„Eine Sängerin,“ sagte meine Begleiterin mit begeisterten Augen. „Und zwar muß es eine große Sängerin sein, denn ihre Stimme ist herrlich.“ „Sie singt,“ sagte ich, „sie singt so erschütternd und ergreifend. Es ist, als schluchzt sie die Töne, als wäre sie eine weinende Quelle in einem heiligen Hain, wo die Bäume dunkel und feierlich nicht rauschen dürfen, solange die Quellenstimme singt.“
Wir standen lange still. Dann verdunkelte sich oben das eine Fenster, und für einen Augenblick erschien der dunkle Umriß einer schöngebauten Frauengestalt hinter dem Vorhang, die in Haltung und Wuchs edel war wie ihr Lied. Es war eine hoheitsvolle mütterliche Erscheinung. Der Kopf schien in den bestirnten Nachthimmel zu schauen, und mir war, als trüge sie noch die Rhythmen des Liedes wie große Schwingen an ihrer aufgerichteten Gestalt. Das Aufpasserweib unten am Vorgarten stierte hoch und ging langsam, wie beunruhigt, einige Schritte von der Haustüre fort. Dann wurde nach einer Weile das Licht oben ausgelöscht. Das Haus lag wie ein toter Käfig bei den andern Häuserkäfigen. Und die Aufpasserin stand wieder an ihrem Platz wie eine Schildwache. Wir gingen dann weiter.
Max Dauthendey: Geschichten aus den vier Winden. Albert Langen, München 1915, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Geschichten_aus_den_vier_Winden_Dauthendey.djvu/193&oldid=- (Version vom 31.7.2018)