geweckte Junge, sprang mit seinem graublonden Lockenkopf mitten beim Essen vom Tisch auf und holte plötzlich den kleinen Kanarienvogel aus dem Bauer und setzte ihn auf das Tischtuch. Dort spazierte das hellgelbe Vögelchen zwischen dem weißen Porzellan und den Kristallgläsern und um das Silbergeräte und pickte und lugte mich mit einem Auge an.
Der kleine Kanarienvogel war erbärmlich anzusehen. Ein Beinchen war ihm gebrochen, das schleifte er nach sich. Aber der Bruch war schon geheilt und schmerzte ihn nicht mehr. Doch sein Köpfchen war ganz kahl. Er hatte alle Federn am Kopf verloren, und man sah, was man sonst nie sehen konnte, die großen Ohrlöcher des Vogels zu beiden Seiten des Köpfchens. Sie waren im nackten Schädel wie Löcher, durch die eine Kugel gegangen war.
Wieviel hat dieser Vogel gefühlt mit diesen Ohrlöchern? Wieviel Weh- und Wohllaute zogen durch den kleinen Schädel in das Herz ein?
Er hat Oda lachen und weinen gehört. Er hat Oda tanzen gehört und auch gehört, wie sie aufstampfte im Zorn. Er hat Oda besungen, wenn er andächtig wurde.
Max Dauthendey: Geschichten aus den vier Winden. Albert Langen, München 1915, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Geschichten_aus_den_vier_Winden_Dauthendey.djvu/206&oldid=- (Version vom 31.7.2018)