Das Recht auf Faulheit

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Textdaten
Autor: Paul Lafargue
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Titel: Das Recht auf Faulheit
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Auflage:
Entstehungsdatum: 1880
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Schweizerische Genossenschaftsbuchdruckerei
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Erscheinungsort: Hottingen-Zürich
Übersetzer: Eduard Bernstein
Originaltitel: Le droit à la paresse
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Quelle: Commons, HU Berlin
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[1]
Das Recht auf Faulheit.
Von
Paul Lafargue.
Aus dem Französischen.


     Motto
(für die deutsche Ausgabe):
Laßt uns faul in allen Sachen,
Nur nicht faul zu Lieb’ und Wein,
Nur nicht faul zur Faulheit sein!
     G. E. Lessing.

Hottingen-Zürich.
Schweizerische Genossenschaftsbuchdruckerei.
1884.

[2]

[3]
Vorwort des Uebersetzers.




Als ich mich seinerzeit entschloß, die vorliegende kleine Schrift meines Freundes Lafargue den deutschen Arbeitern zu unterbreiten, – sie erschien zuerst als Feuilleton im „Sozialdemokrat" – da ward mir von verschiedenen Seiten die Befürchtung geäußert, sie werde mißverstanden werden, der Titel allein genüge, böses Blut zu machen, und Anderes mehr.

Indeß, diese Furcht stellte sich als unbegründet heraus, es liefen keine Reklamationen ein, vielmehr fanden die Artikel soviel Anklang, daß die Herausgabe des Ganzen in Broschürenform wünschenswerth erschien.

Diese deutsche Uebersetzung ist nicht ganz wörtlich. Im Einverständniß mit dem Verfasser sind einige nicht unbedingt zum Thema gehörige und nur für französische Leser verständliche Sätze fortgeblieben, während an anderen Stellen auf deutsche Verhältnisse passende Einschaltungen vorgenommen, deutsche Persönlichkeiten an Stelle französischer zur Exemplifizirung benutzt wurden. Nur so war es möglich, der Schrift den Charakter der Satire zu erhalten. Auch die Kapiteleintheilung ist eine andere als die des Originals.

Im Uebrigen seien hier die Worte wiederholt, mit denen die Redaktion des „Sozialdemokrat“ seinerzeit die Publikation einleitete:

..... „So denken wir uns den Dank unserer Leser dadurch zu verdienen, daß wir sie mit einer Schrift bekannt machen, welche mit ihrem beißenden Sarkasmus, mit ihrer rücksichtslosen Offenheit vortrefflich geeignet ist, mit allerhand Vorurtheilen, die sich bis in unsere Reihen eingeschlichen haben, tüchtig Kehraus zu machen. Die Biedermeierei, die in Deutschland das große Wort führt und über die „Frivolität“ eines Heine augenverdrehend zetert, darf in unserer Partei keinen Widerhall finden. Mehr als je müssen wir vielmehr gegen Scheinheiligkeit und Duckmäuserthum ankämpfen und uns vor Allem daran gewöhnen, offen auszusprechen, was wir für recht halten, und unbefangen zu prüfen, was neu an uns herantritt.

[4] „Unbefangen prüfen, das ist es auch, was wir den Lesern in Bezug auf die Lafargue’sche Schrift empfehlen. Nicht aus polemischen Gründen bringen wir sie zum Abdruck – wenn wir polemisiren, so thun wir dies offen und ohne Rückhalt – sondern ihrer unleugbaren Vorzüge wegen. Sie enthält in knappster Form eine Fülle von anregenden Gedanken, sowie von beweiskräftigem Material für unsere Sache, so daß selbst Der sie mit Frucht lesen wird, dem ihre „Moral“ oder „Immoral“ – wie man’s eben nehmen will – doch einige „Bedenken“ erregt.“



[5]
Vorwort des Verfassers.




Im Jahre 1849 sagte Herr Thiers als Mitglied der Kommission für den Elementarschulunterricht: „Ich will den Einfluß des Klerus zu einem allgemeinen machen, weil ich auf ihn rechne in der Verbreitung jener gesunden Philosophie, die dem Menschen lehrt, daß er hier ist, um zu leiden, und nicht jener anderen Philosophie, die im Gegentheil zum Menschen sagt: Genieße!“ Herr Thiers formulirte damit die Moral der Bourgeoisie, deren brutaler Egoismus und deren engherzige Denkart sich in ihm verkörperte.

Als das Bürgerthum noch gegen den von der Geistlichkeit unterstützten Adel ankämpfte, pflanzte es das Banner der freien Forschung und des Atheismus auf; kaum aber hatte es sein Ziel erreicht, so änderte es Ton und Haltung; und heute sehen wir es bemüht, seine ökonomische und politische Herrschaft auf die Religion zu stützen. Im 15. und 16. Jahrhundert hatte es fröhlich die Ueberlieferungen des Heidenthums aufgegriffen und das Fleisch und dessen Leidenschaften, diesen „Greuel“ in den Augen der christlichen Moral, verherrlicht; heute dagegen, wo es in Reichthum und Genüssen aller Art fast erstickt, will es von den Lehren seiner Denker, der Rabelais und Diderot, der Lessing und Goethe, nichts wissen und predigt den Lohnarbeitern die Lehre von der Enthaltsamkeit. Die kapitalistische Moral, eine jämmerliche Kopie der christlichen Moral, belegt das Fleisch des Arbeiters mit einem feierlichen Bannfluch: ihr Ideal besteht darin, die Bedürfnisse des Produzenten (d. h. des wirklich Produzirenden) auf das geringste Minimum zu reduziren, seine Genüsse und seine Leidenschaften zu ersticken und ihn zur Rolle einer Maschine zu verurtheilen, aus der man ohne Rast und ohne Dank Arbeit nach Belieben herausschindet.

Die revolutionären Sozialisten sind somit vor die Aufgabe gestellt, den Kampf, den einst die Philosophen und Satiriker des Bürgerthums gekämpft, wieder aufzunehmen; sie haben wider die Moral und die Soziallehren des Kapitalismus Sturm zu laufen und in den Köpfen der zur Aktion berufenen Klasse die Vorurtheile auszurotten, welche die [6] herrschende Klasse gesäet hat; sie haben allen Moralitätsheuchlern gegenüber zu verkünden, daß die Erde aufhören wird, das Thal der Thränen für die Arbeiter zu sein, daß in der kommunistischen Gesellschaft, die wir errichten werden – „wenn es geht, friedlich, wenn nicht, mit Gewalt“ –, die menschlichen Leidenschaften freien Spielraum haben werden, da alle, wie bereits Descartes sagte, „von Natur aus gut sind, wir nur ihren falschen und übermäßigen Gebrauch zu vermeiden haben.“ Und das wird nur durch das freie Gegenspiel der Leidenschaften und die harmonische Entwicklung des menschlichen Organismus erreicht, „denn“, sagt Dr. Beddoe[1], „erst wenn eine Rasse das Maximum ihrer physischen Entwicklung erreicht, erreicht sie auch den höchsten Grad von moralischer Kraft und Energie.“ Das war auch die Meinung des großen Naturforschers Charles Darwin.[2]



[7]
Das Recht auf Faulheit.
(Widerlegung des „Rechtes auf Arbeit“ von 1848.)




I.
Ein verderbliches Dogma.

Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht, eine Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschende Einzel- und Massenelend zur Folge hat. Es ist dies die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht. Statt gegen diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Oekonomen und die Moralisten die Arbeit heiliggesprochen. Blinde und beschränkte Menschen, haben sie weiser sein wollen als ihr Gott; schwache und unwürdige Geschöpfe, haben sie das, was ihr Gott verflucht hat, wiederum zu Ehren zu bringen gesucht. Ich, der ich weder Christ, noch Oekonom, noch Moralist zu sein behaupte, ich appellire von ihrem Spruch an den ihres Gottes, von den Vorschriften ihrer religiösen, ökonomischen oder freidenkerischen Moral an die schauerlichen Konsequenzen der Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft.

In der kapitalistischen Gesellschaft ist die Arbeit die Ursache des geistigen Verkommens und körperlicher Verunstaltung. Man vergleiche die von einer ganzen Schaar zweihändiger Knechte bedienten Vollblutpferde in den Ställen eines Rothschild oder Hohenlohe mit den schwerfälligen normannischen oder pommerischen Gäulen, welche das Land beackern, den Mistwagen ziehen und die Ernte einfahren müssen! Man betrachte den stolzen Wilden, wenn ihn die Missionäre des Handels und die Handlungsreisenden in Glaubensartikeln noch nicht durch Christenthum, Syphilis und das Dogma von der Arbeit korrumpirt haben, und dann vergleiche man mit ihnen unsere abgerackerten Maschinensklaven![3]

[8] Will man in unserem zivilisirtem Europa noch eine Spur der ursprünglichen Schönheit des Menschen finden, so muß man zu den Nationen gehen, bei denen das ökonomische Vorurtheil den Haß wider die Arbeit noch nicht ausgerottet hat. Spanien, das jetzt allerdings auch aus der Art schlägt, darf sich noch rühmen, weniger Fabriken zu besitzen, als wir Gefängnisse und Kasernen; aber des Künstlers Auge weilt bewundernd auf dem kühnen, kastanienbraunen, gleich Stahl elastischen Andalusier; und unser Herz schlägt höher, wenn wir den in seiner durchlöcherten „Capa“ majestätisch drapirten Bettler einen Herzog von Ossuna mit „amigo“ (Freund) traktiren hören. Für den Spanier, in dem das ursprüngliche Thier noch nicht ertödtet ist, ist die Arbeit die schlimmste Sklaverei. Auch die Griechen hatten in der Zeit ihrer höchsten Blüthe nur Verachtung für die Arbeit; den Sklaven allein war es gestattet, zu arbeiten, der freie Mann kannte nur körperliche Uebungen und Spiele des Geistes. Das war die Zeit eines Aristoteles, eines Phidias, eines Aristophanes, die Zeit, da eine Handvoll Tapferer die Horden Asiens bei Marathon vernichtete, welches Alexander bald darauf eroberte. Die Philosophen des Alterthums lehrten die Verachtung [9] der Arbeit, dieser Herabwürdigung des freien Mannes: die Dichter besangen die Faulheit, dieses Geschenk der Götter:

O Melibäus, ein Gott schenkte uns diesen Müssiggang!

singt Virgil. Christus lehrt in der Bergpredigt die Faulheit: „Sehet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen; sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht, und doch sage ich Euch, daß Salomo in all’ seiner Pracht nicht herrlicher gekleidet war.“ (Mathäi 6, 28 und 29.) Jehovah, der bärtige und sauertöpfische Gott, gibt seinen Verehrern das erhabenste Beispiel idealer Faulheit: nach sechs Tagen Arbeit ruht er auf alle Ewigkeit aus.

Welches sind dagegen die Rassen, denen die Arbeit ein organisches Bedürfniß ist? Die Auvergnaten in Frankreich; die Schotten, diese Auvergnaten der brittischen Inseln; die „Gallegos“ (Galizier) diese Auvergnaten Spaniens; die Oberschlesier, diese Auvergnaten Deutschlands, die Chinesen, diese Auvergnaten Asiens. Welches sind in unserer Gesellschaft die Klassen, welche die Arbeit um der Arbeit willen lieben? Die Kleinbauern und Kleinbürger, welche, die einen auf ihren Acker gebückt, die andern in ihren Boutiken vergraben, dem Maulwurf gleichen, der in seiner Höhle herumwühlt, und sich nie aufrichten, um mit Muße die Natur zu betrachten.

