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worden ist; und nur um dieses Unheil abzuwenden, umgeben sie sich mit Soldaten, mit Polizisten, Behörden und Kerkermeistern, die sämmtlich unproduktive Arbeiten verrichten müssen. Heute kann Niemand mehr über den Charakter der modernen Heere im Unklaren sein; sie sind nur deshalb „stehende“, um den „inneren Feind“ niederzuhalten. Ein Beispiel, gegen das es keinen Widerspruch gibt, ist Belgien, dieses Musterland des Kapitalismus. Seine Neutralität ist von den europäischen Mächten verbürgt, und trotzdem ist seine Armee, im Verhältniß zur Bevölkerungszahl, eine der stärksten. Ihre glorreichen Schlachtfelder aber sind die Ebenen des Borinage und von Charleroy: in dem Blute von unbewaffneten Bergleuten und Arbeitern pflegt der belgische Offizier seinen Degen zu „taufen“ und seine Epauletten zu fischen. Die europäischen Nationen haben keine Volks-, sondern Söldnerarmeen zum Schutz der Kapitalisten gegen das Volk, das dieselben zu zehnstündiger Gruben- oder Fabrikarbeit verdammen will.

Aber so groß dieses Heer von unnützen Mäulern, so unersättlich auch seine Gefräßigkeit ist, so genügt es noch immer nicht, um alle Waaren zu konsumiren, welche die durch das Dogma von der Arbeit verdummten Arbeiter erzeugen, ohne sie konsumiren zu wollen, ohne sich darum zu kümmern, ob sich überhaupt Leute finden, die sie konsumiren. Und so besteht, angesichts der doppelten Verrücktheit der Arbeiter: sich durch Ueberarbeit abzurackern und in Entbehrungen dahinzuleben, das große Problem der kapitalistischen Produktion nicht darin, Produzenten zu finden und die Kraft derselben zu erhöhen, sondern Konsumenten zu entdecken, ihren Appetit zu reizen oder ihnen solchen anzuerziehen.

Und da die europäischen Arbeiter, vor Hunger und Kälte zitternd, sich weigern, die Stoffe, die sie weben, selbst zu tragen, das Korn, das sie bauen, selbst zu verzehren, so sehen sich die armen Fabrikanten genöthigt, zu den Antipoden zu laufen und dort Leute zu suchen, welche die Erzeugnisse des Fleißes der europäischen Arbeiter brauchen können. Hunderte von Millionen und Milliarden an Werth sind es, welche Europa jährlich nach allen vier Enden der Welt für Völker exportiert, die nicht wissen, was sie damit anfangen sollen. Die erforschten Erdtheile sind ihnen nicht ausgedehnt genug, daher brauchen sie jungfräuliches Land. Die Fabrikanten Europas träumen Tag und Nacht von Afrika, vom Saharameer, von der Sudanbahn; mit gespannter Aufmerksamkeit folgen sie den Reisen der Stanley, der de Brazza, der Nachtigall, der Holub; offenen Mundes lauschen sie den wunderverheißenden Erzählungen dieser muthigen Forscher. Welch unbekannte Wunder verbirgt nicht dieser „dunkle Erdtheil“! Ganze Felder sind mit Elephantenzähnen besäet, ganze Flüsse von Palmöl fließen in einem dahin. Millionen von schwarzen Hintern, nackt wie Bismarcks Schädel, harren des europäischen Kattuns, um den Anstand des preußischen Schnapses und der englischen Bibel, um die Tugenden Zivilisation zu erlernen.

Aber alles Das reicht noch nicht aus: Die Bourgeois, die sich anmästen, die Dienstbotenklasse, die zahlreicher ist als die produktive Klasse, die wilden Völkerschaften, die man mit europäischen Waaren meuchelt[1]

  1. So müssen z. B. die Wilden Australiens, unbekümmert darum,
Empfohlene Zitierweise:
Paul Lafargue (übersetzt von Eduard Bernstein): Das Recht auf Faulheit. Schweizerische Genossenschaftsbuchdruckerei, Hottingen-Zürich 1884, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Das_recht_auf_faulheit-lafargue-1884.pdf/21&oldid=- (Version vom 8.12.2022)