scheuen uns davor, die dunkelsten, verborgensten Tiefen des eigenen Herzens zu durchleuchten, wir gehen rasch an diesen Schlupfwinkeln alter und neuer Leiden vorbei, wie Kinder schnell durch ein finsteres Zimmer laufen. Das Leben hat uns Angst vor dem Unbekannten gelehrt, wir wissen, daß es meist neues Weh bedeutet, drum rühren wir nicht daran, schreiten vorsichtig und reden leise. Mutlos war ich geworden. Wollte nicht sehen, daß wir nach allem Erlebten, doch immer noch Träger vieler Möglichkeiten sind, die verborgen in uns ruhen, harrend nur einer gewaltigen Kraft, die sie unter Schmerzen ins Leben rufe.
Ich wähnte, mein Tag ginge schon zur Neige, und es ward noch einmal Licht. Ist es eine gütige, wärmende Sonne, die den Abend reicher und goldener bescheinen wird als es der ganze müde Tag je gewesen? Ist es ein grell sengender Blitz, der aus dunklem Gewölk niederfährt und das verwüstete Land noch einmal fahl bescheint? Ich weiß es nicht. Weiß nicht, welch Himmelszeichen über uns steht. Kann nicht der Zukunft Schleier durchdringen. Aber die gewaltige Kraft, die Verborgenes, Schlummerndes ins Leben ruft, sie ist gekommen in Sorgen und Bangen; sie drückt mir die Feder in die Hand zu Worten, die ewig ungeschrieben geblieben wären, ohne diese Angst um Sie!
Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten. Verlag von Gebrüder Paetel, Berlin 1903, Seite 233. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Briefe_die_ihn_nicht_erreichten_Heyking_Elisabeth_von.djvu/234&oldid=- (Version vom 31.7.2018)