Und auch das Proletariat, die große Klasse der Produzenten aller zivilisirten Nationen, die Klasse, die durch ihre Emanzipation die Menschheit von der knechtischen Arbeit erlösen und aus dem menschlichen Thier ein freies Wesen machen wird, auch das Proletariat hat sich, seinen historischen Beruf verkennend, von dem Dogma der Arbeit verführen lassen. Hart und schrecklich war seine Züchtigung. Alles individuelle und soziale Elend entstammt seiner Leidenschaft für die Arbeit.




II.
Der „Segen“ der Arbeit.

Im Jahre 1770 erschien in London eine anonyme Schrift, betitelt: „An essay on trade and commerce“ (Ein Essai über Industrie und Handel), die zu ihrer Zeit ein gewisses Aufsehen machte. Ihr Verfasser, ein großer Philanthrop, erboste sich darüber, daß „der englische Manufakturpöbel es sich in den Kopf gesetzt, daß ihm als Engländer durch das Recht der Geburt das Privilegium zukommt, freier und unabhängiger zu sein als das Arbeitervolk in irgend einem Lande von Europa.“ Nun, fährt der Biedermann fort, „diese Idee, soweit sie auf die Tapferkeit unserer Soldaten einwirkt, mag von einigem Nutzen sein; aber je weniger die Manufakturarbeiter davon haben, desto besser für sie selbst und für den Staat. Arbeiter sollten sich nie für unabhängig von ihren Vorgesetzten halten. ... Es ist außerordentlich gefährlich, Mobs in einem kommerziellen Staat wie dem unserigen zu ermuthigen, wo vielleicht sieben [10] Theile von der Gesammtbevölkerung Leute mit wenig oder keinem Eigenthum sind. ... Die Kur wird nicht vollständig sein, bis unsere industriellen Armen sich bescheiden, 6 Tage für dieselbe Summe zu arbeiten, die sie jetzt in 4 Tagen verdienen.“

So predigte man bereits hundert Jahre vor Guizot die Arbeit als einen Zügel für die edleren menschlichen Leidenschaften. „Je mehr meine Völker arbeiten, um so weniger Laster wird es geben“, schrieb Napoleon am 5. Mai 1807 aus Osterode. (Begeisterte ihn die Lage der dortigen Landsklaven zu seinem Ausspruch?). „Ich bin die Autorität, ... und ich wäre geneigt zu verfügen, daß Sonntags nach vollzogenem Gottesdienst die Geschäfte wieder geöffnet werden und die Arbeiter wieder ihrer Beschäftigung nachgehen sollen.“ - Um die Faulheit auszurotten und um den Stolz und Unabhängigkeitssinn zu beugen, schlug der Verfasser des „Essais über Industrie etc.“ vor, die Armen in „ideale Arbeitshäuser“ (ideal workhouses) einzusperren, die Häuser des Schreckens sein müßten, in denen man 14 Stunden pro Tag in der Weise arbeiten solle, daß nach Abzug der Mahlzeiten volle 12 Arbeitsstunden übrig bleiben.

12 Arbeitsstunden pro Tag, das Ideal der Philanthropen und Moralisten des 18. Jahrhunderts! Wie weit sind wir über dieses non plus ultra hinaus! Die modernen Werkstätten sind ideale Zuchthäuser geworden, in welche man die Arbeitermassen einsperrt, und in denen man nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen und Kinder zu zwölf- und vierzehnstündiger Zwangsarbeit verdammt.[4]

Und die Nachkommen der Schreckenshelden haben sich durch die Religion der Arbeit so weit degradiren lassen, daß sie 1848 das Gesetz, welches die Arbeit in den Fabriken auf 12 Stunden täglich beschränkte, als eine revolutionäre Errungenschaft entgegennahmen; sie proklamirten das Recht auf Arbeit als ein revolutionäres Prinzip. Schande über das französische Proletariat! Sklaven nur sind einer solchen Erniedrigung fähig. 20 Jahre kapitalistischer Zivilisation müßte man aufwenden, um einem Griechen des Alterthums eine solche Entwürdigung begreiflich zu[ws 1] machen!

Und wenn die Leiden der Zwangsarbeit über das Proletariat hereingebrochen sind, zahlreicher wie die Heuschrecken der Bibel, so ist es dieses selbst gewesen, das sie heraufbeschworen.

Dieselbe Arbeit, welche die Proletarier 1848 mit den Waffen in der [11] Hand forderten, haben sie ihrer Familie auferlegt; sie haben ihre Frauen, ihre Kinder den Fabrikbaronen ausgeliefert. Mit eigener Hand haben sie ihre häuslichen Herde zerstört, mit eigener Hand die Brüste ihrer Frauen trocken gelegt. Schwangere und stillende Frauen ließen sie in die Fabriken, in die Bergwerke gehen, wo dieselben ihre Nerven zerrütteten, ihr Rückgrat marterten; mit eigener Hand haben sie das Leben und die Lebenskraft ihrer Kinder untergraben. – Schande über Euch, Proletarier! Wo sind jene Fraubasen hin mit keckem Mundwerk, frischem Humor und der Liebe zum göttlichen Wein, von denen unsere alten Märchen und Erzählungen berichten? Wo sind die Uebermüthigen hin, die stets kochend, stets herumtrippelnd, Leben säend, wenn sie sich dem Genusse hingaben, ohne Schmerzen gesunde und kräftige Junge zur Welt brachten! Heute haben wir Frauen und Mädchen aus der Fabrik, verkümmerte Blumen mit blassem Teint, mit Blut ohne Röthe, mit krankem Magen und erschöpften Gliedmaßen. Ein gesundes Vergnügen ist ihnen unbekannt. Und die Kinder? 12 Stunden Arbeit für die Kinder! O Elend! Alle Jules Simon von der Akademie der moralischen Wissenschaften, alle tugendhaften Stöcker von der Geistlichkeit, hätten kein den Geist der Kinder mehr verdummendes, ihr Gemüth mehr verderbendes, ihren Organismus mehr zerrüttendes Laster ersinnen können, als die Arbeit in der verpesteten Atmosphäre der kapitalistischen Werkstätten!

Unser Jahrhundert wird das Jahrhundert der Arbeit genannt; thatsächlich ist es das Jahrhundert der Schmerzen, des Elends und der Korruption.

Und doch haben die bürgerlichen Oekonomen und Philosophen, von dem langweilig konfusen August Comte bis zum lächerlich klaren Leroy-Beaulieu, die bürgerlichen Schriftsteller, von dem charlatanhaft romantischen Viktor Hugo bis zum naiv albernen Paul de Kock, sammt und sonders ekelerregende Loblieder auf den Gott Fortschritt, den ältesten Sohn der Arbeit, angestimmt. Hört man sie, so meint man, das Glück müsse auf Erden herrschen, so fühlt man schon seine Nähe. Sie durchwanderten die Jahrhunderte der früheren Zeiten, den Staub und das Elend des Feudalismus zu durchwühlen und die Sonne der Gegenwart desto heller erstrahlen zu lassen. Wie sie uns gelangweilt haben, diese Gesättigten – jüngst noch Mitglieder der Dienerschaft der großen Herren, heute fett besoldete Preßknechte der Bourgeoisie – mit ihrem Landmann des Schönredners La Bruyère! Nun, wir wollen ihnen das glänzende Bild der proletarischen Genüsse im Fortschrittsjahre 1840 zeigen, wie es von einem der ihrigen geschildert wird, dem Akademiker de Villermé, der 1848 zu jenem Kreis von Gelehrten gehörte, die den Massen die Plattheiten der bürgerlichen Moral und der bürgerlichen Oekonomie beizubringen suchten.

Es ist das industrielle Elsaß, von dem Herr Villermé spricht, das Elsaß der Kästner und Dollfuß, dieser Blüthen der Philanthropie und des bürgerlichen Republikanismus. Ehe wir ihm das Wort geben, wollen wir erst hören, wie ein elsässischer Manufakturist, Herr Th. Mieg vom Hause Dollfuß, Mieg u. Cie., die Lage des Handwerkers unter dem früheren Industriesystem beschreibt:

„Vor 50 Jahren (1813) als die moderne Maschinenindustrie im Entstehen begriffen war, waren in Mülhausen alle Arbeiter Kinder des [12] Landes, sie bewohnten die Stadt und die umliegenden Dörfer und hatten fast jeder ein Häuschen und oft ein Stückchen Land.“[5]

Das war das goldene Zeitalter des Arbeiters. Indeß damals hatte die elsässer Industrie noch nicht die Welt mit ihren Kattunen überschwemmt und ihre Dollfuß und Köchlin noch nicht zu Millionären gemacht. Aber 25 Jahre nachher, als Dr. Villermé das Elsaß besuchte, hatte der moderne Minotauros, die kapitalistische Fabrik, bereits das Land erobert; in seinem Heißhunger nach menschlicher Arbeit hatte er die Arbeiter aus ihrem Heim gerissen, um sie besser zu schinden, ihnen besser die Arbeit, die sie enthielten, auspressen zu können. Zu Tausenden liefen die Arbeiter dem Pfeifen der Maschine nach. „Eine große Zahl, sagt Villermé, fünftausend von siebzehntausend, waren infolge der theueren Miethen gezwungen, in den Nachbardörfern Wohnung zu nehmen. Einige wohnten 2 Stunden, ja sogar 21/4 Stunden weit von der Fabrik entfernt, wo sie arbeiteten.“

„In Mülhausen, in Dornach begann die Arbeit um fünf Uhr Morgens und endete um acht Uhr Abends, Sommer und Winter. ... Man muß sie jeden Morgen in die Stadt kommen und jeden Abend abmarschiren sehen! Es gibt unter ihnen eine Menge bleicher, magerer Frauen, die barfüßig durch den Koth laufen und, wenn es regnet oder schneit, Mangels eines Regenschirms, ihre Schürzen oder Unterröcke über den Kopf ziehen, um Hals und Gesicht zu schützen; und eine noch erheblichere Zahl nicht minder schmutziger und abgezehrter junger Kinder, in Lumpen gehüllt, die ganz fett sind von dem Oel, das aus den Maschinen auf sie herabtropft, wenn sie arbeiten. Diese Kinder, welche die Undurchdringlichkeit ihrer Bekleidung besser vor dem Regen schützt, haben nicht einmal wie die Frauen einen Korb mit Lebensmitteln für den Tag im Arm, sondern sie tragen in der Hand oder verstecken unter ihrem Kittel oder wo sie sonst können, das Stück Brod, von dem sie leben müssen, bis sie wieder nach Hause kehren.

„So gesellt sich zu der Ermüdung durch einen übermäßig langen – denn er beträgt mindestens 15 Stunden – Arbeitstag für diese Unglücklichen noch die durch die langen, oft so beschwerlichen Wege. Infolgedessen kommen sie übermüdet nach Hause und gehen Morgens, noch ehe sie ordentlich ausgeschlafen, fort, um pünktlich da zu sein, wenn die Fabrik geöffnet wird.

