Seite:Das Volkstestament der Deutschen Christen.pdf/5

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

vor der Frage, wie er seinen lieben Deutschen das Wort Gottes rein und lauter predige, sondern vor der ganz anderen Frage, wieviel er vom Wort der Bibel seinen Zeitgenossen noch zumuten kann. So verschiebt sich auch der Maßstab völlig. Es wird nicht von der Bibel aus das Lot an unsere Zeit gelegt, sondern die Zeit legt das Lot an die Bibel. Die Grundsätze der Arbeit werden nicht dem Neuen Testament entnommen, sondern von außen herangetragen.

Grundmann spricht von einer dreifachen Verantwortung, von einer wissenschaftlichen, von einer christlichen, von einer deutschen Verantwortung. Das sind nun sehr verschiedenartige Dinge. Nicht, daß es widersprechende Dinge seien, oder daß nicht eine Sache von verschiedenen Gesichtspunkten her zu gleicher Zeit angefaßt werden könnte! Aber wieviel Fragen sind mit jedem einzelnen dieser Gesichtspunkte gestellt! Es gehört schon ein ungewöhnliches Maß von Selbstvertrauen dazu, ein Büchlein mit dem Anspruch vorzulegen, daß es den gesicherten Ergebnissen der Wissenschaft entspreche. Aber wie muß dieses Selbstvertrauen ins Ungemessene gesteigert sein, wenn jemand damit auch noch der gegenwärtigen Stunde des Christentums den befreienden Dienst leisten und dem deutschen Volk „die letzten tragfähigen religiösen Kräfte … in einer positiven Verbindung mit dem Glauben seiner Väter“[1] vermitteln will. Wenn soviel auf einmal gewollt wird, muß einem nachdenklichen Beobachter die Frage kommen, was denn nun schließlich bei dem Ganzen die eigentlich leitende Grundidee ist, die ausgesprochen oder unausgesprochen das Ganze beherrscht.

Wir möchten nicht den Eindruck erwecken, als ob wir die Frage der sogenannten Bibelkritik oder besser der kritischen Bibelforschung einfach vom Tische wischen wollten. Es ist schon richtig, daß an diesem Punkte der Gemeinde gegenüber viel versäumt worden ist, und daß auf diese Weise mancher hilflos feindlichen Angriffen ausgesetzt war, die er bei besserer Belehrung mit Leichtigkeit hätte abwehren können. Aber haben wir nicht gerade von der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Neuen Testament gelernt, daß die Evangelien bereits Bekenntnisbücher der christlichen Gemeinden sind, und daß es sinnlos und unmöglich ist, hinter diese Bücher zurückzugehen und aus dem Bekenntnis zu Jesus Christus das „geschichtliche“ Leben Jesu von Nazareth mit seiner „schlichten Botschaft“[2] herauszuschälen. Ist es eine


  1. Walter Grundmann: Unsere Arbeit am Neuen Testament. Grundsätzliche Bemerkungen zu dem von ‚Institut zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben‘ herausgegebenen Volkstestament. In: Institut zur Erforschung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben (Hrsg.): Verbandsmitteilungen. Nr. 1, 1939, S. 22 (laut Elisabeth Lorenz: Ein Jesusbild im Horizont des Nationalsozialismus. Mohr Siebeck, Tübingen 2017, S. 22 u. 43, ISBN 978-3-16-154602-0).
  2. derartige Forderung findet sich in Entschließung des Gaues Groß-Berlin der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“. In: Junge Kirche. Band 1, 1933, S. 322 (geschichte-bk-sh.de).
Empfohlene Zitierweise:
Karl Fischer: Das Volkstestament der Deutschen Christen. Bekennende Evangelisch-luth. Kirche Sachsens, Dresden 1940, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_Volkstestament_der_Deutschen_Christen.pdf/5&oldid=- (Version vom 20.11.2023)