Lieber Freund, heute Nachmittag wollte ich die Frau unseres Konsuls besuchen. Ich fuhr mit der Hochbahn zu ihr, denn sie wohnt weit draußen, in einer der Straßen mit den ganz hohen Nummern, die mich immer an neuformierte, an den Grenzen aufgestellte Regimenter erinnern. Die Häuser sehen alle ganz gleich aus, man könnte jedes mit jedem verwechseln, und darin liegt wohl gerade das Militärische; sagte mir doch mal mit Begeisterung ein junger Verwandter, der seit ein paar Wochen Leutnant war: »Vollkommene Gleichmäßigkeit ist das Ziel, Verwischung der Individualitäten die erste Aufgabe.«
Da ich die Frau Konsul nicht zu Hause traf, ging ich von dort aus noch etwas auf eigene Faust explorieren, was mir immer viel interessanter ist, als wenn ich von patriotischen New Yorkern herumgeführt werde, die erwarten, daß ich mich für irgendein turmartiges Haus begeistere, in dem eine Zeitung gedruckt, Korn verkauft, oder Geld gewechselt wird.
Ich ging noch durch einige allerletzte Straßen. Weiter hinaus sieht es sehr bald aus, als sei man im fernen Westen. Weite leere Grundstücke erstrecken sich dort mit den seltsamsten kleinen
Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten. Verlag von Gebrüder Paetel, Berlin 1903, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Briefe_die_ihn_nicht_erreichten_Heyking_Elisabeth_von.djvu/99&oldid=- (Version vom 31.7.2018)