Und über die Quartiere, in denen Diejenigen sich einpferchen mußten, die in der Stadt wohnten: „Ich habe in Mülhausen, in Dornach und den umliegenden Häusern jene elenden Zimmer gesehen, in denen zwei Familien schliefen, jede in einem Winkel auf Stroh, welches auf dem Fußboden ausgebreitet lag und nur durch zwei Bretter zusammengehalten wurde. ... Das Elend, in welchem die Arbeiter der Baumwollindustrie im Departement Oberrhein leben, ist so groß, daß während in den Familien der Fabrikanten, Kaufleute, Werkdirektoren etc. 50 Prozent der Kinder das 21. Jahr erreichen, derselbe Prozentsatz in den Familien der [13] Weberei- und Spinnereiarbeiter bereits vor vollendetem zweiten Jahre stirbt. ...“

Ueber die Arbeit in den Werkstätten sagt Villermé: „Es ist keine Arbeit, kein Tagewerk, es ist eine Tortur, und man halst dieselbe Kindern von 6 bis 8 Jahren auf. ... Diese lange tägliche Qual ist es hauptsächlich, welche die Arbeiter in den Baumwollspinnereien entkräftet.“ Und mit Bezug auf die Arbeitsdauer bemerkt Villermé, daß die Sträflinge in den Bagnos nur 10 Stunden, die Sklaven auf den Antillen nur 9 Stunden durchschnittlich arbeiteten, während in Frankreich, das die Revolution von 1789 gemacht, das die pomphaften Menschenrechte proklamirt hat, „es Manufakturen gibt, wo der Arbeitstag 16 Stunden beträgt, von denen den Arbeitern nur 11/2 Stunden Eßpausen bewilligt werden.“[6]

O über diese jämmerliche Fehlgeburt der revolutionären Prinzipien der Bourgeoisie, über die kläglichen Geschenke ihres Götzen Fortschritt! Die Philanthropen nennen Diejenigen, die, um sich zu bereichern, Fabriken errichten und Arbeiter für sich arbeiten lassen, Wohlthäter der Menschheit – es wäre besser, man vergiftete die Brunnen, man säete die Pest, als inmitten einer ländlichen Bevölkerung kapitalistische Fabriken zu errichten. Wo diese erst ihren Einzug gehalten, da heißt es: Adieu Freude, Gesundheit, Freiheit – adieu alles, was das Leben schön, was es werth macht, gelebt zu werden.

Die Nationalökonomen werden nicht müde, den Arbeitern zuzurufen: Arbeitet, arbeitet, damit der Nationalreichthum wachse! und doch war es einer der ihrigen, Destutt de Tracy, der da sagte: „Die armen Nationen sind es, wo das Volk sich wohlbefindet, bei den reichen Nationen ist es gewöhnlich arm“; und sein Schüler Cherbulliez setzt hinzu: „Indem die Arbeiter zur Anhäufung produktiver Kapitalien mitwirken, fördern sie selbst den Faktor, der sie früher oder später eines Theils ihres Lohnes berauben wird.“ Aber von ihrem eigenen Gekrächz betäubt und versimpelt, erwidern die Oekonomen: Arbeitet, arbeitet, um eurer Wohlfahrt willen! Und im Namen der christlichen Milde predigt ein Pfaffe der anglikanischen Kirche, Towsend – er könnte auch Stöcker heißen – : Arbeitet, arbeitet Tag und Nacht: indem ihr arbeitet, vermehrt ihr eure Leiden, und euer Elend enthebt uns der Aufgabe, euch gesetzlich zur Arbeit zu zwingen. Der gesetzliche Arbeitszwang macht „zuviel Mühe, fordert zuviel Gewalt und erregt zu viel Aufregung; der Hunger ist dagegen nicht nur ein friedlicher, geräuschloser, unermüdlicher Antreiber zur Arbeit, er bewirkt auch, als die natürlichste [14] Veranlassung zur Arbeit und gewerblichen Thätigkeit, die gewaltigste Anstrengung.“

Arbeitet, arbeitet, Proletarier, vermehrt den Nationalreichthum und damit euer persönliches Elend. Arbeitet, um, immer ärmer geworden, noch mehr Ursache zu haben, zu arbeiten und elend zu sein. Das ist das unerbittliche Gesetz der kapitalistischen Produktion.

Dadurch, daß die Arbeiter den trügerischen Redensarten der Oekonomen Glauben schenken und Leib und Seele dem Dämon Arbeit verschreiben, tragen sie selbst zu jenen industriellen Krisen bei, wo die Ueberproduktion den gesellschaftlichen Organismus in krampfhafte Zuckungen versetzt. Dann werden wegen Ueberfluß an Waaren und Mangel an Abnehmern die Fabriken geschlossen, und mit tausendsträhniger Geißel peitscht der Hunger die Arbeiterbevölkerung. Bethört von dem Dogma von der Arbeit sehen die Proletarier nicht ein, daß die Mehrarbeit, der sie sich in der angeblich guten Geschäftszeit unterzogen haben, die Ursache ihres jetzigen Elends ist, und anstatt vor die Getreidespeicher zu marschiren und zu erklären: „Wir haben Hunger, wir wollen essen! .. Allerdings haben wir keinen rothen Heller, aber ob wir auch Habenichtse sind, wir sind es gewesen, die das Korn eingebracht haben“ – – – anstatt die Lagerhäuser der Heimendahl, der Dannenberg, der Reichenheim u. s. w. zu belagern und zu rufen: Hier, ihr Herren, sind eure Hasplerinnen, Zwirnerinnen, Spinnerinnen und Weberinnen, sie zittern vor Kälte in ihren gestickten Kattunlappen, daß ein Jude darüber Thränen vergießen könnte, und doch sind sie es, welche die seidenen Roben der Maitressen der gesammten Christenheit gesponnen und gewebt haben. Die Aermsten konnten bei dreizehnstündiger Arbeit nicht an ihre Toilette denken, jetzt müssen sie feiern und haben daher Zeit, in der Seide, die sie verfertigt, selbst einherzurauschen. Seit sie die ersten Zähne gewechselt, haben sie für Euch Reichthümer geschaffen und selbst dabei gedarbt, jetzt haben sie Pause und wollen daher auch ein wenig von den Früchten ihrer Arbeit genießen. Hierher, Herr Herzog, Ihre Seidenwaaren her: Herr Dannenberg wird seine Mousseline auspacken, Herr Lehmann seine Phantasieartikel, Herr Rosenfeld seine schönen Stiefeletten für ihre kalten und feuchten Füßchen! – – Von Kopf bis zu den Füßen eingekleidet, und ausgelassen vor Freude, werden sie Euch einen Anblick gewähren, wie Ihr ihn nicht besser wünschen könnt. Nur keine Ausflucht, – Ihr seid ja doch Christen und Menschenfreunde wie sie im Buche stehen? Stellt Euren Arbeiterinnen die Vermögen zur Verfügung, die sie für Euch an ihrem eigenen Leibe abgedarbt haben. Ihr seid Freunde des Handels? – Befördert den Waarenumsatz; hier habt ihr Konsumenten wie gerufen; eröffnet ihnen unbegrenzten Kredit. Ihr müßt dies ja gegenüber von Geschäftsleuten thun, die Ihr zeitlebens nicht gesehen, die Euch absolut nichts geschenkt haben, auch nicht einen Tropfen Wasser!

Statt in den Zeiten der Krisis eine Vertheilung der Produkte und allgemeine Erholung zu verlangen, rennen sich die Arbeiter vor den Thüren der Fabriken die Köpfe ein. Mit eingefallenen Wangen, abgemagertem Körper, überlaufen sie die Fabrikanten mit kläglichen Ansprachen: „Lieber Herr Stumm, bester Herr Berger, geben Sie uns doch Arbeit, es ist nicht der Hunger, der uns plagt, sondern nur die [15] Liebe zur Arbeit.“ Und kaum im Stande, sich aufrecht zu halten, verkaufen die Elenden 12–14 Stunden Arbeit um die Hälfte billiger als zur Zeit, wo sie noch Brod im Korbe hatten. Und die Herren industriellen Philanthropen benutzen die Arbeitslosigkeit, um noch billiger zu produziren.

Wenn die industriellen Krisen auf die Perioden der Ueberarbeit mit derselben Nothwendigkeit folgen, wie die Nacht dem Tage, und Zwangsstockungen bei grenzenlosem Elend nach sich ziehen, so bringen sie auch den unerbittlichen Bankrott mit sich. Solange der Fabrikant Kredit hat, läßt er der Arbeitswuth die Zügel schießen, er pumpt und pumpt, um den Arbeitern den Rohstoff zu liefern. Er läßt darauf los produziren, ohne zu bedenken, daß der Markt überfüllt wird und daß, wenn er seine Waaren nicht verkauft, er auch seine Wechsel nicht einlösen kann. Sitzt er endlich in der Patsche, so läuft er zum Geldjuden, fleht ihn an, wirft sich ihm zu Füßen, stellt ihm sein Blut, seine Ehre zur Verfügung. „Ein klein wenig Gold würde mir lieber sein“, antwortet ihm der Rothschild, „Sie haben 20,000 Paar Strümpfe auf Lager, zum Preise von 80 Pfg. das Paar; ich werde sie à 20 Pfennige in Zahlung nehmen.“ Ist der Handel gemacht, so verkauft der Biedermann zu 40 bis zu 50 Pfg. das Paar und steckt klingende Thaler, für die er keinem etwas schuldet, in die Tasche; der Fabrikant aber hat seinen Aufschub nur erlangt, um desto gründlicher zu verkrachen. Endlich tritt der allgemeine Zusammensturz ein, just in dem Moment, wo die Magazine bis an den Rand vollgepfropft sind; da werden dann soviel Waaren aus dem Fenster herausgeworfen, daß man gar nicht begreifen kann, wie sie zur Thür hereingekommen sind. Nach Hunderten von Millionen beziffert sich der Werth der zerstörten Waaren; im vorigen Jahrhundert verbrannte man sie oder warf sie in’s Wasser.[7]

Bevor sie sich aber zu dieser Maßregel entschließen, durchlaufen die Fabrikanten die Welt auf der Suche nach Absatzmärkten für die Waaren, die sie angehäuft; sie schreien nach Handelskolonien am Congo, sie verlangen die Eroberung Tonkins, sie zwingen ihre Regierung, die Mauern China’s zu zertrümmern, nur damit sie ihre Baumwollenartikel absetzen können. In den letzten Jahrhunderten kämpften England und Frankreich ein Duell auf Leben und Tod, wer von beiden das ausschließliche Privileg haben werde, in Amerika und Indien zu verkaufen. Tausende junger kräftiger Männer haben in den Kolonialkriegen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts mit ihrem Blut das Meer färben müssen.

