er ging und stand, schrieb er diesen Brief in Gedanken.
Aber er konnte sich nicht entschließen, die Feder in die Hand zu nehmen, die Tinte und das Briefpapier. Er wäre sich wie ein Verräter vorgekommen, Verräter an der Treue, die er seiner Frau halten wollte, und Verräter an seinem Herzen, das ehrlich bleiben wollte.
So schrieb er diesen Brief nur mit den Augen in die Luft. Er schrieb ihn abends stundenlang, wenn er seine Rechnungen abgeschlossen hatte, unter die Summen der Zahlen ins Hauptbuch, in das er brütend starrte. Er schrieb den Brief mit den Augen auf die Kistendeckel der Orangensendungen, wenn er das Kistenbrett in der Hand hielt und in Gedanken anstarrte, statt es in eine Ecke zu stellen. Er schrieb den Brief auf die rötlichen blanken Schalen der Blutorangen. Er schrieb den Brief an die leeren Kalkwände seines Verkaufsgewölbes, und er las ihn am Tag hundertmal, während er Früchte in die weißen Tüten hineinzählte, die er den jungen Mädchen und Frauen zureichen mußte. Auf allen Frauenhänden, die die Fruchttüten aus seiner Hand empfingen, las er jenen Brief, den seine Augen unaufhörlich schrieben.
Max Dauthendey: Geschichten aus den vier Winden. Albert Langen, München 1915, Seite 222. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Geschichten_aus_den_vier_Winden_Dauthendey.djvu/223&oldid=- (Version vom 31.7.2018)