eine Frau wie Sie im Hofleben kein Genüge findet und das geistige Leben von Paris gerade dort kennen lernen will, wo es am stärksten pulsiert. Fräulein von Lespinasse wird sich freuen, Sie zu empfangen. Sie finden in ihr zwar eine schwer Kranke, aber um so bewundernswürdiger wird Ihnen ihre geistige Kraft, ihre immer gleiche Güte erscheinen. Wenn Sie den morgigen Tag zu ihrem Besuch wählen wollten, so würden Sie unter anderem auch den Erzbischof von Toulouse, Loménie de Brienne, bei ihr treffen, dessen Persönlichkeit insofern von größerem Interesse ist, als man ihn in eingeweihten Kreisen als den Nachfolger Turgots bezeichnet.
Leider hatte ich heute in der Akademie keine Gelegenheit, Ihre Eindrücke, teuerste Marquise, über die Aufnahme des Herrn von Boisgelin unter die Unsterblichen zu erfahren. Ist die ganze Feierlichkeit nicht mehr und mehr eine Farce?! Der Enzyklopädist d’Alembert, der einen konservativen Priester preisen mußte, und der konservative Priester, der der Nachfolger eines Voisenon, des typischen Abbé libertin, geworden ist! Die französische Akademie wird mehr und mehr aus einer Gesellschaft von Gelehrten zu einem Konzil der Ekklesiastiker und der Prinzen.
Werden Sie mir die Gunst gewähren, Sie morgen nach dem Besuch bei Fräulein von Lespinasse in die Comédie française zu geleiten? Ich nehme
Lily Braun: Die Liebesbriefe der Marquise. München 1912, Seite 174. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Die_Liebesbriefe_der_Marquise_(Braun).djvu/180&oldid=- (Version vom 31.7.2018)