Wie an Waaren, so herrscht auch Ueberfluß an Kapitalien – natürlich nicht für diejenigen, die sie brauchen. Die Finanzleute wissen nicht mehr, wo dieselben unterbringen, und so machen sie sich denn auf, bei jenen glücklichen Völkern, die noch Zigarretten rauchend in der Sonne liegen, Eisenbahnen zu legen, Fabriken zu bauen, den Fluch der Arbeit einzuführen. Und dieser Kapitalexport endet eines schönen Tages mit diplomatischen Verwicklungen: in Egypten wären sich England und [16] Frankreich beinahe in die Haare gerathen, um sich zu vergewissern, wessen Wucherer zuerst bezahlt werden, und mit Kriegen à la Mexiko, wo man die französischen Soldaten hinschickte, die Rolle von Gerichtsvollziehern zur Eintreibung fauler Schulden zu spielen.[8]


III.
Was aus der Ueberproduktion folgt.

Bis hierher war meine Aufgabe leicht; ich hatte nur wirkliche, uns Allen leider nur zu gut bekannte Uebel zu schildern. Aber das Proletariat zu überzeugen, daß die Moral, die man ihm eingeimpft hat, verkehrt ist, daß die Arbeit ohne Maß und Ziel, der es sich seit Beginn des Jahrhunderts ergeben hat, die schrecklichste Geißel ist, welche je die Menschheit getroffen, daß die Arbeit erst dann eine Würze der Vergnügungen der Faulheit, eine dem menschlichen Organismus nützliche Uebung, eine dem gesellschaftlichen Organismus nützliche Leidenschaft sein wird, wenn sie vernünftig geregelt und auf ein den Gesellschaftsbedürfnissen entsprechendes Maximum beschränkt wird – das ist eine schwierige Aufgabe, die meine Kräfte übersteigt. Nur Physiologen, Hygieniker und kommunistische Oekonomen können sie unternehmen. In den nachfolgenden Zeilen werde ich mich auf den Nachweis beschränken, daß Angesichts der modernen Produktionsmittel und ihrer ungeheuren Vervielfältigungsmöglichkeit, der übertriebenen Arbeit ein Dämpfer aufgesetzt und es den Arbeitern zur Pflicht gemacht werden muß, die Waaren, die sie produziren, auch zu verbrauchen.

Ein griechischer Dichter aus der Zeit Cicero’s, Antiparos, besang die Erfindung der Wassermühle (zum Mahlen des Getreides) als Befreierin [17] der Sklavinnen und Herstellung des goldenen Zeitalters mit folgenden Worten:

„Schonet der mahlenden Hand, o Müllerinnen, und schlafet
Sanft! Es verkünde der Hahn euch den Morgen umsonst!
Däo hat die Arbeit der Mädchen den Nymphen befohlen,
Und jetzt hüpfen sie leicht über die Räder dahin,
Daß die erschütterten Achsen mit ihren Speichern sich wälzen,
Und im Kreise die Last drehen des wälzenden Steins.
Laßt uns leben das Leben der Väter, und laßt uns der Gaben
Arbeitslos uns freu’n, welche die Göttin uns schenkt.“

Ach, die Zeit der Muße, die der heidnische Dichter verkündete, ist nicht eingetroffen; die blinde, wahnsinnige und menschenmörderische Arbeitssucht hat die Maschine aus einem Befreiungsinstrument in ein Instrument zur Knechtung freier Menschen umgewandelt: die Produktionskraft der Maschine ist die Ursache der Verarmung der Massen geworden.

Eine gute Arbeiterin verfertigt auf dem Handklöppel fünf Maschen in der Minute, gewisse Klöppelmaschinen fertigen in derselben Zeit dreißigtausend Maschen an. Jede Minute der Maschine ist somit gleich hundert Arbeitsstunden der Arbeiterin, oder vielmehr, jede Minute Maschinenarbeit ermöglicht der Arbeiterin zehn Tage Ruhe. Was für die Spitzenindustrie gilt, trifft mehr oder minder für alle durch die moderne Mechanik umgestalteten Industrien zu. Was sehen wir aber? Je mehr sich die Maschine vervollkommnet und mit beständig verbesserter Schnelligkeit und Sicherheit die menschliche Arbeit verdrängt, verdoppelt der Arbeiter, anstatt seine Ruhe entsprechend zu vermehren, noch seine Anstrengung, als wollte er mit den Maschinen wetteifern. O thörichte und verderbliche Konkurrenz!

Um der Konkurrenz zwischen Mensch und Maschine freien Lauf zu verschaffen, wurden die Gesetze, welche die Arbeit der Handwerker der alten Zünfte beschränkten, abgeschafft, die Feiertage unterdrückt.[9]

[18] Meint man aber, daß die Arbeiter, weil sie damals von sieben Tagen der Woche nur fünf arbeiteten, nur von Luft und Wasser gelebt hätten, wie die verlogenen Nationalökonomen uns vorerzählen? Geht doch! Sie hatten Mußezeit, um die irdischen Freuden zu kosten, um der Liebe zu pflegen und Possen zu treiben, und vergnügt zu Ehren des großen Gottes der Nichtsthuerei Tafel zu halten. Das grämliche, in dem Protestantismus verheuchelte England hieß damals das „lustige England“ (merry England). Rabelais, Quevedo, Cervantes, die unbekannten Verfasser der pikarischen (Schelmen-) Romane, machen uns das Wasser im Munde zusammenlaufen mit ihren Schilderungen jener monumentalen Schmausereien, mit denen man sich damals regalirte und in denen „nichts gespart ward“.[10] Jordaens und die niederländische Malerschule haben sie uns auf ihren lebenslustigen Gemälden dargestellt. Erhabene Riesenmägen, was ist aus Euch geworden? Erhabene Geister, die ihr den ganzen menschlichen Gedanken umfaßtet, wo seid ihr hin? Wir sind durch und durch entartet und verzwergt. Perlsüchtige Kühe, die Kartoffel, Fuchsinwein, Bier aus Herbstzeitlose und der preußische Schnaps haben in weiser Verbindung mit Zwangsarbeit unsere Körper erschlafft und unsern Geist schwerfällig gemacht. Und zur selben Zeit, wo die Menschen ihren Magen zusammenschnüren und die Produktivität der Maschine von Tag zu Tag wächst, wollen uns die Oekonomen die Malthus’sche Theorie, die Religion der Enthaltsamkeit und das Dogma von der Arbeit predigen? Man sollte ihnen lieber die Zunge ausreißen und den Hunden vorwerfen.

Da jedoch die Arbeiterklasse in ihrer Einfalt und Treuherzigkeit sich den Kopf hat verdrehen lassen und mit angeborenem Ungestüm blindlings auf die Devise „Arbeit und Enthaltsamkeit“ hineingefallen ist, so sieht sich die Kapitalistenklasse zu erzwungener Faulheit und Ueppigkeit, zur Unproduktivität und Ueberkonsumtion verurtheilt. Und wenn die Ueberarbeit des Proletariers seinen Körper abrackert und seine Nerven zerrüttet, so ist sie für den Bourgeois nicht minder fruchtbar an Leiden.

Die Enthaltsamkeit, zu welcher sich die produktive Klasse hat verurtheilen lassen, macht es der Bourgeoisie zur Pflicht, sich der Ueberkonsumtion [19] der von dieser in Ueberzahl verfertigten Produkte zu weihen. Zu Anfang der kapitalistischen Produktion, vor etwa ein oder zwei Jahrhunderten, war der Bourgeois noch ein ehrsamer Mann von gesetzten und friedlichen Sitten: er begnügte sich mit seiner Frau, wenigstens beinahe, er trank nur, wenn er Durst, und aß nur, wenn er Hunger hatte. Er überließ den Höflingen und Hofdamen die noblen Passionen der Ausschweifung. Heute gibt es keinen Bourgeois, der sich nicht mit Trüffelkapaunen und Chateau Lafitte anmästet, um die Geflügelzucht und den Weinbau zu fördern; keinen Sohn eines Emporkömmlings, der sich nicht für verpflichtet hielte, die Prostitution zu vermehren und seinen Körper zu verquecksilbern, nur damit die todtbringende Arbeit in den Quecksilbergruben doch einen Zweck habe. Bei diesem Geschäft geht der Körper schnell zu Grunde, die Haare werden dünner, die Zähne fallen aus, der Bauch schwillt an, die Brust wird asthmatisch, die Bewegungen werden schwerfälliger, die Gelenke steif, die Glieder gichtig. Andere, die zu schwach sind, um die Anstrengungen der Ausschweifung zu ertragen, aber mit der gehörigen Dosis philisterhafter Klugmeierei ausgestattet, dörren ihr Gehirn aus, wie Herr Lazar von Hellenbach, der „Mann ohne Vorurtheil“, und hecken dickbändige, schlafsuchterregende Bücher, um Schriftsetzern und Buchdruckern Beschäftigung zu geben.

Die Frauen der vornehmen Welt führen das Leben einer Märtyrerin. Um die feenhaften Garderoben, bei deren Herstellung die Schneiderinnen sich die Schwindsucht an den Hals arbeiten, zu prüfen und zur Geltung zu bringen, schlüpfen sie den ganzen Tag von einer Robe in die andere; stundenlang stellen sie ihren Kopf Haarkünstlern zur Verfügung, die ihnen für schweres Geld die unmöglichsten Frisuren herrichten müssen. Eingeschnürt in ihren Korsets, die Füße in enge Stiefeletten gezwängt, den Busen in einer Weise entblößt, daß ein Gardelieutenant darüber roth werden könnte, drehen sie sich ganze Nächte hindurch auf ihren Wohlthätigkeitsbällen herum, um einige Mark für die Armen zusammenzubringen. O, ihr heiligen Dulderinnen!

Um ihrem doppelten gesellschaftlichen Beruf als Nichtproduzent und Ueberkonsument nachzukommen, hat die Bourgeoisie nicht nur ihren bescheidenen Bedürfnissen Zwang anthun, die ihr seit zwei Jahrhunderten zur Gewohnheit gewordene Arbeitsamkeit sich abgewöhnen und sich einem zügellosen Luxus, der Anstopfung mit Trüffeln, sowie syphilitischen Ausschweifungen ergeben gemußt, sie mußte auch eine enorme Masse Menschen der produktiven Arbeit entziehen, um sich Mitesser zu verschaffen.

Einige Zahlen mögen beweisen, wie kolossal diese Brachlegung von Produktionskräften ist. „Nach dem Zensus von 1861 zählte die Gesammtbevölkerung von England und Wales 20,066,244 Personen, wovon 9,776,259 männliche und 10,289,965 weibliche. Zieht man hiervon ab, was zu alt oder zu jung zur Arbeit, alle „unproduktiven“ Weiber, jungen Personen und Kinder, dann die „ideologischen“ Stände, wie Regierung, Pfaffen, Juristen, Militär u. s. w., ferner Alle, deren ausschließliches Geschäft der Verzehr fremder Arbeit in der Form von Grundrente, Zins u. s. w., endlich Arme, Vagabunden, Verbrecher u. s. w., so bleiben in runder Zahl 8 Millionen beiderlei Geschlechts und der verschiedenen Altersstufen, mit Einschluß sämmtlicher in der Produktion, [20] dem Handel, der Finanz u. s. w. funktionirenden Kapitalisten. Von diesen 8 Millionen kommen u. A. auf:

  Personen
Ackerbauarbeiter (mit Einschluß der Hirten und bei Pächtern wohnenden Ackersknechte und Mägde) 1,098,261
Alle in Baumwoll-, Woll-, Worsted-, Flachs-, Hanf-, Seide- und Jutefabriken und in der mechanischen Strumpfwirkerei und Spitzenfabrikation beschäftigten 642,607
Alle in Kohlen- und Metallbergwerken Beschäftigten 565,835
In sämmtlichen Metallwerken (Hochöfen, Walzwerke etc.) und Metallmanufakturen aller Art Beschäftigte 396,998
Dienende Klasse 1,208,648

Rechnen wir die in allen textilen Fabriken Beschäftigten zusammen mit dem Personal der Kohlen- und Metallbergwerke, so erhalten wir 1,208,442: rechnen wir sie zusammen mit dem Personal aller Metallwerke und Manufakturen, so ist die Gesammtzahl 1,039,605, beidemal kleiner als die Zahl der modernen Haussklaven. Welch erhebendes Resultat der kapitalistisch exploitirten (ausgebeuteten) Maschinerie!“[11] Zu dieser ganzen dienenden Klasse, deren Zahl den Höhegrad der kapitalistischen Zivilisation charakterisirt, müssen wir die zahlreiche Klasse der ausschließlich zur Befriedigung der kostspieligen und sinnlosen Bedürfnisse der reichen Klassen Thätigen hinzurechnen: Diamantenschleifer, Spitzenarbeiterinnen, Luxus-Stickerinnen, Galanteriearbeiter, Modeschneider etc. etc.

