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Seite:De Briefe die ihn nicht erreichten Heyking Elisabeth von.djvu/104

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Jetzt stehen die braunen Stengel, an denen oben die spärlichen weißen Blütentrauben hängen, in einer schlanken, grünen Bronzevase neben mir. Die Blumen haben sich etwas erholt, als seien sie dankbar, nun doch noch ein leidliches Plätzchen gefunden zu haben. Ein schwacher, schüchterner Fliederduft, der beinah etwas Künstliches hat, steigt von ihnen auf und zieht durch das Zimmer.

Er weckt viel Erinnerungen. Denn Flieder mahnt mich an gar verschiedene Zeiten und Orte.

In Garzin, dem märkischen Gut, wo ich aufgewachsen, da blühte der Flieder im Mai. Vier große Büsche standen auf dem Rasen vor dem Schloß, in ihrer Mitte eine alte Sonnenuhr. Jeden Frühling, wenn der Flieder blühte, kam derselbe alte Invalide auf einem Stelzfuß angehumpelt; er stellte sich im Schloßhof auf und spielte uns auf seiner Drehorgel »Die letzte Rose« und »Lang, lang ist’s her«. Ich weiß nicht, wo er Winters blieb, aber in all meinen frühesten Frühlingserinnerungen steht der Invalide mit der Drehorgel, und der Flieder duftet, und wir Kinder suchen fünfblättrige Fliederblüten – denn die sollten Glück bringen wie vierblättriger Klee. Einmal schenkte ich dem alten Drehorgelmann solch ein fünfblättriges Blümchen – aber der glaubte nicht recht daran.

An so viele Zeiten und Orte mahnt der Duft!

Empfohlene Zitierweise:
Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten. Verlag von Gebrüder Paetel, Berlin 1903, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Briefe_die_ihn_nicht_erreichten_Heyking_Elisabeth_von.djvu/104&oldid=- (Version vom 31.7.2018)