möglich ist, geben Sie mir das Tuch mit!“

Der Wunsch des Unglücklichen wurde erfüllt. Man legte ihm das Tuch sogar mit in den Sarg.



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Karl Pauli: Das Tuch. In: Das Buch für Alle, 44. Jahrgang, Heft 13, S. 290–292, 294. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1909, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Tuch.pdf/5&oldid=- (Version vom 31.7.2018)