Trotz der Uebel, welche ihr aus demselben erwachsen, gewöhnte sich die Bourgeoisie bald an ihr Parasitenleben und sah mit Schrecken jeder Aenderung der Dinge entgegen. Angesichts der jammervollen Lebensweise, der sich die Arbeiterklasse resignirt unterwarf, und der organischen Verkümmerung, welche die unnatürliche Arbeitssucht zur Folge hat, steigerte sich noch ihr Widerwille gegen jede Auferlegung von Arbeitsleistungen und gegen jede Einschränkung ihrer Genüsse.

Und just zu dieser Zeit setzten es sich die Proletarier, ohne der Demoralisation, welche sich die Bourgeoisie als eine gesellschaftliche Pflicht auferlegt hatte, im Geringsten zu achten, in den Kopf, die Kapitalisten zwangsweise zur Arbeit anzuhalten. In ihrer Einfalt nahmen sie die Theorien der Oekonomen und Moralisten über die Arbeit für baare Münze und gürteten ihre Lenden, die Praxis derselben den Kapitalisten zur Pflicht zu machen. Das Proletariat proklamirte die Parole: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ Im Jahre 1831 erhob sich Lyon für „Blei oder Arbeit“; die Juniinsurgenten von 1848 forderten das „Recht auf Arbeit“ und die Föderirten vom März 1871 bezeichneten ihren Aufstand als die „Revolution der Arbeit“.

Auf diese barbarischen Angriffe wider alles bürgerliche Wohlleben und alle bürgerliche Faulheit konnten die Herren Kapitalisten nur mit gewaltsamer Unterdrückung antworten; aber wenn sie auch diese revolutionären Ausbrüche zu unterdrücken vermochten, so wissen sie doch, daß selbst in dem Meere des vergossenen Blutes die absurde Idee des Proletariats, den Müssiggängern und Satten Arbeit aufzuerlegen, nicht ertränkt [21] worden ist; und nur um dieses Unheil abzuwenden, umgeben sie sich mit Soldaten, mit Polizisten, Behörden und Kerkermeistern, die sämmtlich unproduktive Arbeiten verrichten müssen. Heute kann Niemand mehr über den Charakter der modernen Heere im Unklaren sein; sie sind nur deshalb „stehende“, um den „inneren Feind“ niederzuhalten. Ein Beispiel, gegen das es keinen Widerspruch gibt, ist Belgien, dieses Musterland des Kapitalismus. Seine Neutralität ist von den europäischen Mächten verbürgt, und trotzdem ist seine Armee, im Verhältniß zur Bevölkerungszahl, eine der stärksten. Ihre glorreichen Schlachtfelder aber sind die Ebenen des Borinage und von Charleroy: in dem Blute von unbewaffneten Bergleuten und Arbeitern pflegt der belgische Offizier seinen Degen zu „taufen“ und seine Epauletten zu fischen. Die europäischen Nationen haben keine Volks-, sondern Söldnerarmeen zum Schutz der Kapitalisten gegen das Volk, das dieselben zu zehnstündiger Gruben- oder Fabrikarbeit verdammen will.

Aber so groß dieses Heer von unnützen Mäulern, so unersättlich auch seine Gefräßigkeit ist, so genügt es noch immer nicht, um alle Waaren zu konsumiren, welche die durch das Dogma von der Arbeit verdummten Arbeiter erzeugen, ohne sie konsumiren zu wollen, ohne sich darum zu kümmern, ob sich überhaupt Leute finden, die sie konsumiren. Und so besteht, angesichts der doppelten Verrücktheit der Arbeiter: sich durch Ueberarbeit abzurackern und in Entbehrungen dahinzuleben, das große Problem der kapitalistischen Produktion nicht darin, Produzenten zu finden und die Kraft derselben zu erhöhen, sondern Konsumenten zu entdecken, ihren Appetit zu reizen oder ihnen solchen anzuerziehen.

Und da die europäischen Arbeiter, vor Hunger und Kälte zitternd, sich weigern, die Stoffe, die sie weben, selbst zu tragen, das Korn, das sie bauen, selbst zu verzehren, so sehen sich die armen Fabrikanten genöthigt, zu den Antipoden zu laufen und dort Leute zu suchen, welche die Erzeugnisse des Fleißes der europäischen Arbeiter brauchen können. Hunderte von Millionen und Milliarden an Werth sind es, welche Europa jährlich nach allen vier Enden der Welt für Völker exportiert, die nicht wissen, was sie damit anfangen sollen. Die erforschten Erdtheile sind ihnen nicht ausgedehnt genug, daher brauchen sie jungfräuliches Land. Die Fabrikanten Europas träumen Tag und Nacht von Afrika, vom Saharameer, von der Sudanbahn; mit gespannter Aufmerksamkeit folgen sie den Reisen der Stanley, der de Brazza, der Nachtigall, der Holub; offenen Mundes lauschen sie den wunderverheißenden Erzählungen dieser muthigen Forscher. Welch unbekannte Wunder verbirgt nicht dieser „dunkle Erdtheil“! Ganze Felder sind mit Elephantenzähnen besäet, ganze Flüsse von Palmöl fließen in einem dahin. Millionen von schwarzen Hintern, nackt wie Bismarcks Schädel, harren des europäischen Kattuns, um den Anstand des preußischen Schnapses und der englischen Bibel, um die Tugenden Zivilisation zu erlernen.

Aber alles Das reicht noch nicht aus: Die Bourgeois, die sich anmästen, die Dienstbotenklasse, die zahlreicher ist als die produktive Klasse, die wilden Völkerschaften, die man mit europäischen Waaren meuchelt[12][22] nichts, nichts vermag die Berge von Produkten zu erschöpfen, welche höher und gewaltiger als die Pyramiden Egyptens anschwellen: die Produktivität der europäischen Arbeiter trotzt allem Konsum, aller Verschleuderung. Die Fabrikanten wissen in ihrer Angst nicht mehr, wo den Kopf lassen, sie können nicht Rohstoffe genug auftreiben, um die wahnsinnige Arbeitssucht ihrer Arbeiter zu befriedigen. Gewisse Wollenfabrikanten kaufen schmutzige, halbverfaulte Wollenlappen ein und verfertigen daraus ein Tuch, das so lange vorhält wie Wahlversprechungen oder königliche Eide – in anderen Industrien geht es ähnlich zu: man fälscht die Produkte, um ihren Absatz zu erleichtern und ihre Existenzdauer zu verkürzen. Ignoranten zeihen unsere frommen Fabrikanten darob des Betruges, während sie in Wahrheit nur der Gedanke beseelt, den Arbeitern, die sich nicht dazu entschließen können, mit gekreuzten Armen sich ihres Lebens zu freuen, Arbeit zu geben. Diese Fälschungen, die einzig und allein humanitären Rücksichten entspringen, jedoch den Fabrikanten, die sie praktiziren, famose Profite eintragen, sind zwar für die Qualität der Waaren von verderblichster Wirkung, sind zwar eine unerschöpfliche Quelle von Vergeudung menschlicher Arbeit, aber sie kennzeichnen doch die geniale Philantropie unserer Bourgeois und die schreckliche Verkehrtheit der Arbeiter, die, um ihre lasterhafte Arbeitssucht zu befriedigen, die Herren Industriellen veranlassen, die Stimme ihres Gewissens zu ersticken und sogar die Gesetze der kaufmännischen Ehrbarkeit zu verletzen.

Und doch, trotz aller Ueberproduktion, trotz Waarenfälschung überfluthen die Arbeiter in immer wachsender Menge den Markt und rufen flehentlich: Arbeit! Arbeit! Ihre übergroße Zahl sollte sie veranlassen, ihre Leidenschaft zu zügeln – statt dessen treibt sie sie bis zur Raserei. Wo sich nur Aussicht auf Arbeit bietet, darauf stürzen sie sich. Sie arbeiten 12, 14 Stunden, um sich nur so recht abschinden zu können; und Tags darauf liegen sie wieder auf dem Pflaster und wissen nicht, wie ihre Arbeitssucht befriedigen.

Jahr für Jahr treten in den verschiedenen Industrien mit der Regelmäßigkeit der Jahreszeiten Stockungen ein; auf die für den Organismus mörderische Ueberarbeit folgt für drei bis sechs Monate absolute Ruhe, und – keine Arbeit, keine Bissen!

Wenn denn nun die Arbeitssucht in den Arbeitern eingewurzelt ist, wenn sie denn alle anderen natürlichen Instinkte erstickt, und wenn anderseits die – von der Gesellschaft erforderte Arbeitsmenge nothwendigerweise durch den Konsum und die Menge des Rohmaterials begrenzt ist, warum in sechs Monaten die Arbeit des ganzen Jahres verschlingen? Warum sie nicht lieber gleichmäßig auf die 12 Monate vertheilen, und jeden Arbeiter zwingen, sich das Jahr über täglich mit fünf oder sechs Stunden zu begnügen, anstatt sich während sechs Monaten mit täglich 12 Stunden den Magen zu verderben? Wenn ihnen ihr täglicher Arbeitsantheil gesichert ist, werden die Arbeiter nicht mehr mit einander eifersüchteln, sich nicht mehr die Arbeit aus der Hand und das Brod vom Mund wegreißen, dann


[23] werden sie, nicht mehr an Leib und Seele erschöpft, anfangen, die Tugenden der Faulheit zu üben.

Was die Arbeiter nicht einsehen wollen, haben sogar Industrielle im Interesse der kapitalistischen Ausbeutung selbst verlangt: eine gesetzliche Einschränkung der Arbeitszeit. Im Jahre 1860 erklärte der Fabrikant Bourcart von Gebweiller vor der gewerblichen Unterrichtskommission, daß „die Arbeit von 12 Stunden übermäßig ist und auf 11 Stunden reduzirt werden, daß Sonnabends die Arbeit um 2 Uhr aufhören sollte. Ich empfehle diese Maßregel, obwohl sie auf den ersten Blick drückend erscheint; wir haben sie in unseren Etablissements seit 4 Jahren versucht und stehen uns gut dabei; die Durchschnittsproduktion ist, anstatt zu fallen, gestiegen.“ – In seiner Abhandlung „die Maschinen“ zitirt Herr F. Passy folgenden Brief eines belgischen Industriellen, eines Herrn Ottevaere:

„Obwohl unsere Maschinen dieselben sind wie die der englischen Spinnereien, produziren sie doch nicht so viel als sie sollten, und als dieselben Maschinen in England produziren, trotzdem dort täglich zwei Stunden weniger gearbeitet wird. … Wir arbeiten zwei volle Stunden zu viel; ich bin überzeugt, daß wenn wir statt 13 Stunden nur 13 arbeiteten, wir ebensoviel und infolgedessen ökonomischer produziren.“

Anderseits konstatirt der liberale Oekonom, Herr P. Leroy-Beaulieu, daß „ein großer belgischer Manufakturist die Beobachtung gemacht hat, daß die Wochen, in welche ein Feiertag fällt, keine geringere Produktion aufweisen als die gewöhnlichen Wochen.“ („Die Arbeiterfrage im 19. Jahrhundert.“ Paris 1872.)

Was das durch die Moralisten versimpelte Volk nicht gewagt hat, hat eine aristokratische Regierung gewagt. Unbekümmert um die hochmoralischen und wirtschaftlichen Einwände der Oekonomen, die gleich Unglücksraben krächzten, daß die Fabrikarbeit um eine Stunde herabsetzen, den Ruin der englischen Industrie dekretiren hieße, hat die englische Regierung die zehnstündige Arbeitszeit gesetzlich eingeführt, und nach wie vor ist England das erste Industrieland der Welt.

Die große Erfahrung Englands liegt vor, die Erfahrungen intelligenter Kapitalisten liegen vor: sie beweisen unwiderleglich, daß, um die menschliche Produktion zu steigern, man die Arbeitszeit herabsetzen und die Zahl der Ruhetage vermehren muß, und das französische Volk sieht es immer noch nicht ein. (Das deutsche leider auch nicht!) Können die Arbeiter denn nicht begreifen, daß dadurch, daß sie sich mit Arbeit überbürden, sie ihre und ihrer Nachkommenschaft Kräfte erschöpfen, daß sie, abgenutzt, vorzeitig arbeitsunfähig werden, daß sie alle schönen Anlagen in sich ertödten, nur um der rasenden Arbeitssucht willen?

Ach, gleich Papageien plappern sie die Lektionen der Oekonomen nach: – „Arbeiten wir, arbeiten wir, um den Nationalreichthum zu vermehren!“ O ihr Idioten! Weil ihr zuviel arbeitet, entwickelt sich die industrielle Technik zu langsam. Laßt euer Geschrei und hört einen Oekonomen – es ist kein großes Licht, es ist nur Herr L. Reybaud: „Im Allgemeinen richtet sich die Revolution in den Arbeitsmethoden nach den Bedingungen der Handarbeit. Solange die Handarbeit billig ist, wendet man sie im Uebermaß an, wird sie theurer, so sucht man sie zu sparen.“[13] Um die Kapialisten [24] zu zwingen, ihre Maschinen von Holz und Eisen zu vervollkommnen, muß man die Löhne der Maschinen von Fleisch und Bein erhöhen und die Arbeitszeit derselben verringern. Beweise dafür? Man kann sie zu Hunderten erbringen. In der Spinnerei ward die „Selfacting Mule“ in Manchester erfunden und angewendet, weil die Spinner sich weigerten, solange zu arbeiten wie früher.

In Amerika bemächtigt sich die Maschine aller Zweige der Ackerbauproduktion, von der Butterfabrikation bis zum Getreidejäten. Warum? Weil die Amerikaner, frei und faul, lieber tausend Tode sterben als das Viehleben eines französischen Bauern zu führen. Die im glorreichen Frankreich so mühsame, mit so vielem Bücken verbundene Arbeit ist im Westen Amerikas ein angenehmer Zeitvertreib in freier Luft, den man sitzend genießt und dabei gemüthlich seine Pfeife raucht.




IV.
Ein neues Lied, ein besseres Lied!

Wenn die Herabsetzung der Arbeitszeit der gesellschaftlichen Produktion neue mechanische Kräfte zuführt, so wird die Verpflichtung der Arbeiter, ihre Produkte auch zu verzehren, eine enorme Vermehrung der Arbeitskräfte zur Folge haben. Die von ihrer Mission, Allerweltskonsument zu sein, erlöste Bourgeoisie wird nämlich schleunigst die Menge von Soldaten, Beamten, Kupplern etc., die sie der nützlichen Arbeit entzogen hatte, damit sie ihr konsumiren und vergeuden halfen, freigeben - das heißt dem Arbeitsmarkt. Dieser wird, wenn alle gesellschaftlichen Kräfte ihm zugeführt werden, so überfüllt sein, daß man schier gezwungen sein wird, die Arbeit zu verbieten; es wird fast unmöglich sein, für diesen Schwarm bisher unproduktiver Menschen Verwendung zu finden, denn sie sind zahlreicher als die Heuschrecken. Dann wird man an die denken, die für den kostspieligen und nichtsnutzigen Bedarf dieser Leute aufzukommen hatten. Wenn keine Lakeien und Generäle mehr galonnirt, keine verheiratheten und unverheiratheten Prostituirten mehr in Spitzen eingehüllt, keine Paläste mehr eingerichtet und keine Kanonen mehr gegossen zu werden brauchen, dann wird man mittelst drakonischer Gesetze die Posamentier-, Spitzen-, Eisen- u. s. w. u. s. w. Arbeiter und Arbeiterinnen im Interesse der Hygiene und der Veredelung der Rasse zu Ruder- und Tanzübungen anhalten, damit sie ihre untergrabene Gesundheit wiederherstellen. Von dem Augenblick an, wo die europäischen Produkte nicht mehr in alle Welt hinaus verschickt werden, werden auch die Seeleute, die Lastträger und Fuhrleute anfangen, den Daumen drehen zu lernen. Dann werden die glücklichen Südseeinsulaner sich der freien Liebe hingeben können, ohne die Fußtritte der zivilisirten Venus und die Predigten der europäischen Moral fürchten zu brauchen.

[25] Noch mehr. Um für alle unproduktiven Kräfte der heutigen Gesellschaft Arbeit zu finden, und die immer weitere Vervollkommnung der Arbeitsmittel zu fördern, wird die Arbeiterklasse ihrem Hang zur Enthaltsamkeit, gleich der Bourgeoisie, Gewalt anthun und ihre Fähigkeit, zu konsumiren, möglichst zu steigern suchen müssen. Anstatt täglich 20 oder 30 Gramm zähes Fleisch zu essen, wenn sie überhaupt welches ißt, wird sie saftige Beefsteaks von ein oder zwei Pfund essen; statt bescheiden einen Wein zu trinken, der katholischer (d. h. getaufter) ist als der Papst, wird sie aus vollen Gläsern Bordeaux und Burgunder trinken, der keiner industriellen Taufe unterzogen ist, und das Wasser dem Vieh überlassen. –

Die Proletarier haben sich in den Kopf gesetzt, die Kapitalisten zu zehn Stunden Gruben- oder Fabrikarbeit anhalten zu wollen – das ist der große Fehler, die Ursache der sozialen Gegensätze und der Bürgerkriege. Nicht auferlegen, verbieten muß man die Arbeit. Den Rothschilds, den Krupps wird erlaubt werden, den Beweis zu liefern, daß sie ihr ganzes Leben lang Nichtsthuer gewesen sind; und wenn sie versprechen, trotz des allgemeinen Zuges zur Arbeit, als vollkommene Nichtsthuer zu leben, so wird man sie unter Kontrole stellen und ihnen jeden Morgen ein 20-Markstück für ihre kleinen Vergnügungen auszahlen. Die gesellschaftliche Zwietracht verschwindet. Einmal überzeugt, daß man ihnen durchaus nichts Uebles anthun, sondern sie nur von der Plage, Ueberkonsumenten und Verschleuderer sein zu müssen, befreien will, werden die Kapitalisten und Rentiers die ersten sein, die sich zur Partei des Volkes schlagen. Diejenigen Bourgeois, die unfähig sind, ihre Qualifikation als vollendete Nichtsnutze nachzuweisen, wird man ihren Instinkten nachgehen lassen: es existiren genügend Berufe, um sie unterzubringen. Puttkamer z. B. wird die öffentlichen Latrinen reinigen, die Mitglieder des Reichsgerichtes werden in den öffentlichen Schlachthäusern das Vieh anmerken, das zum Schlachten reif ist, die Mitglieder der verschiedenen ersten Kammern werden bei den Beerdigungsanstalten als Todtengräber angestellt. Für Andere wird man Berufe finden, die ihrer Intelligenz entsprechen. Herr von Minnigerode und Herr von Kardorff z. B. würden zum Umfüllen und Verkorken von Branntwein angestellt werden, doch wird man ihnen einen Maulkorb vorbinden, damit sie sich nicht das Delirium tremens ansaufen.

Aber bittere Vergeltung wird man an den Moralisten nehmen, welche die menschliche Natur verdreht haben, an den Heuchlern und Scheinheiligen, die öffentlich Wasser predigen und heimlich Wein trinken. An den großen Volksfesten der Kommunisten, wo die Becher kreisen und duftende Kuchen und Braten zum Genuß einladen, werden die Mitglieder der Kultusbehörden, die in Frack und Talar einherwandelnden Pfaffen der ökonomischen, katholischen, protestantischen, jüdischen und freidenkerischen Kirche, die Propagandisten des Malthusianismus, der christlichen oder philosophischen Moral, in gelbem Kostüm, die Kerzen halten, bis sie sich die Finger verbrennen; bei brechenden Tafeln, die von übermüthigen Frauen bedient werden, werden sie hungern, bei gefüllten Fässern dürsten. Viermal im Jahre, immer beim Wechsel der Jahreszeiten, wird man sie in Tretmühlen 10 Stunden lang Wind mahlen lassen. Die gleiche Strafe wird über die Advokaten und Rechtsgelehrten verhängt.

[26] Um die Zeit todtzuschlagen, die uns Sekunde für Sekunde tödtet, wird man Schauspiele aller Art veranstalten – gefundene Arbeit für unsere Herren Gesetzgeber. Man wird sie in Truppen organisiren, die auf die Dörfer und Flecken ziehen und Gesetzgebungsvorstellungen aufführen.

Generäle in Reitstiefeln, die Brust mit Tressen verschnürt und mit Orden aller möglichen Raubthiere bedeckt, werden durch die Straßen laufen und die lieben Leute zum Schauen einladen. Bismarck und Stöcker werden vor der Bude ihre Späßchen aufführen. Bismarck wird, als Eisenfresser kostümirt, die Augen rollen, den Schnurrbart drehen, brennendes Werg ausspeien und Jedermann mit Degen, Revolver, Bierseidel u. s. w. bedrohen, aber, sobald man ihm das Bild des Herrn von Münchhausen zeigt, sich in ein großes Loch stürzen. Stöcker wird als Apostel der Bruderliebe von Arbeiterwohl und Ausbeuterhaß, von christlicher Milde und christlichem Sozialismus, von deutscher Art und Sitte reden, dann aber wird er plötzlich den Talar fallen lassen und im schwarz-weißen Kostüm dastehen, in der einen Hand eine Knute, in der andern den Klingelbeutel; um seinen Hals wird ein Plakat hängen: Agent für Landbarone, Schlotjunker und Konsorten!

In der Bude aber wird man zuerst die Wahlposse aufführen.

Vor Wählern mit Holzschädeln und Eselsohren werden Bourgeoiskandidaten im Bajazzokostüm den politischen Freiheitstanz aufführen, indem sie sich Vorder- und Rückseite mit ihren Wahlprogrammen voller Versprechungen behängen, mit Thränen in den Augen von den Leiden des Volks und mit erzener Stimme vom Ruhm des Vaterlandes reden. Worauf die Köpfe der Wähler im Chor ein kräftiges I – a! I – a! brüllen.

Dann beginnt das große Schauspiel: Der Diebstahl der Güter der Nation:

Das kapitalistische Deutschland, ein ungeheuerliches Weib mit rauhem Gesicht und kahlem Schädel, fahler Haut und fettem, aufgedunsenem Körper, liegt gähnend und mit glanzlosen Augen auf einem Sopha hingestreckt. Zu ihren Füßen verschlingt der industrielle Kapitalismus, ein Riesenorganismus von Eisen mit einer Affenmaske, mechanisch Männer, Frauen und Kinder, deren herzzerreißende Klagerufe die Luft durchdringen. Die Bank, mit Marderschnauze, Hyänenkörper und Habichtkrallen, stiehlt ihm ein Geldstück nach dem andern aus der Tasche. Ganze Armeen elender, abgemagerter und in Lumpen gehüllter Proletarier, von Gensdarmen mit blanker Klinge eskortirt, von Furien, welche sie mit der Hungerpeitsche geißeln, getrieben, bringen Haufen von Waaren aller Art, Fässer Wein und Bier und ganze Säcke voll Gold oder Korn, und legen sie dem kapitalistischen Deutschland zu Füßen. Herr Adolph Wagner, in der einen Hand die Schriften von Rodbertus, in der anderen die Dankadresse der Antisemiten, und im Munde – die kaiserliche Botschaft, stellt sich an die Spitze der Vertheidiger der Güter der Nation und zieht auf Posten. Sobald die Lasten niedergelegt sind, verjagen sie die Arbeiter mit Bajonett- und Kolbenstößen, und öffnen den Händlern, den Industriellen und Bankiers die Pforten. Im wüsten Durcheinander stürzen sich diese auf die Werthobjekte, heimsen die Fabrikwaaren, die Goldbarren, die Säcke Getreide ein und leeren die Fässer. Endlich [27] können sie nicht mehr und wälzen sich, gleich dem Vieh, in ihrem eigenen Schmutz. … Da bricht das Unwetter herein, die Erde wankt in ihren Fuqen – die historische Nothwendigkeit tritt auf. Mit ehernem Fuß zermalmt sie die Köpfe der sich ihr in den Weg Stellenden und mit gewaltiger Hand wirft sie das zitternde und Angstschweiß-überdeckte kapitalistische Deutschland über den Haufen.

Wenn die Arbeiterklasse sich das Laster, welches sie beherrscht und ihre Natur herabwürdigt, gründlich aus dem Kopf schlagen und sich in ihrer furchtbaren Kraft erheben wird, nicht um die famosen „Menschenrechte“ zu verlangen, die nur die Rechte der kapitalistischen Ausbeutung sind, nicht um das „Recht auf Arbeit“ zu proklamiren, das nur das Recht auf Elend ist, sondern um ein ehernes Gesetz zu schmieden, das Jedermann verbietet, mehr als drei Stunden pro Tag zu arbeiten, so wird die alte Erde, zitternd vor Wonne, in ihrem Innern eine neue Welt sich regen fühlen. … aber wie soll man von einem durch die kapitalistische Moral korrumpirten Proletariat einen männlichen Entschluß verlangen! – – –

Wie Christus, die leidende Verkörperung der Sklaverei des Alterthums, erklimmt unser Proletariat, Männer, Frauen und Kinder, seit einem Jahrhundert den rauhen Kalvarienberg der Leiden; seit einem Jahrhundert bricht Zwangsarbeit ihre Knochen, martert ihr Fleisch, zerrüttet ihre Nerven; seit einem Jahrhundert quält Hunger ihren Magen und verdummt ihr Gehirn. … O Faulheit, erbarme Du Dich des unendlichen Elends! O Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden, sei Du der Balsam für die Schmerzen der Menschheit!

Ende.

[28]
Anhang.




Eine Auseinandersetzung mit den Moralisten.

Unsere Moralisten sind sehr bescheidene Leute. Wenn sie auch das Dogma von der Arbeit erfunden haben, so sind sie doch über den Einfluß derselben auf die Beruhigung der Seele, die Erhebung des Geistes und die gesunde Funktion der Nieren und der übrigen Organe nicht ganz im Klaren; sie wollen die Sache erst einmal bei der Volksmasse probiren, das Experiment erst „in anima vili“ (an einem niedrigen Wesen) machen, ehe sie es gegen die Kapitalisten kehren, deren Laster zu erklären und gutzuheißen ihre Mission ist.

Aber Philosophen zu 20 Pfennigen das Dutzend, warum denn Euer Hirn so quälen, eine Moral auszudüfteln, deren Praktizirung Ihr Euren Brotgebern nicht anzurathen wagt? Wollt Ihr Euer Dogma von der Arbeit, auf welches Ihr Euch so viel zu Gute thut, verhöhnt, verdammt sehen? So schlagt die Geschichte der Alten, die Schriften ihrer Philosophen und ihrer Gesetzgeber nach:

„Ich vermag nicht zu sagen,“ schreibt der Vater der Geschichte, Herodot, „ob die Griechen die Verachtung, mit der sie auf die Arbeit blicken, von den Egyptern haben, weil ich dieselbe Verachtung bei den Thrakiern, bei den Skythen, bei den Persern und den Lydern verbreitet finde; mit einem Worte, weil bei den meisten Barbaren (Nichtgriechen) Diejenigen, welche die Handwerke erlernen, und selbst deren Kinder, als die letzten Bürger betrachtet werden …; alle Griechen werden in diesen Grundsätzen erzogen, besonders die Lakedämonier.“

„In Athen waren nur die Bürger wirkliche Edle, welche sich mit der Vertheidigung und Verwaltung der Gemeinschaft beschäftigten, gleich den wilden Kriegern, von denen sie ihre Abstammung herleiteten. Da sie somit über ihre ganze Zeit frei verfügen mußten, um ihre intellektuelle und körperliche Kraft der Sorge für die Interessen der Republik zu widmen, so übertrugen sie alle Arbeiten den Sklaven. Ebenso durften in Lakedämon selbst die Frauen weder spinnen noch weben, um ihrem Adel keinen Abbruch zu thun.“ (Biot, De l’abolition de l’esclavage ancien en Occident. 1840.)

Die Römer kannten nur zwei edle und freie Berufe: Landbau und Waffendienst; alle Bürger lebten von Rechts wegen auf Kosten des Staatsschatzes, ohne daß sie gezwungen werden konnten, für ihren Unterhalt durch eine der „sordidae artes“ („schmutzigen Künste", so nannte sie die Handwerke) aufzukommen, die von Rechtswegen den Sklaven zukamen. Als Brutus der Aeltere das Volk aufwiegeln wollte, warf er Tarquinius, dem Tyrannen, namentlich vor, daß er freie Bürger zu Handwerkern und Maurern gemacht habe. (Titus Livius, 1. Buch.)

[29] Die alten Philosophen stritten sich über den Ursprung der Ideen, aber sie waren einig, wenn es galt, die Arbeit zu perhorresziren. „Die Natur,“ schreibt Plato in seiner Gesellschafts-Utopie, in seiner „Musterrepublik“, „die Natur hat weder Schuhmacher noch Schmiede geschaffen; solche Beschäftigungen entwürdigen die Leute, die sie ausüben: niedrige Lohnarbeiter, Elende ohne Namen, die durch ihren Stand bereits von den politischen Rechten ausgeschlossen sind. Was die Händler betrifft, die an Lügen und Betrügen gewohnt sind, so wird man sie in der Gemeinde nur als ein notwendiges Uebel betrachten. Der Bürger, der sich durch Handelsgeschäfte erniedrigt, soll für dieses Vergehen bestraft werden. Wird er überführt, so soll er zu einem Jahre Gefängniß verurtheilt werden. Bei jedem Rückfall ist die Strafe zu verdoppeln.“ (Plato, Die Republik, Buch 5.)

In seiner Oekonomik schreibt Xenophon: „Die Leute, die sich mit Handarbeit abgeben, werden nie zu höheren Posten erhoben, und man hat Recht. Gezwungen, den ganzen Tag zu sitzen, einige sogar ein beständiges Feuer auszuhalten, werden die meisten von ihnen es nicht verhindern können, daß ihr Körper sich verunstaltet, und es ist kaum möglich, daß das nicht auch auf den Geist zurückwirkt.“

„Was kann aus einem Laden Ehrenhaftes kommen?“ erklärt Cicero, „und was kann der Handel Ehrenvolles hervorbringen? Alles, was Laden heißt, ist eines ehrenhaften Mannes unwürdig. … da die Kaufleute, ohne zu lügen, nichts verdienen können; und was ist schändlicher als die Lüge? Deshalb muß das Gewerbe Derer, die ihre Mühe und Geschicklichkeit verkaufen, als niedrig und gemein betrachtet werden, denn wer seine Arbeit für Geld hergibt, verkauft sich selbst und stellt sich auf eine Stufe mit den Sklaven.“ (Cicero, Von den Pflichten I , Tit 8, Kap. 18.) –

Proletarier, die man durch das Dogma von der Arbeit verdummt hat, hört Ihr die Sprache dieser Philosophen, die man Euch mit eifersüchtiger Sorge verbirgt? Ein Bürger, der seine Arbeit für Geld hergibt, erniedrigt sich zum Rang eines Sklaven; er begeht ein Verbrechen, das jahrelanges Gefängniß verdient!!

Die christliche Heuchelei und der kapitalistische Militarismus (Nützlichkeitslehre) hatten diese Philosophen des Alterthums noch nicht verdorben; da sie für freie Männer lehrten, so sprachen sie unbefangen ihre Gedanken aus. Plato und Aristoteles, diese Riesendenker, denen unsere Modephilosophen, und wenn sie sich auf die Fußspitzen stellen, noch nicht bis an die Knöchel reichen, wollten, daß die Bürger ihrer Idealrepubliken der größten Muße genössen, denn, setzte Xenophon hinzu, „die Arbeit nimmt die ganze Zeit in Anspruch und bei ihr hat man keine Zeit für die Republik und seine Freunde.“ Nach Plutarch hatte Lykurg, „der weiseste aller Menschen“, deshalb den großen Anspruch auf die Bewunderung der Nachwelt, weil er den Bürgern der Republik Muße zusprach, indem er ihnen die Ausübung irgend eines Handwerks untersagte.[14]

Aber, werden die Treitschke, die Windthorst, die Wagner der christlichen und der kapitalistischen Moral antworten, diese Denker, [30] diese Philosophen predigten die Sklaverei! Ganz richtig, aber konnte es unter den wirthschaftlichen und politischen Verhältnissen ihrer Epoche anders sein? Der Krieg war der normale Zustand der antiken Gesellschaften; der freie Mann mußte seine Zeit der Berathung der Gesetze und der Sorge für die Vertheidigung des Staates widmen; das Handwerk war damals zu unentwickelt und zu hart, als daß man neben seiner Ausübung seinem Beruf als Bürger und Soldat hätte nachgehen können; um Krieger und freie Bürger zu haben, mußten die Philosophen und Gesetzgeber in ihren heroischen Republiken Sklaven dulden.

Aber predigen nicht die Moralisten und Oekonomen des Kapitalismus die moderne Sklaverei, das Lohnsystem? Und was sind es für Leute, denen der kapitalistische Sklave Muße verschafft? Die Rothschild, die Bleichröder, die Stumm – unnütze und schädliche Schmarotzer, Sklaven ihrer Laster und Bedienten. „Das Vorurtheil der Sklaverei beherrschte den Geist von Aristoteles und Pythagoras,“ hat man verächtlich geschrieben, und doch träumte Aristoteles: „Wenn jedes Werkzeug auf Geheiß oder auch vorausahnend, das ihm zukommende Werk verrichten könnte, wie des Dädalus Kunstwerke sich von selbst bewegten, oder die Dreifüße des Hephästus aus eigenem Antrieb an die heilige Arbeit gingen, wenn so die Webeschiffe von selbst webten, so bedürfte es weder für den Werkmeister der Gehilfen, noch für die Herren der Sklaven.“[15] Der Traum des Aristoteles ist heute Wirklichkeit geworden. Unsere Maschinen verrichten, feurigen Athems, mit stählernen, unermüdlichen Gliedern, mit wunderbarer, unerschöpflicher Zeugungskraft, gelehrig und von selbst ihre heilige Arbelt, und doch bleibt der Geist der großen Philosophen des Kapitalismus nach wie vor beherrscht vom Vorurtheil des Lohnsystems, der schlimmsten aller Sklavereien. Sie begreifen noch nicht, daß die Maschine der Erlöser der Menschheit ist, der Gott, der den Menschen von den „sordidae artes“ und der Lohnarbeit loskaufen, der Gott, der ihnen Muße und Freiheit bringen wird.


  1. Memoirs of anthropological Society.
  2. Die Abstammung des Menschen.
  3. Oft sind die europäischen Forscher ganz betroffen von der körperlichen Schönheit und der stolzen Haltung der Angehörigen primitiver Völkerschaften, welche noch nicht von dem „vergifteten Hauch der Zivilisation“, um mit dem Dichter zu reden, befleckt sind. Von den Ureinwohnern der australischen Inseln schreibt Lord George Campbell: „Kein Volk der Welt frappirt mehr im ersten Augenblick. Ihre ebene und kupferfarben schimmernde Haut, ihr gelocktes vergoldetes Haar, ihre schöne und anmuthige Figur, mit einem Wort ihre ganze Persönlichkeit stellte ein neues und glänzendes Muster der Gattung Mensch dar; ihre physische Erscheinung machte den Eindruck einer der unserigen überlegenen Rasse.“ Mit derselben Bewunderung betrachteten die Zivilisirten des alten Rom, ein Cäsar und Tacitus, die Germanen der kommunistischen Stämme, die in das römische Reich eindrangen. Gleich Tacitus stellte Salvian, der „Lehrer der Bischöfe“, im 5. Jahrhundert den Zivilisirten und Christen die Barbaren als Muster hin: „Wir sind unzüchtig inmitten von Barbaren, die keuscher sind als wir. Mehr noch; die Barbaren nehmen an unserer Unzucht Anstoß. Die Gothen dulden keinen Wüstling ihres Stammes unter sich; nur die Römer in ihrer Mitte haben Dank dem traurigen Privilegium ihres Namens und ihrer Nationalität das Recht, unrein zu sein. (Die Päderastie war damals bei den Christen stark in Mode.) – – – – Die Unterdrückten gehen zu den Barbaren, Menschlichkeit und Schutz zu suchen.“ (de gubernatione Dei.) Die alte Zivilisation und das aufstrebende Christenthum korrumpirten die Barbaren der alten Welt geradeso, wie das altersschwache Christenthum und die moderne kapitalistische Zivilisation die Wilden der neuen Welt korrumpiren. Der auch in Deutschland bekannte katholische Schriftsteller, Herr F. Le Play, dessen Beobachtungstalent man anerkennen muß, selbst wenn man seine mit philanthropischer und christlicher Spießbürgerei versetzten soziologischen Schlüsse verwirft, sagt in seinem Buch: „Die europäischen Arbeiter“ (1855): „Der Hang der Baschkiren zur Faulheit (die Baschkiren sind halbnomadische Hirten im Ural), die mit dem Nomadenleben verbundene Muße, sowie die Gewohnheit des Nachdenkens, welche erstere bei den besser begabten Individuen hervorrufen, haben bei diesen Leuten oft eine Feinheit der Manieren, eine Schärfung von Intelligenz und Urtheil zur Folge, wie man sie in einer höheren Zivilisation auf dem gleichen sozialen Niveau selten findet. ...Was ihnen am meisten zuwider ist, sind die Ackerarbeiten; sie thun eher alles Andere, als daß sie sich zum Beruf des Ackerbauers entschließen.“ In der That ist der Ackerbau die erste Erscheinungsform knechtischer Arbeit in der Menschheit.
  4. Auf dem ersten europäischen Wohlthätigkeitskongreß (Brüssel 1857) erzählte ein Herr Scrive, einer der reichsten Manufakturisten von Marquette bei Lille, unter dem Beifall der Kongreßmitglieder und mit der Genugthuung erfüllter Pflicht: „Wir haben einige Zerstreuungsmittel für die Kinder eingeführt. Wir lehren sie während der Arbeit singen, während der Arbeit zählen. Das unterhält sie und läßt sie muthig die zwölf Stunden Arbeit antreten, welche nöthig sind, um ihnen ihren Lebensunterhalt zu verschaffen.“ 12 Stunden Arbeit, und welcher Arbeit! Kindern aufgebürdet, die noch nicht 12 Jahre alt sind! – Die Materialisten werden ewig bedauern, daß es keine Hölle gibt, in welche man diese Christen, diese Philanthropen, diese Henker der Kindheit, spediren kann!
  5. Rede, gehalten im Mai 1863 in der Pariser internationalen Gesellschaft für praktische sozialökonomische Studien, und veröffentlicht im „Economist Français“ desselben Jahres.
  6. L. R. Villermé: „Ein Bild von dem physischen und moralischen Zustand der Arbeiter in den Seiden-, Wollen- und Baumwollfabriken.“ (1840.) Nicht etwa weil die Dollfus, die Köchlin und andere elsässische Fabrikanten Republikaner, Patrioten und protestantische Philanthropen waren, behandelten sie ihre Arbeiter so; denn die Herren Blanqui, der Akademiker, Reybaud und Jules Simon haben ein gleiches Wohlleben bei den Arbeitern der sehr katholischen und sehr monarchischen Fabrikanten in Lille und Lyon konstatirt. Das sind kapitalistische Tugenden, die in entzückender Weise mit jeder politischen Richtung, mit jeder Religion harmoniren.
  7. Auf dem am 21. Februar 1878 in Berlin stattgehabten Kongreß deutscher Industrieller schätzte man den Verlust, den allein die Eisenindustrie Deutschlands während der letzten Krisis erlitten, auf 455 Mill. Mark.
  8. Die „Justice“ des Herrn Clemenceau sagte im finanziellen Theil ihrer Nummer vom 5. April des vorigen Jahres: „Wir haben die Meinung aussprechen hören, daß die Milliarden des Krieges von 1870, auch wenn die Preußen sie uns nicht abgenommen hätten, für Frankreich gleichwohl verloren gegangen wären; und zwar in der Form der von Zeit zu Zeit aufgelegten Anleihen zum Ausgleich der Budgets fremder Staaten; das ist auch unsere Ansicht.“ Man schätzt den Verlust, den englisches Kapital bei den südamerikanischen Republiken erlitten, auf fünf Milliarden – die französischen Arbeiter haben nicht nur die an Herrn Bismarck gezahlten fünf Millarden erarbeitet, sie müssen auch die fetten Zinsen aufbringen, welche die Verschulder des Kriegs und der Niederlagen, die Ollivier, die Girardin, die Bazaine und andere Besitzer von Rententiteln (Staatsschuldscheinen), einstreichen. Indeß bleibt ihnen ein Trost: diese fünf Milliarden werden keinen Wiedereintreibungskrieg zur Folge haben.
  9. Im Mittelalter garantirten die Gesetze der Kirche den Arbeitern 90 Ruhetage (52 Sonntage und 38 Feiertage), während deren es streng untersagt war, zu arbeiten. Das war das große Verbrechen des Katholizismus, die Hauptursache der Irreligiosität des industriellen und handeltreibenden Bürgerthums. Sobald dasselbe in der französischen Revolution ans Ruder kam, setzte es die Feiertage ab und ersetzte die Woche von sieben Tagen durch die zehntägige Woche, auf daß das Volk nur einen Ruhetag auf zehn habe. Es befreite die Arbeiter vom Kirchenjoch, um sie um so strenger unter das Joch der Arbeit zu spannen. Der Haß gegen die Feiertage macht sich erst in dem Moment bemerkbar, wo die moderne industrielle und kommerzielle Bourgeoisie auf die Bühne tritt, d. h. im 15. und 16. Jahrhundert. Heinrich IV. verlangte ihre Reduktion vom Papste; dieser schlug ihm dieselbe ab, weil „eine der Ketzereien, die heute zu Tage treten, die Feiertage betrifft“. (Brief des Kardinals d’Ossat.) Aber 1666 verbot Perefixus, Erzbischof von Paris, 17 derselben. Der Protestantismus, diese den neuen Handels- und Industriebedürfnissen der Bourgeoisie angepaßte Form der Kirche, kümmert sich wenig um die Erholung des Volkes; er entthronte die Heiligen im Himmel, um ihre Feste auf Erden abschaffen zu können.
  10. Diese pantagruelischen (gigantenhaften) Feste dauerten ganze Wochen. Don Rodrigo da Lara erwarb seine Braut durch Vertreibung der Mauren aus Calatrava, und der Romancero erzählt, daß


    Las bodas fueron en Burgos
    Las tornabodas en Salas:
    En bodas y tornabodas
    Pasaron siete semanas.
    Tantas vienen de las gentes ...
    Que no caben por las plazes ...

    (Die Hochzeit ward in Burgos, die Heimkehr von der Hochzeit in Salas gefeiert; mit Hochzeits- und Heimkehrfeier vergingen sieben Wochen; so viel Leute strömten herbei, daß die Räume sie nicht fassen konnten …) Die Menschen dieser Hochzeitsfeste von sieben Wochen waren die heroischen Soldaten der Unabhängigkeitskriege.

  11. Marx, das Kapital. 2. Aufl., S . 467-68.
  12. So müssen z. B. die Wilden Australiens, unbekümmert darum, daß es die Ursache ihres Aussterbens ist, sich englisch kleiden und auf englisch besaufen, lediglich deshalb, weil die schottischen Brenner und die Industriellen Manchesters Konsumenten brauchen.
  13. Louis Reybaud, Die Baumwolle, ihr Reich und ihre Fragen. 1863.
  14. Plato: Die Republik V, Die Gesetze VIII; Aristoteles: Politik II und VII; Xenophon: Oekonomik IV und VI; Plutarch: Das Leben Lykurgs.
  15. „Die Heiden, ja die Heiden!“ Sie begriffen, wie der gescheidte Bastiat entdeckt hat und vor ihm schon der noch klügere MacCulloch, nichts von politischer Oekonomie und Christenthum. Sie begriffen u. A. nicht, daß die Maschine das probateste Mittel zur Verlängerung des Arbeitstages ist. Sie entschuldigten etwa die Sklaverei des Einen als Mittel zur vollen menschlichen Entwicklung des Andern. Aber Sklaverei der Massen predigen, um einige rohe oder halbgebildete Emporkömmlinge zu „eminent spinners“, „extensive sausage makers“ und „influential shoe blak dealers“ („Hervorragenden Spinnern“, „Wurstgroßfabrikanten“, „einflußreichen Schuhwichshändlern“) zu machen, dazu fehlte ihnen das spezifisch-christliche Organ.“ (Marx, Das Kapital. 2. Auflage. S. 428.)

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Original: zu zu machen